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Gedanken über Tango Unterricht | 3. Teil

Gedanken über Tango Unterricht | 3. Teil

Seitdem ich Tango tanze, habe ich bei vielen Tangotänzer:innen beim Wort „Achse“ viele seltsame Vorstellungen darüber herausgehört. Zum Beispiel „Ich habe meine Achse verloren.“ Wobei wohl einfach nur das verlorene Gleichgewicht gemeint war. Diese Bilder über Achsen sorgen sowohl  bei der Verständigung unter Tänzer:innen, als auch im Austausch von Bewegungsbeschreibungen für viele Missverständnisse. 

Oft wird nur von der Achse – wie „von einer Achse“ – gesprochen, dabei ist vielen nicht bewusst, welche Achse bei der jeweiligen Bewegung wichtig ist.
Richtig gelesen:
Es gibt mehrere Achsen, die für uns Tänzer:innen relevant sind. 
Grund genug, das Thema einmal differenziert und verständlich aufzubereiten.

Achsen sind virtuelle Hilfslinien, die dazu beitragen sollen, beim Tanzen wesentliche Körperausrichtung im vertikalen, horizontalen und Paar-Raum zu veranschaulichen. Sie ergänzen auch unser Gesamtbild für uns als Tango-Paar mit unserer Umgebung.

Dann machen wir den Geometriebaukasten mal auf:

Achsen im Tango Argentino – Eine tänzerisch-anatomische Einführung

Im Tango Argentino begegnet uns der Begriff der „Achse“ auf vielen Ebenen: von der Balance des eigenen Körpers über komplexe Drehungen bis hin zur gemeinsamen Bewegung im Paar. In diesem Artikel beleuchte ich verschiedene Achsentypen – sowohl aus tänzerischer als auch anatomischer und physikalischer Sicht. Denn oft werden Körperlängsachse, Drehachse und Schwerpunktachse miteinander verwechselt. 

1. Anatomische Körperachsen – Das räumliche Koordinatensystem

Diese Achsen beschreiben Bewegungsrichtungen relativ zum Körper und sind grundlegend für das Verständnis von Tanzbewegungen:

    • Longitudinalachse (Vertikalachse):
      Verläuft von oben nach unten durch den Körper (Scheitel bis Boden).
      → Um diese Achse drehen wir uns bei Pivots, Giros oder Spins.
    • Sagittalachse (Pfeilachse):
      Verläuft von vorne nach hinten durch den Körper (Brust zu Rücken).
      → Bewegungen zur Seite (Lateralschritte, Ochos seitlich) geschehen um diese Achse.
      • beim Tango man müsste hier, durch die mögliche Dissoziation bedingt – bei einer Spiraldrehung – eigentlich von 2 Sagittalachsen sprechen: die des Becken, vom Kreuz- zum Schambein, und der vom Rücken zur Brust.
    • Transversalachse (Querachse):
      Verläuft von links nach rechts durch den Körper (Hüfte zu Hüfte).
      → Um diese Achse erfolgen Bewegungen nach vorne und hinten – wie Vorwärtsschritte, Volcadas, Caminar.ei
      • eigentlich könnte man auch hier, durch die mögliche Dissoziation bedingt – bei einer Spiraldrehung – von 2 Transversalachsen sprechen: die der Becken und der Schulterlinie.

Diese drei Achsen bilden ein gedachtes, dreidimensionales Koordinatensystem, in dem jede Bewegung verortet werden kann.

2. Körperachse im Tanz (individuelle Standachse)

Definition:
Die Longitudinalachse, die im aufrechten Stand durch die Körpermitte verläuft.

Relevanz im Tango:

    • Sie ist die Grundlage für Gleichgewicht und stabile Bewegungen.
    • Wird die Achse gut „getragen“ (durch Aufrichtung, Körperspannung und Erdung), wirkt der Tanz ruhig und zentriert.
    • Eine instabile Körperachse stört nicht nur die eigene Balance, sondern auch die Verbindung zumr Partnerin.

3. Paarachse (gemeinsame Achse)

Definition:
Die gedachte Achse, die zwischen zwei Tanzenden entsteht, wenn sie sich als ein System bewegen – besonders in enger Umarmung oder bei geteiltem Gewicht.
Praxis:

    • In Positionen wie Volcadas oder Colgadas wird die gemeinsame Achse bewusst genutzt oder verlassen.
    • Auch in der normalen Umarmung spielt die feine Koordination beider Körperachsen eine Rolle für eine „gemeinsame Mitte“
    • Eine wichtige Rolle spielt diese Achse zum Beispiel bei gegangenen Drehungen, wenn bei Partner ihre Schritte konträr zur Drehrichtung, also um die Paar-Achse herum, setzen.

4. Drehachse (Pivotachse)

Definition:
Vertikale Achse über dem Standbein, um die sich der Körper bei einer Rotation dreht.

Tänzerische Anwendung:


    • Zentral bei Pivots, Giros, Molinetes.
    • Die Qualität der Drehung hängt stark davon ab, wie stabil und lotrecht diese Achse gehalten wird.

 

  • Wobei bei vielen Drehungen der Körper sich auch fließend im Achsenwechsel bewegt. 

5. Translationsachse (Bewegungsrichtung)

Definition:
Eine gedachte Linie entlang der Fortbewegung – vor allem beim Gehen (Caminar) oder linearen Sequenzen.

Besonderheit im Tango:

    • Tänzer*innen bewegen sich gemeinsam entlang dieser Achse, etwa im Flow der Ronda.
    • Bewusstes Verlassen oder Umorientieren der Translationsachse ermöglicht kreative Figuren und Richtungswechsel.

6. Spin-Achse (spiralförmige Rotationsachse)

Definition:
Eine komplexe Achse, die sich aus Drehung um die Longitudinalachse und gleichzeitiger Fortbewegung ergibt – eine Art „Schraubenachse“.

Typisch für:

    • Giros mit Energiefluss
    • Spiralförmige Bewegungen, bei denen der Oberkörper vorführt und die Hüfte folgt, wie beim fließenden ‚ocho‘ auf  nur 2 Taktschlägen. 
    • Besonders wichtig für dynamische Folgetechnik

7. Achsenwechsel (Gewichtsverlagerung), auch Transfer genannt

Definition:
Der Übergang der Körperachse von einem Bein zum anderen – also der Moment der Gewichtsverlagerung.

Bedeutung im Tanzfluss:

    • Grundlage für Schritte, Pausen, Führungsimpulse.
    • Auch das „Verweilen“ auf einer Achse oder zwischen den Achsen im Transfer kann tänzerisch spannend sein – etwa bei Suspension oder Verzögerung.

Wer jetzt noch von „der Achse“ sprechen möchte, sollte also definieren, welche gemeint ist. 

So erscheinen Aussagen wie „Ich habe meine Achse verloren“ fast schon lustig. Ebenso könnte man sagen, „ich habe meinen Schatten verloren“. Denn eigentlich sind Achsen nicht materielles, sondern virtuelle Modelle, eine gedachte Linie.

Mit „Achse verlieren“ meinen die meisten nämlich: “Ich habe mein Gleichgewicht verloren.“

Oft verlaufen Achsen auch außerhalb des Körpers, zum Beispiel, wenn man in die Hocke geht und bei so einigen Turnübungen. 

8. Schwerpunktachse (Gravitationsachse)

Definition:
Die gedachte Linie, die senkrecht vom Körperschwerpunkt zum Boden verläuft. In der Statik spricht man von der Lotlinie durch den Körperschwerpunkt – sie zeigt, wo das Gewicht des Körpers „angreift“.

Tänzerische Bedeutung im Tango:

    • Die Schwerpunktachse zeigt an, wohin das Körpergewicht tatsächlich wirkt – also ob man in Balance ist oder kippt.
    • Bei einem stabilen Stand verläuft sie innerhalb der Standfläche (z. B. über dem Standfuß).
    • Wenn sie außerhalb der Unterstützungsfläche liegt (z. B. bei Colgadas oder Volcadas), entsteht eine kontrollierte Instabilität – das ist Teil des Spiels mit der Achse.

Praktische Anwendung:

    • Beim Caminar (Gehen) wird die Schwerpunktachse ständig verlagert – zuerst nach vorne, dann seitlich auf den Standfuß.
    • In Giros oder Pivotbewegungen bleibt die Achse zentriert über dem Standbein, damit keine „Kippmomente“ entstehen.
    • Die bewusste Manipulation dieser Achse ist zentral für Führungsimpulse und für die Kontrolle des Timings

Bildlich gesprochen:
Man kann sich die Schwerpunktachse wie ein unsichtbares Lot vorstellen, das vom Solarplexus nach unten zeigt. Wer sie „trägt“, wirkt leicht und stabil zugleich.

Damit hast du jetzt folgende Achsen im Überblick:

1. Anatomische Achsen: Longitudinal, Sagittal, Transversal

2. Körperachse (Standachse)

3. Paarachse (gemeinsame Achse)

4. Spin-/Rotationsachse

5. Translationsachse

6. Spiralachse 

7. Achsenwechsel (Gewichtsverlagerung)

8. Schwerpunktachse

Über Achsen, Richtungswechsel und die Physik des Tangos

Wenn man Tango aus physikalischer Sicht betrachtet, wird schnell klar: Hier wirken Masse und Bewegung in einer permanenten Wechselbeziehung. Das Ganze ist komplex – vielleicht sogar zu komplex, um es im Unterricht vollständig zu vermitteln. Würden wir jede Bewegung physikalisch exakt beschreiben, wären viele Schüler schlicht überfordert.

Mir ist außerdem aufgefallen, dass selbst viele Tango-Lehrkräfte bei diesen Themen nur vage Bescheid wissen. Deshalb ist es mir ein Anliegen, hier einmal deutlich Klarheit zu schaffen.

Bevor wir über Achsen im Tango sprechen, empfehle ich, diesen Artikel zu lesen:
👉 Kapitel „Orientierung in Raum und Sprache“

Dort wird beschrieben, wie der Körper zueinander im Raum orientiert ist – eine wichtige Grundlage für das Verständnis von Bewegungsachsen.

Worüber ich im Unterricht spreche – und worüber nicht

Ich spreche im Unterricht nur dann über „Achsen“, wenn sie im Kontext für eine konkrete Bewegungssituation relevant sind. Im Zentrum steht für mich das körpereigene Gleichgewicht – etwas, das man beim Tanzen (fast) nie verlieren sollte. Ausnahmen bilden natürlich Bewegungen wie Volcadas oder Colgadas, bei denen das Spiel mit der Balance Teil der Bewegung ist.

Gerade weil man sich im Tango meist in einer horizontalen Bewegung befindet, also in Translation, ist das Gleichgewicht essenziell. Bewegt sich das Paar dabei nicht exakt in dieselbe Richtung und Schrittgröße, entsteht sofort eine kleine Disharmonie – das Paar „reißt auseinander“. Hierzu schreibe ich noch im Teil 4. „Gehen“

Der ‚ocho adelante‘ – ein Spin, kein einfacher Schritt

Ein gutes Beispiel für eine komplexe Bewegungsachse ist der Ocho Adelante. Funktional betrachtet ist das kein bloßer Schritt, sondern ein Richtungswechsel, bei dem die Folgende in eine Vorwärts-Kreuz-Position wechselt – und anschließend durch einen zweiten Vorwärtsschritt in die neue Tanzrichtung übergeht.

Richtungswechsel bestehen in der Regel aus zwei Schritten in unterschiedliche Richtungen. Kombiniert man das mit den fünf grundlegenden Kreuzpositionen (z. B. Vor-Kreuz, Rück-Kreuz, Öffnen etc.) und deren möglichen Kombinationen zur offenen und geschlossenen Seite, ergeben sich – rein rechnerisch – weit über 100 Varianten. 

Ja, das klingt mathematisch, und ist es auch. Aber keine Sorge: Ich unterrichte natürlich nicht so!

Wozu die Theorie gut ist

Diese theoretischen Grundlagen helfen mir vor allem dabei, Tanzsituationen spontan zu analysieren und gezielt zu reproduzieren – gerade im Unterricht. Lange habe ich selbst damit gerungen, den Ocho Adelante verständlich und elegant zu vermitteln, besonders, wenn ich ohne Unterrichtspartnerin war. Erst mein Verständnis der physikalischen Unterschiede zwischen Spin-Achse (spiraliger Bewegungsfluss) und starrer Drehachse hat mir geholfen, die Bewegung sinnvoll zu unterrichten.

Heute brauche ich im Anfängerunterricht nur zwei Stunden, um Tänzerinnen so weit zu bringen, dass sie diesen Ocho nicht nur funktional, sondern balanciert, rhythmisch und elegant tanzen können – sogar auf High Heels. Früher hat das Monate gedauert.

Warum der ‚ocho adelante‘ kaum noch getanzt wird – und warum das schade ist

Die Schwierigkeit, einen eleganten ‚ocho‘ in enger Umarmung zu tanzen, hat leider dazu geführt, dass diese Bewegung fast nur noch in vereinfachter Form – als Ocho Cortado – vorkommt. Sie ist zur Standardlösung geworden. Die Gründe dafür sind vielfältig:

    • Missverständnisse bei der Erklärung
    • Fehlende Unterscheidung zwischen Spin und starrer Drehachse
    • Zu wenig spiraldynamisches Verständnis
    • Mangel an sensibler Führung und Einfühlung in die Bewegung der Folgenden
    • Und nicht zuletzt: die falsche Annahme, dass ein Vorwärtskreuz im ocho mit paralleler Sagittalachse (also mit der Schulterachse gerade zur Bewegungsrichtung) getanzt werden muss – was ihn steif und unbequem macht.

Gerade in enger Umarmung wird der ‚ocho‘ so oft als unpraktisch empfunden – dabei ist er eigentlich wunderschön, wenn er korrekt geführt und getanzt wird. 

Fazit:  Zusammenspiel der Achsen – Tanz als Raumplastik

Im Tango Argentino wirken die Achsen niemals isoliert. Vielmehr formen sie gemeinsam ein dreidimensionales, dynamisches System, in dem Bewegung entsteht. Jeder Schritt, jede Drehung, jede Pause ist eine kleine Komposition aus Ausrichtung, Gewichtsverlagerung und Spannung – entlang dieser unsichtbaren Linien im Raum.

Die Schwerpunktachse verrät, ob wir in Balance sind. Die Longitudinalachse ermöglicht Rotation. Die Sagittal- und Transversalachse definieren, in welche Richtung sich Körperteile bewegen dürfen – oder sollten. Die Translationsachse leitet uns durch den Raum, während die Spin-Achse uns um unsere eigene Mitte tanzen lässt. Einen Spin nennt man eine Drehung eines Köpers um sich selbst, während er sich räumlich bewegt. Somit ist ein schneller ‚ocho‘ auf 2 Beats ein Spin, der nicht auf der Drehachse angehalten wird, während ein langsamer ‚ocho‘ eine Drehung, die Dreh- und Körperachse vereint und  meistens 3 Taktschläge oder länger mit ‚adornos‘ braucht. 

Tango wird damit zur plastischen Kunst im Raum – eine Art Zeichnung mit dem Körper, bei der die Achsen die unsichtbaren Linien sind, entlang derer wir gestalten. Je besser wir sie wahrnehmen und steuern können, desto klarer, stabiler und ausdrucksstärker wird unser Tanz.

Nachwort: 

Wer meine „Gedanken über Unterricht“ vom ersten Teil an verfolgt hat, wird festgestellt haben, dass ich kaum konkrete, praktische Lösungen bzw. Anweisungen für die Themen schreibe. Das kann ich nicht, denn es würde den Rahmen des Blogs sprengen und wäre zu schwierig und missverständlich. Ich habe deshalb aufgehört, Tango-Bewegungsanweisungen schriftlich zu verfassen. Ich schreibe hier nur über theoretische Modelle, weil diese als Voraussetzung für didaktische Konzepte sehr wichtig sind. 

Ein Lesetipp für Interessierte

Wer die beschriebene Schritt-Notation und Struktur genauer verstehen möchte, dem sei das Buch „Die Struktur des Tangos, Teil 1“ von Mauricio Castro empfohlen. Die meisten Profis arbeiten heute mit dieser Terminologie – und sie ist eine große Hilfe für systematisches Denken im Tango.

Thema im 4. Teil:

Das Gehen – insbesondere im ocho adelante

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