
Gedanken über Tango Unterricht | 10. Teil | b)
b) Musikalität – Üben mit System
Als ich vor ein paar Jahren bei einer Masterclass bei Chicho Frumboli & Eugenia Parrilla in Düsseldorf teilnahm, kam zum ersten Mal ein System auf den Tisch, mit dem man Schritte und Rhythmik im Tango richtig geordnet üben konnte. Damals war das für mich ein echter Aha-Moment. Später hab ich dann in einem Buch von Mauricio Castro nochmal davon gelesen – er nennt das Ganze „die Matrix“.
Klingt erstmal ziemlich technisch und fast ein bisschen zu nerdig für so einen emotionalen Tanz wie Tango. Aber das Verrückte daran: Genau diese „Matrix“ hat es möglich gemacht, bei all den unzähligen Schrittvarianten und drei verschiedenen Schrittgeschwindigkeiten endlich mal einen klaren Überblick zu behalten. Und vor allem: Alles gezielt üben zu können, ohne im Chaos zu versinken.
Klar, auf der Milonga will man natürlich nicht über mathematische Modelle nachdenken, während man tanzt. Aber wenn man das Ganze einmal richtig durchgearbeitet hat, kann man die Bewegungen so verinnerlichen, dass sie irgendwann ganz automatisch, im Flow und zur Musik passend aus einem rauskommen – wie aus dem Bauch heraus.
Hier also mein Versuch, ein komplexes Thema mal verständlich zu erklären…
Das Problem mit der Übersicht
Mal ehrlich: Wer kann eigentlich eine spontane Tanzsituation – also so ein richtiger musikalischer Glücksmoment – später nochmal genau so wiederholen? Noch einfacher gefragt: Wer ist in der Lage, seine eigenen zufällig genialen Moves nochmal hinzukriegen?
Die Musik im Tango ist voll von kleinen Nuancen und Feinheiten. Je besser man sich mit der Musik auskennt, desto komplexer wird das Ganze. Und je nachdem, wie man gerade tanzt, gibt’s plötzlich unendlich viele Möglichkeiten, wie man was betonen oder interpretieren kann. Da den Überblick zu behalten, ist nicht ohne.
Und trotzdem: Manche Tänzer:innen schaffen es, so unglaublich genau auf die Musik zu reagieren, dass es wirkt, als hätte das Orchester ihnen eine ganz persönliche Tanz-Partitur geschrieben. Nehmen wir Chicho Frumboli: Der haut in Biagis „Yaguaron“ diese fiesen, schrägen Violin-Synkopen (siehe Video-Ausschnitt) einfach so raus – ganz entspannt, ganz locker. Und das, obwohl er nicht choreografiert tanzt. Der setzt diese musikalischen Details immer wieder neu um – und zwar aus jeder möglichen tanztechnischen Position heraus. Wie geht das?
Die Antwort: Er kennt die Musik in- und auswendig. Aber das ist nicht alles – er bleibt total entspannt und kann alle wichtigen Schritt-Muster und musikalischen Phrasierungen spontan abrufen, auch die bei Biagi so typischen Piano-Nachhall-Töne, weil er sie richtig gründlich trainiert hat. Und das zeigt er auch – wie so ein Musik-Tanz-Nerd.
Und wie übt man sowas?
Zum Beispiel so:
Er führt seine Partnerin erstmal in eine sogenannte „lineare circulación“ – das ist so eine Art lineare Molinete auf der geschlossenen Seite. Dann übt er, nur mit der Führung, wie man als Folgende alle möglichen Verdopplungen tanzen kann – also Schrittverdopplungen im Rhythmus. Er selbst geht erstmal einfach nur vorwärts.
Dann kommen die verschiedenen contra tiempo-Kombis:
– rück-seit-vor (B-A-F)
– seit-vor-seit (A-F-A)
– vor-seit-rück (F-A-B)
– seit-rück-seit (A-B-A)
Danach wird’s spannend: gleiche Übung, aber auf der offenen Seite – das ist nochmal eine Nummer schwieriger.
Und als wäre das noch nicht genug, mixt er dann seine eigenen Schritte dazu – mal im gekreuzten Schrittsystem, mal mit ständigen Scxhrittsystem-Wechseln, mal mit Rückwärtsschritten. Und das alles zur Musik.
Fazit: Chichos Musikalität ist kein Zufall, sondern das Ergebnis von richtig viel Übung. Von nix kommt halt nix!
(Kurze Hilfe fürs Diagramm: A = seit, B = rück, F = vor)
Wer macht denn sowas?
Ganz ehrlich: Bis man so ein Zeug mit echter Disziplin üben kann, braucht man schon ’ne ziemlich wilde Tanzenergie. Gustavo Naveira hat mal (halb im Spaß, halb im Ernst) über Chicho gesagt: „Wenn man Chicho stoppen will, muss man ihm die Beine absägen.“ Und ja – genau diese Energie braucht’s halt, wenn man sich auf den Weg macht, musikalisch richtig tief einzusteigen.
Trotzdem: Im Unterricht reicht es manchmal schon, sich erstmal ein kleines, aber solides Repertoire an Musik-Umsetzungsmöglichkeiten zu erarbeiten – und zwar am besten mit einfacher, eingängiger Musik. [Siehe Diagramm weiter unten.]
Und jetzt mal ganz offen: Ich halte es für totalen Quatsch, Tango-Anfänger:innen oder Musik-Neulingen direkt mit sogenannter „herausfordernder“ Musik wie Piazzolla zu kommen. Ich sag lieber: überfordernde Musik. Das bringt nix. Vor allem, wenn das dann auch noch von Leuten empfohlen wird, die selbst nicht gerade für Musikalität bekannt sind – ihr wisst schon, wer gemeint ist …
Ich selbst hab richtig lange daran gearbeitet, bestimmte musikalische Stellen aus meinen Lieblingsstücken so zu verinnerlichen, dass ich sie spontan, mit jeder beliebigen Partnerin, in jeder beliebigen Tanzposition umsetzen kann. Klar, das dauert – aber es macht echt Laune. Und irgendwann merkt man: Es funktioniert!
Hier ein Beispiel:
Musik: ‚La Melodia Del Corazon‘
Edgardo Donato
Tanz: Mariana Montes & Sebastian Arce
Ich will Euch den kompletten Tanz nicht vorenthalten, deshalb setze ich ihn unten nochmal ganz rein. Hier nur die ganz kleinen 6er-8tel Synkopen.
Musikalität im Unterricht
So schön es ist, anderen Könner:innen beim musikalischen Zaubern zuzuschauen – irgendwann packt einen selbst die Lust, das auch hinzukriegen.
Es gibt ja inzwischen unzählige YouTube-Tutorials, Workshops und Kurse rund ums Thema Musikalität im Tango. Einen hab ich ja schon mal erwähnt: Joaquín Amenábar – absolut empfehlenswert. Nur ist der halt nicht ständig in der Nähe, und mal ehrlich: nur Vor-, Rück- oder Wiegeschritte in verschiedenen Notenwerten zu tanzen, ist auf Dauer auch nicht jedermanns Sache. Viele Tänzer:innen haben ja längst ein eigenes Repertoire – das läuft bloß so automatisch ab, dass man kaum merkt, wo man da noch musikalisch was reinbauen könnte.
Und klar, die typischen Verdopplungen mit rebote oder ein ocho cortado – das tanzt inzwischen eh fast jede:r. Aber vielen ist gar nicht bewusst, dass sie eigentlich schon ein ganz anständiges kleines Musikalitäts-Repertoire draufhaben – sie setzen es nur nicht bewusst ein.
Ein paar einfache Beispiele gefällig?
– Die gute alte „cuñita“, also der kleine Wiegeschritt: Den kann man langsam, superlangsam oder doppelt so schnell tanzen. Schon mal probiert, den passend zur Musik in den eigenen Schrittfluss einzubauen? Macht richtig Spaß!
– Schnelle Schrittwechsel oder ein Wechsel des Schrittsystems – entweder alleine geführt, gemeinsam getanzt oder im Wechsel – bringen frischen Wind rein.
– Rebotes? Klar, kann jeder – aber auch die lassen sich musikalisch variieren.
– Kleine gegangene Verdopplungen bringen zwar Abwechslung, brauchen aber etwas Platz – also mit Vorsicht auf der vollen Piste.
– Und das Beste: Man braucht keine riesigen Erklärungen oder Vorbereitungen – diese kleinen musikalischen Spielereien lassen sich fast überall und jederzeit einbauen.
Ein kleiner Hinweis noch: Die bekannte rück-seit-vor-Kombi in der molinete, die jede Folgende kennt, lässt sich auch wunderbar erweitern – etwa mit den oben genannten Varianten, wie Chicho sie einsetzt. Da geht noch einiges mehr!
Hier ein Video, in dem Giselle Anne (mit Gustavo Naveira – noch zu Friedenszeiten) die vals-typischen 6/8tel Synkopen bei 3-4 und 6-1 immer verdoppelt als seit-rück und seit-vor Kombination tanzt. Achtet mal auf den Vals-Rhythmus, der übrigens kein 3/4tel ist, sondern im 6/8tel Takt getanzt wird.
Gustavo Naveira & Giselle Anne – Viejo Porton (Rodolfo Biagi)
Übungen für die Práctica
Im letzten Teil hab ich mir die Mühe gemacht, zwei Diagramme zu basteln – sogenannte Übungs-Matrizen für die Práctica. Klingt vielleicht erstmal ein bisschen technisch, aber keine Sorge: Die Tabellen zeigen einfach nur, welche Rhythmus-Pattern in den ausgewählten Musikstücken von Fresedo und Canaro vorkommen.
Die Schrittlängen – also wie schnell oder langsam man einen Schritt setzt – sind durch Symbole gekennzeichnet:
quick = ¼-Takt, slow = 2/4, und very slow = 4/4 – dargestellt durch kleine, mittlere und große Ovale.
Die Farben helfen dabei, die Schrittarten zu unterscheiden:
– Rot steht für Rückwärtskreuzschritte
– Weiß für die apertura (seitwärts)
– Grün für Vorwärtskreuzschritte
Die Schrittfolge ergibt sich dann fast wie von selbst – je nachdem, ob Ihr eine lineare oder zirkulare molinete tanzt.
Wenn Ihr beim Üben die Musikstücke dazu hört, werden Euch die Rhythmusmuster in den Tabellen ganz von allein klar. Plötzlich macht’s „Klick“ – und die Musik und Bewegung fangen an, zusammenzuspielen.
Ich hoffe, Ihr kommt gut rein – und habt Spaß beim Ausprobieren!
Wie tanzt man eine Melodie oder einen ganz langen Ton wie z.B. eine Geigensequenz? Schaut Euch mal das Video an, in dem wird es gut erklärt.
In diesem Diagramm geht es um den Wechsel zwischen langen Noten und Verdopplungen.
Fazit: Struktur schafft Freiheit
Musikalität im Tango wirkt oft wie Magie – aber dahinter steckt in Wahrheit ziemlich viel System und noch mehr Übung. Klar, es ist toll, den großen Tänzer:innen zuzuschauen, wie sie scheinbar mühelos mit der Musik verschmelzen. Aber genau das kann man sich Schritt für Schritt erarbeiten – mit etwas Disziplin, gezielten Übungen und einem guten Gespür für den eigenen Tanzstil.
Die Übungs-Matrizen helfen dabei, nicht den Überblick zu verlieren. Sie machen sichtbar, was sonst nur gefühlt passiert – und genau das ist der Trick: Ordnung schaffen, um später ganz intuitiv und frei tanzen zu können. Je mehr wir uns bewusst mit einfachen Bewegungen und bekannten Rhythmen beschäftigen, desto mehr Spielraum entsteht für echte musikalische Interpretation.
Musikalität muss nicht kompliziert sein. Im Gegenteil – sie beginnt oft bei den simpelsten Schrittchen, wenn man sie mit Aufmerksamkeit und Gefühl tanzt. Und wenn man erstmal verstanden hat, wie sich Tempo, Richtung und Rhythmus kombinieren lassen, macht das Üben plötzlich richtig Spaß.
Also: ran an die Musik, keine Angst vor Wiederholungen – und nicht vergessen, auch mal auf die eigenen genialen Zufalls-Momente zu achten. Vielleicht steckt darin ja schon euer ganz persönlicher Tango-Stil.
Hier möchte ich Euch nochmal alle Videos zeigen, die ich nur ausschnittsweise oben für die Musikalischen Besonderheiten gezeigt hatte. Die Titel und Namen stehen ja oben.
Im dritten, dem nachten Teil c) geht’s um die Besonderheiten mancher Orchester, um Synkopen, Melodien und warum sie so schwer zu vermitteln sind, zumindest aus meiner Erfahrung.