
Gedanken über Tango (Unterricht) | 9. Teil
Boleos, Ganchos, Llevadas – braucht man das eigentlich?
Über den Spaß an der Bewegung…
Vor einiger Zeit gab es hier auf dem Blog eine spannende Diskussion mit einem Kollegen über Enrosques, über Eitelkeiten im Tango – oder einfach nur den puren Spaß an der Bewegung. Das hat mich angeregt, einmal grundsätzlich über „Figuren“ im Unterricht, im Tanz einer Milonga und auf der Bühne nachzudenken.
Nichts scheint für Tango-Lernende so verlockend zu sein wie genau das: Figuren. Das Spiel mit den Beinen, mit dem eigenen Körper und dem des Partners oder der Partnerin. Kaum jemand, der sich dabei nicht über die Komplexität und Kreativität mancher Tänzer:innen wundert – und sich insgeheim fragt: Woher kommen diese Ideen? Wie schaffen es manche, ihren ganz eigenen Stil mit scheinbar müheloser Eleganz zu prägen?
Und noch eine provokante Beobachtung: Warum entstehen die meisten dieser Figuren in Buenos Aires – und kaum in Europa oder anderswo? Rein subjektiv – aber doch aus 40 Jahren Tango-Erfahrung gesprochen – habe ich hier in Europa bislang keine einzige wirklich neu entwickelte Figur gesehen. Alles, was ich von einheimischen Tanzpaaren erlebe, scheint eher Reproduktion als Innovation zu sein.
Sehe ich das zu kritisch? Dann freue ich mich auf Widerspruch!
Ist das ewige „Nachtanzen“ der immer gleichen Figuren Ausdruck von Ideenlosigkeit? Oder fehlt es schlicht an der Fähigkeit (oder vielleicht auch am Mut?), neue Bewegungsmöglichkeiten im Paar zu erforschen und damit zu experimentieren?
Liegt es vielleicht daran, dass wir hier in Europa oft eher „Tango-Konsumenten“ sind? Denn auch die komplexesten Abläufe aus Buenos Aires bleiben, trotz aller Raffinesse, dem Grundprinzip der Tangobewegung treu: Sie sind reproduzierbar, tanzbar – wenn auch nur mit viel Übung und Feinarbeit.
Natürlich gibt es Show-Paare, die exklusive Figuren entwickeln, die nur sie selbst tanzen können und die keinem „Natural Movement Principle“ folgen. Aber die Figuren, die weltweit Bestand haben, entspringen eben genau diesem Prinzip.
Ich möchte hier ein paar Gedanken – durchaus selbstkritisch, provokant und hoffentlich konstruktiv – zur Diskussion stellen. Und ich bin gespannt auf eure Kommentare!
Was bezeichne ich als Tango-Figuren?
Im Tango ist häufig von Figuren die Rede, doch nur selten wird wirklich definiert, was damit genau gemeint ist. Es gibt bereits umfangreiche Lexika zu den bekannten Figuren und Bewegungen – von Sacadas über Boleos bis hin zu Ganchos. Deshalb möchte ich an dieser Stelle keinen vollständigen Tango-Glossar ausbreiten. Wer sich jedoch für die detaillierten Begriffe interessiert, findet auf meiner Tango-Schul-Website weitere Informationen:
👉 www.tango-sencillso.de/infos-ueber-den-tango
Viele dieser Begriffe sind übrigens bildhafte Beschreibungen, die sich aus dem Alltag und der Kultur Argentiniens ableiten. Ein Beispiel:
Der Boleo verweist auf die Bolas, das Fangseil der Gauchos, an dessen Enden kleine Leder- oder Holzkugeln befestigt waren. Diese wurden um die Beine von Tieren – wie Nandus oder Rindern – geschleudert, um sie zu Fall zu bringen.
Oder der Lápiz – wörtlich der „Bleistift“ – beschreibt anschaulich, wie man mit der Fußspitze Kreise auf den Boden „malt“.
Ich selbst unterscheide bei der Systematik von Bewegungen und Figuren wie folgt:
Tango-Bewegungen:
Das sind alle „nicht-gegangenen“ Bewegungen, also dekorative oder dynamische Elemente wie Ganchos, Boleos, Lápiz, Cepilladas usw.Tango-Schritte:
Hier geht es um konkrete Schrittpositionen, die sich in Bezug zum Partner aus drei Grundpositionen ergeben:Vorkreuz
Rückkreuz
Apertura (offener Seit- oder Diagonalschritt, also offen vom Partner aus betrachtet)
- Beispiel: Somit ist eine im vorherigen Artikel erklärte „Circulación“ eine Schritt-Sequenz
Daraus ergeben sich – je nachdem, ob die Bewegung auf der offenen oder geschlossenen Seite des Paares oder gegenläufig zur Partnerposition ausgeführt wird – bis zu 36 verschiedene Kombinationen. (Ja, ein wenig Mathematik steckt auch im Tango – siehe hierzu die Literatur: „Die Struktur des Tangos“ von Mauricio Castro.)
Schrittsequenzen:
Dies sind Kombinationen von mindestens zwei Schritten, wie zum Beispiel Richtungswechsel wie ‚ochos‘, die gemeinsam in beliebige Richtungen ausgeführt werden.Tango-Figuren:
Figuren entstehen schließlich aus der Kombination von Bewegungen und Schrittsequenzen, die in ihrer Zusammenstellung eine besondere tänzerische Einheit bilden. Wobei Figuren, im Gegensatz zu Sequenzen, oft als festgelegte Abfolgen Verbreitung finden. Oft sind sie raffiniert gestaltet, um auf der Bühne visuellen Akzent zu setzen. Dabei geht es in der Milonga hingegen nicht unbedingt darum, das Publikum zu beeindrucken – sondern einfach auch aus Spaß an der Bewegungsvielfalt.
Übrigens basiert mein Unterricht nicht auf festen Figuren, sondern auf einem systematischen Ansatz zur Ad-hoc-Improvisation – einem freien Spiel mit immer neuen Sequenzen und Kombinationen, aus dem Figuren ganz organisch entstehen können.
Tradition und Stil – Was ist Stil, und wie entwickelt man ihn?
Eigentlich gehört das bloße „Nachtanzen“ von Figuren anderer Tänzer:innen nicht zum guten Ton eines Milongueros.
Ein Milonguero der früheren Generation achtete auf die Authentizität seines persönlichen Stils. Er respektierte die Originalität anderer Tänzer:innen – und gerade auch deren besondere Figuren. Wer in der alten Tangowelt etwas auf sich hielt, entwickelte seine eigenen Bewegungsmuster. Möglichst so, dass sie nicht imitierbar waren und ganz allein zu ihm passten.
Zu diesem Thema kann ich nur Pablo Inzas YouTube-Kanal über die Tanzstile und deren „persönlichen“ Figuren früherer Milongueros „GRANDES MILONGUEROS“ empfehlen.
Doch das war eine Zeit, in der der Tango noch relativ rudimentär getanzt wurde. Seine Bewegungsvielfalt war noch nicht vollständig entschlüsselt, und in den Stadtvierteln von Buenos Aires hatte der Tango einen klar umrissenen kulturellen und sozialen Stellenwert. Ein erfahrener Tänzer hatte damals seinen Stil – und dieser war sein unverwechselbares Markenzeichen.
Heute ist das leider nur noch selten der Fall. Stil wird oft mit der persönlichen Handschrift des Unvermögens verwechselt. Wirklichen Stil können nur die Tänzer:innen entwickeln, die genau wissen, wie es geht, aber dennoch bewusst anders tanzen – aus freiem Willen, aus dem Wunsch nach Authentizität, nicht nach Effekt.
Im folgenden Video möchte ich zeigen, was mit persönlichem Stil gemeint ist: Gerardo Portalea, El Negro, der nie beruflich-, aber als Milonguero seine eigenen, unverwechselbaren Figuren tanzte:
Baile: Gerardo Portalea con Betty Pizarro, 1995
Musica: „El Chique“ Osvaldo Pugliese
Ein typischer Milonguero , einer der ganz großen, die ihren eigenen Stil prägten. Ich hatte noch das Glück, ihn 1995 in Buenos Aires im Sin Rumbo (nicht im Video) un din der Confiteria Ideal tanzen zu sehen.
(Die nach innen gedrehte linke Hand als Führender, wir haben sie wohl alle gehabt, Mitte der 90er Jahre war sie wohl eine Modeerscheinung in Buenos Aires. Dass unsere Partnerinnen das aushalten haben, wundert ich heute noch.
Die alten Milongueros blickten auf das touristische „Nachahmungstheater“ oft nur spöttisch herab. Über die Gringos und die Gilada – also das „Gesindel“, das gedankenlos die üblichen Figuren der Tangotouristen nachtanzt – konnten sie nur lachen.
Der große & kleine Pepito Avellaneda brachte es auf den Punkt: „Wenn mir die Rumtreiber eine Figur klauen, mache ich mir einfach eine neue.“
Ein Satz, der alles über die wahre Haltung zu Figuren und Kopieren aussagt.
Genau aus diesem Geist heraus schätze ich jene Tänzer:innen, die sich bewusst vom mundial- und wettbewerbsgeprägten Standardstil abheben. Die nicht nur das Publikum beeindrucken wollen, sondern auch eine starke, persönliche Handschrift im Tanz entwickeln.
Allen voran: Chicho Frumboli mit seiner Partnerin Juana Sepúlveda. Ich persönlich zähle die beiden zu einem meiner absoluten Lieblingspaare – und das aus guten Gründen:
1.Weil sie die Musik – oft ad hoc – mit einer verblüffenden Präzision und Kreativität interpretieren.
2.Weil Chicho konsequent auf die üblichen Attitüden und Eitelkeiten verzichtet.
3.Weil selbst die komplexesten Figuren immer auf die Musik abgestimmt sind – nie als Selbstzweck, sondern als logische, musikalisch motivierte Bewegung.
4.Weil jeder ihrer Auftritte wie ein unwiederholbares Unikat wirkt – lebendig, frisch, niemals mechanisch.
5.Weil sie bei allem, was sie tun, eine unglaubliche Ruhe ausstrahlen und tänzerisch völlig „bewegungslogisch“ bleiben – ganz selbstverständlich, ganz nach dem Motto: „Wie denn sonst?“
6.Und nicht zuletzt: Weil sie auch in den kleinen, scheinbar nebensächlichen Momenten absolut authentisch bleiben.
Ich sage oft: Wer Chicho und Juana nicht versteht, hat den Tango nicht verstanden. Aber das ist nur meine Meinung.
Wohlgemerkt – ich spreche hier von Bühnenkunst. Aber eben von einer, die den Tango nicht verrät, sondern ihm ein neues, lebendiges Gesicht gibt.
Tanz: Chicho Frumboli & Juana Sepúlveda
Musik: „El Flete“ von Juan D’Areinzo
Wenn man die scheinbare Mühelosigkeit, die spontan, musikalische Umsetzung der Synkopen, den Einfallsreichtum, bei dem sich – wirklich improvisiert – nichts wiederholt und von der sich selbst Juana, lächelnd, überrascht zeigt, ist jeder Auftritt von Chicho & Juana ein Unikat, Ein Kunstwerk. Trotz Chichos Weigerung, sich alle üblichen Merkmale anderer Bühnentänzer anzueignen.
Gelernt ist noch lange nicht verstanden
Bevor wir weiter über Tango-Figuren sprechen, möchte ich den Blick zunächst auf die Lehrenden richten: auf ihre Figurenkenntnisse – und vor allem auf ihre Didaktik.
Fangen wir bei mir an: Auch mich haben Tango-Figuren von Beginn an fasziniert. Sie waren sogar der Auslöser dafür, dass ich selbst irgendwann begann zu unterrichten. Mich reizte nicht nur die Technik, sondern auch die dahinterliegenden Prinzipien – die Bewegungsanalyse, die soziologischen und historischen Entwicklungen, all das, was den Tango in seiner heutigen Form geprägt hat. Diese Faszination hat mich nie losgelassen.
Nach 40 Jahren bin ich immer noch ein leidenschaftlicher Tango-Aficionado. Aber: Die Veranstalterrolle – Milongas organisieren, Events planen – das war irgendwann nicht mehr meine Welt. Ich habe mich deshalb auf das zurückbesonnen, was mich ursprünglich angetrieben hat: den Tango-Unterricht. Aber diesmal mit einem klaren Schwerpunkt auf Vermittlung: Lernforschung, Didaktik, Analyse von Lernverhalten – die Didaktik interessiert mich inzwischen mehr als die Figuren selbst.
Und weil ich diesen Weg selbst gegangen bin, kann ich die Motive vieler Kolleg:innen gut nachvollziehen. Ich bewerte sie nicht – sie sind menschlich und nachvollziehbar. Wer gerade eine neue Figur halbwegs beherrscht, möchte sie natürlich möglichst schnell im Unterricht weitergeben – auch wenn dafür noch kein durchdachtes Lehrkonzept existiert.
Aber hier stellt sich eine entscheidende Frage: Wo sollen diese Konzepte eigentlich herkommen?
Gibt es in Europa fertige, ausgearbeitete Curricula für einzelne Figuren? Kaum. Wer sie nicht direkt bei argentinischen Lehrern abgeschaut hat, muss sie zwangsläufig selbst entwickeln. Und das ist ein mühsamer Weg – voller Unsicherheiten und Fehler.
Denn kein Lehrender kann vor einem Workshop sicher wissen, ob ein neues Konzept tatsächlich funktioniert, ob es die Lernenden wirklich weiterbringt. Oft gehen die Lehrenden selbst am klügsten aus dem Workshop heraus – weil sie in der Auseinandersetzung mit ihren Schüler:innen die entscheidenden Erkenntnisse erst gewinnen. Das ist weder verwerflich noch ungewöhnlich. Es ist sogar wünschenswert.
Ich selbst habe oft 10 bis 15 Workshops oder Themenkurse gebraucht, bevor ich ein Thema wirklich sicher vermitteln konnte. Unterrichtserfahrung ist der einzige Weg, um fundierte Vermittlungskonzepte zu entwickeln.
Viele Tango-Schüler:innen in Europa haben allerdings längst bemerkt, dass ihre lokalen Lehrer:innen die Figuren oft selbst nicht sicher beherrschen. Also besuchen sie lieber Workshops mit argentinischen Gastlehrern – in der Hoffnung, dort den „echten Stoff“ zu bekommen.
Doch auch hier lauert eine bittere Erkenntnis:
Ja, viele dieser Gastlehrer:innen beherrschen die Figuren tänzerisch perfekt – aber didaktisch? Fehlanzeige. Ihnen fehlt oft die Erfahrung im Vermitteln, schlicht weil es auch dort keine ausgearbeiteten Lehrkonzepte gibt.
Und so gehen die meisten Schüler:innen nach einem Workshop-Wochenende mit der – wenig überraschenden – Einsicht nach Hause: „Man muss einfach noch viel üben.“
Von echten Lernergebnissen bleibt oft nur eine vage Ahnung, wie es ungefähr funktionieren könnte.
Zu allem Überfluss erschweren Sprachbarrieren den ohnehin schwierigen Lernprozess. Wenn beide Seiten – Lehrer:innen und Schüler:innen – nur zu 50 Prozent die gleiche Fremdsprache sprechen, bleibt vom eigentlichen Wissenstransfer oft nicht mehr als 25 Prozent übrig.
Aber die mangelnden Lernergebnisse sind nicht allein den Lehrenden anzulasten. Auch die Selbstüberschätzungung vieler Workshop-Teilnehmer:innen und die fehlende konsequente Einhaltung von Kenntnis-Leveln seitens der Veranstalter:innen tragen ihren Teil dazu bei.
Gelernt ist eben noch lange nicht verstanden – und verstanden noch lange nicht vermittelt.
Die leider oft missverstandene „Práctica“
Wer als Tango-Schüler glaubt, man könne Figuren allein im Unterricht erlernen, irrt gewaltig. Wer eine Figur wirklich tanzen möchte, braucht Zeit, Geduld, Wiederholung – und den festen Willen, sie tief im Muskelgedächtnis zu verankern.
Die selbstständige Auseinandersetzung mit einer Figur, das richtige Üben, gehört in die Práctica – und der Name verrät es bereits: Dort wird praktiziert, nicht nur getanzt!
Und genau hier richtet sich meine größte Kritik an weite Teile der Tangoszene:
Tango kann man nicht einfach „kaufen“. Man muss ihn verstehen – und üben. Andernfalls wird das mit dem Glänzen auf der Milonga nichts werden.
Leider wird die Práctica viel zu oft nur als Milonga-Ersatz missbraucht. Sie wird zu einer weiteren Gelegenheit, „irgendwie zu tanzen“, anstatt gezielt und bewusst zu arbeiten.
Natürlich gibt es Ausnahmen. Aber echte, konzentrierte Prácticas – wie ich sie noch zu den Pionierzeiten in Berlin erlebt habe, zum Beispiel in der Crellestraße in Schöneberg – sind selten geworden.
Statt die im Unterricht vermittelten Figuren wirklich zu trainieren und gezielt an den eigenen Schwächen zu arbeiten, wird oft stundenlang das immer gleiche, halbgare Repertoire abgespult – und das meist nicht einmal gut.
Mein Appell: Nutzt die Práctica zum Üben! Wirklich zum Üben.
Warum, glaubt ihr, entwickeln sich in Buenos Aires so herausragende Tänzer:innen?
Nicht, weil sie ständig Workshops besuchen – viele können sich das gar nicht leisten. Aber sie nutzen jede Gelegenheit, um das Wenige, was sie im Unterricht gelernt haben, konsequent auszuprobieren, zu verfeinern und zu verinnerlichen.
Dort wird zunächst – ohne endlose Diskussionen – das Gelernte praktisch umgesetzt. Und danach wird in der Práctica darüber gesprochen, reflektiert und experimentiert.
Vielleicht liegt genau darin das Geheimnis. Und der Schlüssel zu echtem tänzerischem Fortschritt.
Die zufällige Entstehung von Figuren und deren Reproduktion
Ich habe es bereits in einem früheren Artikel angedeutet: Viele Figuren im Tango sind im Grunde nichts anderes als „kultivierte Missverständnisse“.
Denn auf der Tanzfläche geschieht Erstaunliches oft ganz nebenbei – durch ungeplante, fehlerhafte oder missverständliche Führungsimpulse innerhalb des Paares. Plötzlich entstehen Bewegungen, die so gar nicht vorgesehen waren. Und doch – oder gerade deshalb – faszinieren sie.
Wenn der Führende dann im entscheidenden Moment souverän reagiert – sei es aus einer gewissen Eitelkeit heraus, um Coolness zu demonstrieren, oder schlicht aus Spaß an der Situation – wird dieser Fehler plötzlich zur Figur. Und nicht selten bleibt es nicht bei diesem einen Mal. Was zufällig entstand, wird absichtlich wiederholt, einstudiert und irgendwann sogar stolz als „neue Figur“ unterrichtet.
Diese gezielte Wiederholung eines kleinen Tanz-Malheurs, das in einem kurzen, vielleicht sogar chaotischen Moment entstanden ist, zeigt eine bemerkenswerte kreative Fähigkeit: den Zufall in eine bewusste Form zu überführen.
Und genau hier beginnt das Spiel mit der Komplexität.
Die Freude daran, das Ungeplante zu beherrschen, es zu verfeinern und so zu tun, als wäre es von Anfang an beabsichtigt gewesen – das ist nicht nur Eitelkeit, sondern auch ein Ausdruck spielerischer Kreativität.
Oder wie es im Tango vielleicht treffender heißt: Das Leben tanzt manchmal einfach vorweg – wir müssen nur folgen.
Figuren – aus Liebe zur Musik oder als Selbstzweck?
Bewegen wir uns, weil wir Musik hören und ihr körperlich Ausdruck verleihen wollen? Oder tanzen wir, um Figuren zu zeigen – ganz gleich, was die Musik eigentlich erzählt?
Bei aller Technikverliebtheit wird dieser grundlegende Aspekt im Tango leider oft unterschätzt. Denn die bloße Beherrschung einer Figur – so beeindruckend sie auch sein mag – trägt nur selten zur musikalischen Interpretation bei, wenn sie nicht in Form und Modus an die jeweilige Musik angepasst wird.
Doch ist das angesichts der Komplexität vieler Figuren und ihrer starren Abläufe überhaupt möglich? Und erst recht spontan, ad hoc, mitten auf einer Milonga?
Zu oft lassen wir uns verführen, komplizierte Figuren zum Selbstzweck zu tanzen – völlig losgelöst von der Musik. Wir „kaufen“ sie als Tango, obwohl sie nichts weiter sind als leere Bewegungshülsen. Unmusikalisches Tanzen hat aber keinen wirklichen Wert. Es ist reine Selbstdarstellung – und verliert damit genau das, was Tango im Innersten ausmacht.
Das ist der Punkt, an dem mich manche artistischen Tanzpaare regelrecht abstoßen: Sie machen aus Tango eine sportliche Disziplin.
Wenn jemand seine „Enrosques“ nicht an die gerade gespielte Musik anpasst, bleibt es bloße Angeberei.
Und damit sind wir beim Thema „Tango-Markt“.
Ich erinnere mich gut an die Jahre zwischen 1988 und 1993, als ich – bis kurz vor seinem Tod – regelmäßig bei Antonio Todaro Figuren „kaufte“. Er war ein Meister darin, seine über Jahrzehnte erarbeiteten Bewegungssequenzen in kompakte, verkäufliche Pakete zu schnüren: ellenlange Schrittfolgen von bis zu 20 Bewegungen, gespickt mit Sprüngen, Drehungen, Adornos – ein komplettes choreografisches Arsenal.
Antonio hatte dabei auch die Rolle der Folgenden stets im Blick. Er kannte sie aus eigener Erfahrung genau, denn er war selbst als Folgender mit Größen wie „Virulazo“ aufgetreten. Und so verpasste er jeder Sequenz auch gleich noch einen speziellen Adorno für die Folgenden – ein Beweis seiner tiefen tänzerischen und sozialen Kompetenz.
Doch es gab dabei ein kleines, aber folgenreiches Problem:
Antonio spielte bei seinen Unterrichtsstunden immer wieder dieselbe kleine Tangoschallplatte von D’Arienzo ab. Die Musik diente dabei lediglich als Taktgeber – nicht als künstlerische Inspirationsquelle. Und ein bisschen tanzte er auch genauso: technisch brillant, aber oft losgelöst vom musikalischen Ausdruck.
Das führte zu zwei hartnäckigen Missverständnissen, die bis heute nachwirken:
- Tango-Sequenzen müssten nicht an die Musik angepasst werden.
- Gekaufte Figuren sollten eins zu eins beibehalten werden – ohne eigene Anpassung oder Weiterentwicklung.
Was dabei oft übersehen wird: Antonio verkaufte seine Figuren hauptsächlich an Bühnentänzer – an Profis, die selbstverständlich wussten, wie sie diese Sequenzen an die Musik ihres Bühnenprogramms anpassen mussten.
Doch auf der Milonga funktioniert das nicht.
Dort ist keine Bühne. Dort ist der Tanz kein Spektakel, sondern ein Dialog – geführt zur Musik, im Moment, im Hier und Jetzt.
Baile: Antonio Todaro & Milena Plebs
Musik: „Sentimiento Gaucho“ Francisco Canaro
Originaltext:
Antonio Todaro y Milena Plebs bailan en el programa „Botica de Tango“ de Eduardo Bergara Leumann. Bailan „Sentimiento gaucho“ por la Orquesta de Francisco Canaro. (1990)
Antonio tanzt hier Bühnentango, schnell, figurenvielfältig. Stilistisch erdig, für kleinsten Raum einer Varietee-Bühne der damaligen San Telmo Touristen-Showbühnen choreografiert.
(Ich selbst durfte mal mit Milena in einem Kölner Restaurant bei einem Tänzerteffen der Show „Tango Argentino“ – Segovia tanzen.)
Übersetzung: Antonio Todaro & Milena Plebs tanzen in dem Programm „Botica de Tango“ von Eduardo Bergara Leumann. Sie tanzen „Sentimiento gaucho“ vom Francisco Canaro Orchestra (1990).
Die Form allein macht noch keinen guten Tango
Bevor jetzt die Anhänger des „Wild & Strange“-Stils oder die Neo-Tango-Fanatiker in freudige Zustimmung ausbrechen – einen Moment bitte:
Die bloße Form eines Figurenablaufs, also das „Was“, macht noch lange keinen guten Tango aus. Entscheidend ist das „Wie“.
Erst wenn ein neuer Bewegungsablauf nicht nur mechanisch reproduziert, sondern verfeinert, optimiert und letztlich ästhetisch gestaltet wird, entsteht das, was wir als schönen Tango empfinden.
Denn Tango definiert sich – wenn man es nüchtern betrachtet – vielleicht zu 25 % über die Form des Was, aber zu mindestens 75 % über den Modus des Wie.
Oder anders gesagt: Wild herumwuseln kann jeder. Aber aus Chaos Eleganz zu formen – das ist die wahre Kunst.
Lindenbrauerei Unna 1996
Tanz: Ingrid Saalfeld & Klaus Wendel
Musik: „Milongueando en el cuarenta“ Anibal Troilo
Wir haben nach dem Tod von Antonio Todaro †1994 als vermutlich letztes Schülerpaar im Estudio Sudamerica, Berlin 1993
im Jahre 1996 eine Choreografie ausschließlich mit Figuren-Material von Antonio für einen Auftritt gebastelt.
Na ja, für diese relativ frühe Tango-Zeit in Deutschland dürft Ihr nicht meckern, wir waren schließlich Tango-Pioniere.
Fazit:
Am Ende bleibt die Frage: Was wollen wir wirklich vom Tango?
Wollen wir uns nur bewegen – oder ausdrücken? Wollen wir beeindrucken – oder berühren?
Die Faszination für Figuren, für Technik und spektakuläre Abläufe ist menschlich, ja, sie gehört zum Tango dazu. Aber Figuren sind nur das Vokabular. Der wahre Ausdruck entsteht erst im Dialog mit der Musik und dem Gegenüber.
Wer im Tango nur nach dem „Was“ sucht, verpasst das Wesentliche.
Erst das „Wie“ macht den Tanz lebendig – macht ihn Tango.
Und vielleicht ist das die schönste Herausforderung, die dieser Tanz uns bietet:
Nicht mehr zu zeigen, sondern mehr zu fühlen. Nicht lauter zu tanzen, sondern klarer. Nicht nur Neues zu suchen, sondern das Bekannte endlich richtig zu tanzen.
Der Rest kommt – wie so vieles im Tango – ganz von allein.
10. Teil – Nächstes Thema – Gedanken über Tango Unterricht:
Die liebe Musik – in der Milonga, im Unterricht und auf er Bühne
11 thoughts on “Gedanken über Tango (Unterricht) | 9. Teil”
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[…] hat sich in einem seiner gewohnt hastig zusammengeschusterten Beiträge meines Artikels „Gedanken über Tango (Unterricht) | 9. Teil“ angenommen – […]
Nachtrag: Und ja, Deine Bemerkungen zu Practicas sind (leider) auch zutreffend. Hab mich da so ein bißchen angesprochen gefühlt… meine Faulheit macht daraus auch oft eher eine Mini-Milonga.
Wie immer großartiger Text. Ranglisten sind nicht so mein Ding, aber Chico Frumboli ist auch für mich sowas wie die Nr. 1 der beeindruckenden Tänzer, die Gründe dafür hast Du wunderbar auf den Punkt gebracht.
Bei dem Video mit Antonio Todaro und Milena Plebs bin ich richtig erschrocken darüber, wie Todaro ohne jede Pause seine Bewegungen heruntertanzt. Gut, bei dem Canaro-Stück tut es nicht weh, weil es nicht wirklich Pausen nahelegt. Aber leider erinnert mich diese Atemlosigkeit an einen Typ Tänzer, die man oft in Milongas sieht und die ich meide, nur dass Todaros technisches Niveau natürlich ungleich besser ist. Bewundernswert ist Milenas Coolness angesichts eines solchen heruntergenudelten Figuren-Feuerwerks.
Ich habe Antonio Todaro nicht mehr gekannt – aber ich frage mich, wie er wohl auf Troilo oder Pugliese getanzt hat. Du thematisierst ja in deinem Artikel die Loslösung der Figuren vom musikalischen Kontext.
Ich bin schon gespannt auf die nächste Folge.
Das allgemeine Tanzrepertoire von Todaro war Bühnentanz, er nannte es „Tango Fantasìa“. Dabei ging es um Bühnen-Action. Und natürlich zeigte Antonio sein Repertoire, zumal, wenn er die Gelegenheit hatte, im Tv aufzutreten. Wir neigen oft dazu den 60er Jahre Bühnen-Tango aus dem zeitlichen Kontext zu reißen und sind erschrocken über deren Tanz. Man muss aber anerkennen, dass es kaum einen besseren Bühnen-Choreografen als Antonio Todaro gab. Seine Schüler, z.B. Miguel Zotto & Milena Plebs, Alejandro Aquino & Vanina Balou (bei der Tournee mit Pugliese dabei), u.a. haben die Bühnen erobert, Miguel Angel Zotto und Milena Plebs mit seiner Show „TangoX2“ und Claudia Codega & Esteban Moreno. Als Bühnentänzer kam man nicht an Antonio vorbei. Aber er hat auch sehr „sencillo“ Tango de Salon getanzt und war darin sehr gut, mit vielen Pausen und viel Ruhe und Klarheit. Vielleicht war er nicht so gut wie die Show-Leute heute tanzen, und er hat damals zwar im Varieté getanzt, aber war selbst nie ein so erfolgreicher Bühnentänzer. Er war beruflich Maurer, wie „Petroleo“, und hat mit Tango Geld dazu verdient und hat zusammen mit Raul Bravo, während der 60er und 70er Jahre, in Prácticas die Zukunft des Tangos kreiert.
Ein Beweis, dass die Tango-Lehrer nicht unbedingt immer die besten Tänzer sein müssen, was ja hier oft vorausgesetzt wird.
Lieber Klaus Wendel,
Vielen Dank für die Klarstellung, dass die Aufnahme mit Milena mit Antonio Todaro eben keinen Salonstil der 1940er Jahren präsentieren sollte.
Hingegen ist eine sehr gelungene Aufnahme mit Milongueros aus der Epoca de Oro, die sich Ende der 1980er Jahren noch einmal auf die Pista begeben, in einem Auschnitt des Films „Tango Bar“ (1988) zu sehen, wo man nicht nur deren eleganten Stil noch bewundern kann, sondern auch die Tatsache, dass hier ziemlich ältere Semester in der Eleganz ihrer Bewegungen jüngeren Tänzern nicht zwangsläufig nachstehen müssen.
Sehr schön haben hier der Regisseur zusammen mit der Kameraführung diese Aussage durch das langsame Hochfahren der Perspektive von den Füssen bis zu den Gesichtern der Tänzer in Szene gesetzt:
https://www.youtube.com/watch?v=sWTLRX58ZlM
Hier haben wir also Bildmaterial, das uns eine Anmutung verschafft, wie damals in den 1940er Jahren getanzt wurde.
(Zu dem gesamten Film möchte ich allerdings anmerken, dass er mir – bis auf die erwähnte Szene- nicht wirklich sehenswert erschienen ist und Ruben Juarez hier als Hauptdarsteller, Bandoneonist und Sänger nicht wirklich überzeugen kann, wiewohl er im Laufe seiner Karriere wunderbare Auftritte, z.B. mit Troilo, vorweisen konnte.)
Beste Grüsse aus dem 1. Bezirk
Tangovifzack
Lieber Tango Vifzack,
dieses Video ist mir durchaus bekannt und gehört zu meinen Lieblingsvideos, dass ich mir eigentlich für einen speziellen Beitrag aufgespart hatte. (Interessant auch die filigrane Fußarbeit von Finito & Teresa). Aber das kann ich ja noch nachholen. Die Handlung des Film Tango Bar (neu) ist wirklich gruselig, Raul Julia tanzt in diesem Film übrigens auch einen Tango.
Liebe Grüße aus dem II. Stadtbezirk Essen
von Klaus Wendel
@Wendel:
War ja klar, das hier klein bei gegeben wird, weil es ohne Figuren zu lernen nicht geht.
Da wärs angebracht, mal endlich Sorry zu sagen für die freche Antwort vom letzten Mal!
@Theresa: Bei dem Video von dieser Milena sag ich : warum tanzt ne junge, cool aussehende Frau mit so nem Oldtimer? Weil sie es bezahlt bekommt.
@Tangovierzack: Die Alten in deinem Video sind nur ein cheap trick. Da hat man junge Tangueras und Tangueros in alte Klamotten vortanzen lassen und dann die Alten später dazugeschnitten. Sorry just a delusion
[…] „Die Partnerin „vorausläuft“ ? Wenn sie sowas macht, dann liegt daran, wo der Unterricht super langweilig ist.
Und Recht hat sie! Frau will heute nicht mehr warten bis der Mann endlich seine Füsse sortiert hat und vielleicht auch mitbekommt, dass Musik läuft.[…]
1. Das waren Deine Worte. Also war mein Komentar nur eine passende Antwort.
Du kannst keine Entschuldigung erwarten, wenn es nichts zu entschuldigen gibt. Im Übrigen habe ich nie gesagt, dass ich völlig auf Sequenzen verzichte.
2. Und klar: Junge Frauen tanzen natürlich mit den Alten nur für Geld, wie Tanz-Nutten, was denn sonst? Vielleicht ist das bei Euch in Berlin heute so.
Aber Milena Plebs hat mit Antonio Todaro getanzt, weil es ein beliebter Lehrer von ihr war und sie ihm viel zu verdanken hatte. Der TV Sender wird natürlich etwas Geld ausgespuckt haben, aber sehr wenig. Für sie war es eine Anerkennung, mit ihm vortanzen zu dürfen, weil Antonio Todaro ein Lehrer mit Rang und Namen war und viel Anerkennung genoss.
3.Ist Deine recht aberwitzige Vermutung eines Filmzusammenschnitts bei dieser Tanzszene aus „Tango Bar“ (Im Kommentarlink von Tangovifzack), dass es sich in Wirklichkeit um die Tanzbeine junger Tänzer:innen handeln muss, genau so eine dumme Verschwörungstheorie ist wie die, dass die Mondlandung nur gefilmt worden ist und garnicht stattgefunden hätte. Also mit der Einstellung: Die Alten konnten gar nichts, wir Jungen schon. Die ganz Alten konnten sogar Pyramiden bauen und die Jungen waren immer noch nicht auf dem Mond, stell Dir vor!
Es gab zu dieser Zeit bis auf 4-5 junge Paare überhaupt keine. wirklich gute junge Salon-Paare, und selbst die hätten den Alten nicht das Wasser reichen können, und die hatten alle einen völlig anderen Stil. Die gezeigten Tänzer:innen und deren Adornos zeugen von langer Erfahrung. Im Gegensatz zu Dir habe ich sie wenigsten noch zum Teil live erleben dürfen. Alle junge Paare hatten eher Figuren von Todaro drauf oder von den Dinzels. Im Film sieht man eindeutig die Beine der älteren Damen. Es ist eindeutig zu erkennen.
Lieber Klaus Wendel,
Die Intention, Figuren zu unterrichten und das als Tanzunterricht zu bezeichnen, ist leider auch hierzulande ein weitverbreiteter Umstand.
Dabei scheinen die Studenten oftmals zu Anfang des Unterrichts durch die Komplexität und des Memorierens der gezeigten, meist mehrelementigen Figur stark in Anspruch genommen zu sein, um sich im Anschluss auf die Positionen ihrer Füsse in jedem Element konzentrieren zu müssen und können im besten Fall am Ende der Unterrichtseinheit die Figur abstapfen.
Bei einer solchen Qualität des Unterrichts verwundert es den unvoreingenommenen Betrachter natürlich nicht, dass hauptsächlich Technik, aber auch die anderen Dimensionen wie Musikalität und Navigation auf der Pista (wo ja das Motto verbatim „Sin Rumbo“ sein sollte) deutlich unterentwickelt ausfallen.
Haben Figuren dann gar keinen Sinn?
Dem möchte ich nun doch widersprechen.
Denn sie sind gute Werkzeuge, um genau das „inverse“ Problem zu lösen.
Will man bestimmte Techniken lernen, muss man sich mit diesen intensiv auseinandersetzen und es hilft dabei sehr, diese bei mehreren Figurenelementen, die die Beherrschung jener Technik voraussetzen, zu erproben, zu erarbeiten und durch die schrittweise Hinzunahme anderer Dimension wie z.B. dem passgenauen Einsatz der Figur zur Musik zu verfeinern.
Halten wir also fest,dass landesüblich Figuren unterrichtet werden und dazu etwas Technik beigebracht wird.
Das inverse Problem zu lösen bedeutet nunmehr umgekehrt, dass man seine Techik verbessert und Figuren als Werkzeuge oder Hilfsmittel erachtet, welche man nach dem Erlernen der Technik getrost wieder vergessen darf.
In gewisser Weise könnte man hier von einer Parallelen zu Wittgensteins Leiter- Paradigma sprechen.
Natürlich wird diese Perspektive nicht viele Anhänger finden, denn diese zeigt keinen Weg auf, um eine ökonomisch skalierbare Unterrichtsmethode zu erhalten.
Trotzdem erinnere ich mich noch deutlich an ein argentinisches Paar, geben wir ihnen einfach mal die Namen „Eduardo“ und „Gloria“, in deren Unterricht anfangs eine Figur gezeigt wurde, die er dann nochmals alleine als Führender mehrmals präsentierte. Auf die Bemerkung, dass es zwischen diesen verschiedenen Vorführung Unterschiede gegeben habe, und ob er nochmals die erste Version zeigen könnte, wurde mir von Gloria in den Arm gezwickt, und sie lachte und meinte: „das weiß er doch selbst nicht mehr. Schau auf das was er wirklich macht!“.
Mit freundlichen Grüssen aus dem 1. Bezirk,
Tango Vifzack
P.S. Ja, Klaus, sein Nachname beginnt mit „A“ und ich denke Du kennst ihn auch 😉
Lieber Tango Vifzack,
beim nochmaligen Lesen meines Artikels wird mir tatsächlich klar, dass der Eindruck entstehen könnte, ich würde Figuren als „Endresultate“ unterrichten. Das Gegenteil ist der Fall. Ich benutze sie – genau wie Du es treffend beschreibst – als Mittel zum Zweck, um bestimmte Bewegungsprinzipien zu vermitteln. Damit bewege ich mich durchaus in dem von Dir angesprochenen Wittgenstein’schen Leiter-Paradigma: Die Figur ist ein temporäres Hilfsmittel, das am Ende wieder überflüssig wird, sobald das zugrundeliegende Prinzip verinnerlicht ist.
Allerdings arbeite ich dabei bewusst mit stark verkürzten Elementen. Es ist für viele Tango-Lernende schwer, sehr kurze Bewegungsbausteine ad hoc zu führen. Deshalb verwende ich manchmal Sequenzen, die aus nur zwei bis drei Bewegungsabläufen bestehen. Ziel ist es dann nicht, diese als starre Figur zu übernehmen, sondern sie in das eigene Bewegungsrepertoire zu integrieren und flexibel weiterzuentwickeln.
Vielleicht habe ich im Artikel auch zu wenig deutlich gemacht, was ich eigentlich unter einer Figur verstehe. Das lohnt tatsächlich eine Präzisierung:
Man könnte jede beliebige, gerade zufällig entstandene Bewegungssequenz als Figur bezeichnen – wenn man sie reproduziert und damit zum festen Element im eigenen Tanzstil macht. Häufig jedoch wird der Begriff enger gefasst: als festgelegte Abfolge klar beschriebener Bewegungen, wie zum Beispiel bei der „Medialuna“. Dabei ist die Medialuna in meinen Augen weniger eine Figur als vielmehr die Beschreibung eines Bewegungsprinzips, das beliebig ergänzt oder variiert werden kann.
Figuren sind für mich eher komplexe choreografische Einheiten, die – um im Bild zu bleiben – wie eine gut abgestimmte Gewürzmischung beim Kochen wirken: Sie veredeln das Ganze, ohne es zu überfrachten. Ein Beispiel wäre ein Boleo vorwärts mit anschließendem Doppel-Gancho – eine kreative Zusammenstellung verschiedener Elemente, die als kurze Einheit bewusst eingesetzt wird.
Fazit: Figuren sind aus meiner Sicht keineswegs überflüssig – sie sind nur dann problematisch, wenn sie Selbstzweck werden und die tänzerische Freiheit einschränken. Richtig verstanden sind sie ein Werkzeug, kein Ziel.
Oder habe ich da vielleicht noch ein Missverständnis übersehen?
Herzliche Grüße aus dem (bei uns etwas weniger kaiserlichen) Bezirk,
Klaus Wendel