
Gedanken über Tango Unterricht | 8. Teil
Drehungen – und warum sie leider so selten getanzt werden
Warum sieht man auf vollen Tango-Pisten nur selten Drehungen? Wahrscheinlich liegt es an ihrer Komplexität. Stattdessen beobachte ich immer wieder, wie Tänzer sich auf engstem Raum mit ständigen rebotes und kleinen Wiegeschritten behelfen – oft völlig losgelöst von der Melodie der Musik. Vielleicht geschieht das auch, weil man die geschlossene Umarmung nicht aufgeben möchte. Und ich gestehe: In geschlossener Umarmung zu drehen, ist in der Tat eine Herausforderung.
Meine ersten Begegnungen mit Drehungen hatte ich Mitte der 1980er-Jahre im Unterricht bei Juan D. Lange in Berlin. Dort lernte ich die ‚molinete‘ kennen – die „kleine Mühle“. Beide Partner bewegten sich dabei um eine gemeinsame Achse im gekreuzten Schrittsystem. Die Führenden mussten dabei gleichzeitig rückwärts gekreuzt und vorwärts gehen – ein echtes Koordinationskunststück! Wir mühten uns redlich, die halben Körperdrehungen exakt vor den Rück- und Vorwärts-Kreuzschritten auszuführen, um die Füße möglichst nah am Partner zu platzieren. Nur so blieb die Drehung kompakt und zog sich nicht auseinander.
Später, im Unterricht bei Antonio Todaro, erlebte ich die Drehungen mit sacadas, die dem Ganzen eine neue Dynamik verliehen. In Buenos Aires gehörten Drehungen offenbar bereits in den 1940er-Jahren zum Standardrepertoire – der Legende nach von Carlos Esteves, genannt Petroleo, verbreitet. Sie ermöglichten es, selbst auf einer einzigen Bodenfliese (baldosa) zu tanzen – eine geniale Lösung für die damals ebenfalls vollen Pisten.
Heute hingegen dominiert ein umarmungsorientierter Tanzstil, und die Drehungen bleiben oft auf der Strecke. Schade eigentlich.
Bleibt zum Schluss die Frage:
Ist der Tango nicht in seinem Wesen eher ein Drehungs- als ein Linear-Tanz? Seine Struktur und Entstehungsgeschichte sprechen jedenfalls für Drehungen.
Der Urschritt der Drehung: la circulación oder auch molinete genannt
Auf die ‚circulación‘ bin ich bereits in einem früheren Artikel im Zusammenhang mit der ‚base‘ und ihrer Entstehung eingegangen. [Link zum Artikel]
Das grundlegende Bewegungsmuster sollte also bekannt sein: Beide Tanzpartner bewegen sich um eine gemeinsame Paarachse, und zwar gegenläufig – in einer Abfolge von vorwärts-, seitwärts-, rückwärts- und wieder seitwärts gerichteten Schritten, die sich fortlaufend wiederholen. Diese Bewegung kann entweder symmetrisch im gekreuzten Schrittsystem oder asymmetrisch im parallelen System getanzt werden.
Daneben gibt es auch Drehungen, bei denen der Führende den Mittelpunkt des Drehkreises bildet, während die Folgende um ihn herum zirkuliert – zum Beispiel bei enrosque-Drehungen oder wenn der Führende dabei lápiz-Verzierungen einsetzt. Doch solche Figuren müssen auf vollen Tanzflächen oft abgebrochen werden, weil der nötige Raum fehlt. (Das ist zumindest meine Erfahrung.)
Rechtsdrehung – Uhrzeigersinn – Mann in der Mitte – Partnerin zirkuliert um den Mann im Zentrum der Drehung, nicht sehr platzsparend
In diesem Beitrag möchte ich mich jedoch auf die erste Variante konzentrieren – die gemeinsame Drehung um die Paarachse. [Schaubild]
Schwierigkeiten bei der Führung von gegenläufigen Drehungen
Die Komplexität gegenläufiger Drehungen liegt vor allem in der anspruchsvollen Koordination von Oberkörper und Beinen. Der Führende muss die Partnerin mit einer gezielten Oberkörperdrehung frühzeitig zur Drehung „einladen“, während seine Füße gleichzeitig hinter ihr bleiben und jene Räume einnehmen, die sie gerade freigibt. Man könnte sagen, es findet ein „Platztausch der Füße“ statt – der Führende setzt beispielsweise mit einer sacada seinen Fuß genau dorthin, wo die Folgende ihren gerade zurücklässt.
Das erfordert eine starke Dissoziation zwischen Becken- und Schulterlinie – und das über den gesamten Verlauf der Drehung hinweg. Einige Führende lösen das, indem sie Schultern und Becken zeitlich versetzt drehen: Immer dann, wenn die Folgende mit einer Rück-Seit-Vor-Kombination an ihm „vorbeigeht“, holt er sie anschließend mit dem Becken quasi wieder ein. Das klingt kompliziert – und ist es auch.
Grundsätzlich lädt der Führende die Partnerin zur Drehung ein, indem er die Frontalposition aufgibt und sich leicht in die gewünschte Drehrichtung wendet. So gibt er ihr fortlaufend, antizipierend, die nächste Schrittposition vor.
In Drehungen gegen den Uhrzeigersinn funktioniert das meist recht einfach, da der Führende ohnehin zur offenen Seite in den Raum blickt.
Deutlich schwieriger wird es jedoch bei Drehungen im Uhrzeigersinn, den sogenannten ‚contra giros‘. Hier müsste der Führende seinen Oberkörper eigentlich voraus über die geschlossene Seite in Drehrichtung wenden – eine Bewegung, die gegen die natürliche Blick- und Führungsrichtung läuft.
Erfahrene Tanzpaare haben hochkomplexe Bewegungsmuster entwickelt, um ‚contra giros‘ elegant zu meistern.
Ein verbreiterter Fehler bei vielen Paaren ist aber: Die Folgende verlässt den äußeren Kreis bei ihren Vorwärts-Kreuzschritten nicht, sondern setzt den Fuß eng am Partner ab. Häufig sehe ich, wie sich Paare bei Rechtsdrehungen schwertun, weil sich die Bewegung wie eine Spirale nach innen „festfrisst“. Die Folgende hält auf der geschlossenen Seite keinen Abstand mehr – und die ‚sacada‘ in die folgende ‚apertura‘ werden dann schlicht unmöglich.
Leider: Vermeidung von Drehungen auf voller Tanzpiste
Ich beobachte häufig, dass Paare in geschlossener Umarmung – die ja heute sehr oft bevorzugt wird – den inneren Raum für Drehungen selbst blockieren, weil sie sich durch die enge Haltung den notwendigen Winkel für die Schritte „zuschnüren“. Wie im vorherigen Schaubild dargestellt, zieht sich dabei die Drehbewegung wie eine Schnecke zusammen – die Drehung „frisst sich fest“.
Ein wesentlicher Grund dafür ist, dass die Becken durch die enge Umarmung zu nah beieinander stehen und so den erforderlichen Raum für die Beinarbeit nehmen.
Gute Drehungen mit sacadas werden in enger Umarmung dadurch äußerst schwierig. Besonders problematisch wird es beim contra giro: Wenn die Folgende zusätzlich noch über die geschlossene Seite dreht und ihre Vorwärts-Kreuzschritte nicht im äußeren Kreis, sondern zu nah an den Partner setzt, wird diese Bewegung praktisch unmöglich.
Wer also in enger Umarmung Drehungen im Uhrzeigersinn tanzen möchte, sollte sich unbedingt eine verbesserte Drehtechnik aneignen.
Zu einer verbesserten Drehtechnik…
…gehört vor allem, dass die Folgenden sich angewöhnen, ihre Vorwärts-Kreuzschritte nicht zu eng am Partner zu setzen und die Rückwärts-Kreuzschritte nicht zu weit von ihm wegzuführen. Gleichzeitig sollten die Führenden den Raum in Drehrichtung aktiv öffnen und auch aufmerksam darauf achten, ob dort tatsächlich genügend Freiraum für die nächste Bewegung vorhanden ist.
Drehungen im Tango-Unterricht…
… erfordern viel Übungszeit. Mal davon abgesehen, dass Drehungen schnell schwindelig machen, sind sie in der Ausführung schwierig, weil die Raumorientierung ständig wechselt, der Paarbezug sich laufend verändert und die Schritttechnik zudem komplex ist. Pivots und Körperdrehung, die circulación-Schritte,
die Umarmung, all das gilt es zu koordinieren. Für Tanzschüler eine Herausforderung. Dazu kommt, das bei vielen durch die Koordination der Bewegungen der Bewegungsfluss ist Stocken gerät und sich schnell’ ins Gefühl der Disharmonie einstellt.
Ein weiteres Problem beim Erlernen von Drehungen besteht darin, dass viele Führende es nicht schaffen, den Oberkörper konsequent in Drehrichtung zu wenden und gleichzeitig „konträr“ sacadas zu tanzen. Stattdessen bleiben sie frontal, mit paralleler Schulter- und Beckenlinie, und blicken dabei auf ihre eigenen Schritte, um bloß nicht der Partnerin auf die Füße zu treten. Doch genau dadurch geht der notwendige Drehimpuls verloren – und bei contra giros funktioniert es dann erst recht nicht mehr.
Es wäre also sinnvoll, eine Methode zu entwickeln, die es Führenden ermöglicht, sich nicht von den eigenen Schritten ablenken zu lassen, sondern den Oberkörper kontinuierlich der Drehung der Partnerin zuzuwenden.
Mir ist es nach langer Suche gelungen, eine solche Methode zu finden. Wie sie funktioniert, lässt sich jedoch schwer in Worte fassen – aber umso leichter im Unterricht vermitteln.
Fazit: Warum es sich lohnt, an Drehungen zu arbeiten
Drehungen gehören zum Wesen des Tango Argentino – seine Struktur, seine Geschichte und sein Repertoire sind von ihnen geprägt. Und doch sieht man sie heute, vor allem auf vollen Pisten und in enger Umarmung, viel zu selten. Der Grund liegt auf der Hand: Drehungen sind komplex. Sie verlangen präzise Koordination, ein hohes Maß an Körperbewusstsein und eine ständige feine Abstimmung zwischen den Tanzenden.
Wer sie jedoch meidet, verpasst einen wesentlichen Teil der musikalischen und tänzerischen Ausdrucksmöglichkeiten des Tango. Eine saubere Drehtechnik eröffnet neue tänzerische Freiheiten – selbst auf kleinstem Raum. Dabei ist es entscheidend, dass Führende den Raum vorausschauend öffnen und souverän führen, während Folgende lernen, ihre Schritte klar zu setzen und den Raum nicht unnötig zu „zuschnüren“.
Ja, Drehungen erfordern Geduld und konsequentes Üben. Aber die Belohnung ist ein fließender, dynamischer Tanz, der den musikalischen Kreis des Tango erst wirklich schließt.
Wer die Drehung meistert, tanzt nicht nur im Raum – er tanzt im Raum der Musik.
9. Teil – Nächstes Thema – Gedanken über Tango Unterricht:
Boleos, Ganchos, Llevadas… braucht man das? Warum tanze wir eigentlich?
2 thoughts on “Gedanken über Tango Unterricht | 8. Teil”
Schreibe einen Kommentar Antworten abbrechen
Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..
Wahrscheinlich das Ganze sehr pisten-spezifisch – hier im Rhein-Main-Gebiet beobachte ich jedenfalls eher zu viele als zu wenige Drehungen. Will sagen: Wenn man das Tassenkarussell-Bild für die Ronda verwendet, kommt oft die äußere Bewegung schon nach dem ersten Stück einer Tanda zum Erliegen, so daß kaum noch etwas anderes geht als Drehen. Keine Frage, Drehen braucht Technik, aber das vorausgesetzt reduziert Nur-Drehen einfach den Raum der Möglichkeiten, die Musik umzusetzen. In meinen Ohren gibt es Musik, die eher „Drehen“ sagt, und andere, die „Laufen“, also lineare Bewegungen, vorschlägt. Was davon aber umsetzbar ist, hängt vom dynamischen Raum-Angebot ab. Hier gibt es denke ich auch Handlungsspielraum für Lehrer. Klar, alle sagen gelegentlich so etwas wie „laß vor dir keinen Raum entstehen“ und dergleichen. Ich habe das Gefühl, da könnte noch etwas mehr Gewicht drauf, schließlich gibt es ja auch etwas zu gewinnen: mehr Genuß auf Milongas. Fun fact: Ich habe tatsächlich mal einen Workshop mit dem Titel „Tanzen auf rappelvollen Tanzflächen“ mitgemacht. Der Fokus war zwar auf platzsparenden Techniken. Wir haben aber tatsächlich auch ein bißchen mit Möglichkeiten experimentiert, ein Tassenkarussell wieder in Gang zu bringen.
Dann müssen wohl im Rhein-Main-Gebiet „dreh-freudigere“ Tänzer:innen wohnen. Und das Tassenkarusell wird wohl deshalb verkehrsbehindernd getanzt, weil nicht alle Leute passende ad hoc Ein- und Ausgänge in und aus Drehungen können, um sich rechtzeitig wieder in Ronda-Trab zu setzen. Kann ich aber nicht genau beurteilen. Hier im Raum Ruhrgebiet-Köln-Düsseldorf-Wuppertal sind jedenfalls Drehungen nicht so häufig wie diese „Rebote-Dauer-Stakkato-Wiegeschritt-Drehungen“ – also kaum jemand, der einen ‚ocho cortado‘ mal in Drehrichtung als ‚contra giro‘ fortsetzt. Gibt natürlich auch Leute. die das können, aber wenige. Musikalisch sind Drehungen eher fließend bei DiSarli wünschenswert, bei rhythmisch betonter Musik eher rebotes, ergibt sich aber auch durch die Fülle der Tanzpiste.