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Gedanken über Tango Unterricht | 10. Teil | c)

Gedanken über Tango Unterricht | 10. Teil | c)

c) Musiktraining im Tango-Unterricht

Synkopen, Pattern und Melodien

Piazzolla als Taktgeber? Eine Debatte ohne Ende

Vor nicht allzu langer Zeit, als ich noch einen Facebook-Account hatte, entspann sich wieder einmal eine dieser überflüssigen Diskussionen darüber, ob Piazzolla als Taktgeber im Tango geeignet sei. Zwei unversöhnliche Lager, hitzige Debatten – und ich wurde teilweise sogar als Querdenker diffamiert. Dabei gehöre ich zu denjenigen, die Piazzollas Musik größtenteils nicht für gefüllte Milongas geeignet halten.

Das liegt nicht nur am bei ihm oft verwendeten 3-3-2-Rhythmus, den kaum ein „Normalo“ erkennen oder gar umsetzen kann. Wenn selbst gut hörbare Synkopen von den meisten Tänzer:innen kaum wahrgenommen werden – wie dann erst komplexe rhythmische Muster?

Pugliese, Troilo und andere haben diesen Rhythmus übrigens auch eingesetzt – aber nur dezent, eingebettet in einzelne Phrasierungen.

Und ich möchte dieser Debatte noch einen weiteren Aspekt hinzufügen:

Zugegeben – in der Tangoszene ist ein Bedarf an neuer Musik entstanden, gerade weil die klassischen Tangos inzwischen weitgehend ausgeschöpft scheinen. Doch ein Blick auf die tatsächliche Anzahl verfügbarer Stücke zeigt: Es gibt bisher nur wenige zeitgenössische Orchester mit einer kleinen Auswahl tanzbarer Musik – das reicht bei Weitem nicht, um das Repertoire der klassischen Orchester zu ersetzen.

Ein Blogger aus Pörnbach spricht gern von einer Vielzahl moderner Tangos, die es „ja gäbe“. Nein – viele davon sind musikalisch belanglos, mitunter sogar grauenhaft – oft auf dem Schlagerniveau der 60er-Jahre, als sentimentale Verklärung der „guten alten Zeit“. Manche Sänger produzierten ihre Stücke in erster Linie als Verkaufsware, suchten sich dafür ein Orchester – und nahmen damit Platten auf, die stilistisch mit klassischem Tango wenig zu tun hatten. Und wenn es klassische Tango-Spielweisen waren, hört man oft rein konzertante Tangos, zu denen nur sehr gute Paare choreografisch tanzen können. 

Beispiele für Kitsch im Tango: Alberto Castillo, der in seinen späteren Aufnahmen kaum mehr als „Trinklieder“ wie Todos Queremos Más beisteuerte, obwohl er in seiner  Glanzzeit gute Tangos hervorbrachte. Noch schlimmer: Agustin Magaldo (jun.). 

Wir sprechen hier von Tanzmusik – also Musik, die einem größeren Kreis von Tänzer:innen Freude, Inspiration und Entspannung bieten soll. Und das ist Piazzolla definitiv nicht. Wer glaubt, dass Überforderung entspannend oder genussvoll sei, mag sich von seiner Musik angesprochen fühlen – aber das ist keine allgemeingültige Grundlage für soziale Tanzabende. Piazzolla bleibt Spezialmusik – und das nicht nur rhythmisch, sondern auch emotional.

Dass Gerhard Riedl und manch anderer das nicht unterscheiden können, ist ein Armutszeugnis. 

Ein schlichter Beweis gefällig?: Als ich mal in der ersten Tanzstunde bei Anfängern Piazzolla spielte, bewegte sich niemand dazu, danach bei klassischer Tango-Musik – erleichtert – fast alle! 

Und dies war das letzte Mal, dass ich mich dazu äußere.

Nach diesem, zugegeben, bissigen Vorwort mein eigentliches Anliegen: 

Musik verstehen geht vor aller Tanztechnik! Kommen wir auf den Punkt:

Was ist eigentlich entscheidend bei gutem Tango-Tanz?

Bevor ich über Rhythmuslehre im Unterricht spreche, möchte ich ein Video zeigen. Ein Paar tanzt ein sehr komplexes Stück von Anibal Troilo – aufgenommen in Quartett-Besetzung mit Roberto Grela, einem der bedeutendsten Tango-Gitarristen:

Ich sah dieses Paar 1988 in eine Video in der Küche der „Tangoschool Amsterdam“, zusammen mit Antonio Todaro. Er kannte fast alle Tänzer:innen aus Buenos Aires – dieses Paar jedoch nicht. Und er war sichtlich beeindruckt.

Das Paar – Lita & Jorge (die echten Namen kenne ich leider nicht) – tanzt musikalisch, aber nicht unbedingt mit rhythmischer Exaktheit (die Tonspur ist auf YouTube wohl leicht verschoben). Die Musik ist modern, voller markanter Akzente und dynamischer Wechsel – ein klarer Vorläufer des späteren Tango Nuevo. Man erkennt, wohin sich der Tango entwickeln wollte – Piazzolla war nur die logische Konsequenz.

Doch diese Entwicklung wurde nie konsequent weitergeführt. Viele Tänzer:innen fühlten sich überfordert und zogen sich lieber in die musikalisch vertraute „Epoca de Oro“ zurück – oft getanzt in Cafés, in einer Ecke, von den Gästen abgeschirmt: die Zeit der sogenannten „Confiteros“.

Tanzmoden kommen und gehen

Der Stil von Lita & Jorge wirkt heute fremd, beinahe roh, und würde wohl von den wenigsten als ästhetisch empfunden. Doch nach damaligen Maßstäben waren sie exzellent. Das zeigt, wie sehr sich Tanzideale verändern.

Heute tanzt niemand mehr mit derart tief gebeugten Knien. Dennoch: Ihre Bewegungen waren präzise, kontrolliert, wirkten unumstößlich – ein zentrales Merkmal des Tangos.
Ein Schritt ist keine Laune – er ist eine Entscheidung.

📺 Ich sah dieses Paar in einem Video 1988 in der Küche der „Tangoschool Amsterdam“, zusammen mit Antonio Todaro. Er kannte fast alle Tänzer:innen aus Buenos Aires – dieses Paar jedoch nicht. Und er war sichtlich beeindruckt. Ich habe dieses Video jahrelang gesucht und endlich wiedergefunden. Dieses Video zeigte mir die enorme Vielfalt des Tangos – und machte mich vorsichtig im Urteilen.

Was ist „wahrer“ Tango?

Ich möchte mit diesem Video all jenen Expert:innen den Zahn ziehen, die Tango ausschließlich durch die Brille der Gegenwart bewerten. Besonders der aktuelle, hiesige „Encuentro-Stil“ und der mundial-geprägte „Villa Urquiza-Stil“ werden oft als einzig authentisch verkauft, sind aber nur Abwandlungen von vielen anderen. 

Rhythmus und Taktgefühl: mehr als nur der Beat

Ist der Taktschlag der einzige Impuls im Tango-Tanz?

Zwar bewegen sich die meisten Tänzer:innen entlang des Grundschlags auf 1 und 3 im 4/4-Takt, manchmal auch auf 2 und 4 (bei Verdopplung oder Pausen). Doch es gibt auch Paare, die sich allein über melodische Impulse durch den Raum bewegen – scheinbar schwerelos, mit komplexen, verschlungenen Figuren.

Viele Freestyle-Tänzer:innen orientieren sich an solchen Auftrittspaaren – doch das Ergebnis ist oft ein Mix aus Gefühl und Bühnenelementen: Boleos, Ganchos, Soltadas, Hebefiguren. Ob das auf einer vollen Tanzfläche funktioniert, ist fraglich.

Doch was macht den Tango aus?

Ein zentrales Element ist das Tanzgefühl – der subjektive Eindruck, sowohl für das Paar als auch für Beobachter:innen. Doch die Meinungen darüber, was „Tango“ wirklich ist, gehen weit auseinander.

Wenn wir Lehrende unsere eigene Vorstellung von Tango weitergeben – was passiert mit dem Musikempfinden unserer Schüler:innen? Wird Tanz so zur Reproduktion von Figuren – oder zu einem pädagogischen Geschäftsmodell?

Vielleicht ist Ehrlichkeit angebracht:
Wir lehren einen Gesellschaftstanz, der auf der Tanzfläche der heutigen Tangoszene funktioniert – mit Musik der EdO und den üblichen Mustern, um „kompatibel“ tanzen zu können.

Doch wir sind auch verpflichtet, den Zugang zur modernen Tangomusik offenzuhalten.

Rhythmuslehre im Unterricht – eine Herausforderung

Zuhören kommt vor Tanzen

Rhythmus zu lehren ist nicht leicht. Die Unterschiede im Rhythmusgefühl der Schüler:innen stellen eine echte Hürde dar – besonders in gemischten Gruppen. Und schlechte Musikumsetzung frustriert schneller als technische Schwierigkeiten.

Ich beginne deshalb oft mit bewusstem Zuhören – und setze die Bewegungsübungen erst in der nächsten Stunde an. Das macht neugierig – und nimmt den Druck.

Laut sprechen, nicht nur klatschen

Das laute Mitsprechen der Taktschläge ist unerlässlich – auch wenn es Überwindung kostet. Einfaches Klatschen reicht nicht.

Zum Mitsingen konnte ich übrigens noch niemanden bewegen – leider!

Warum das alles? Wegen der Basalganglien – einem Teil des Gehirns, der Bewegung mit Sprache verknüpft.
Vögel mit guten Imitationsfähigkeiten, z. B. Kakadus, verfügen ebenfalls über Basalganglien – und können daher rhythmisch tanzen.

👉 Tipp: Schon mal TaKeTiNa probiert? Ein hochspannender Zugang zu Rhythmus über Körper und Stimme.

Koordination von Rhythmus und Bewegung

Das Gehör – viel intelligenter als wir denken

Unser musikalisches Gehör ist darauf ausgelegt, Harmonien und Melodien vorauszuhören – auch wenn wir sie noch nie gehört haben. Ohne diese Fähigkeit könnten wir Bewegungen nicht planen oder mit Musik synchronisieren.

Diese Voraushörbarkeit fehlt bei vielen Stücken von Piazzolla – was sie für viele Tänzer:innen ungeeignet macht. Kommt dann noch der schwierige 3-3-2-Rhythmus dazu, reißt die Verbindung zur Musik schnell ab.

Und das sorgt – vorsichtig ausgedrückt – für keine guten Tanzgefühle.

In diesem Video (links) erklärt Rui Barroso den 3-3-2 Rhythmus, der meistens von Piazzolla benutzt wurde und es beweist die hohe Komplexität der musikalischen Struktur bzw. die bedingte Tanzbarkeit dieses Rhythmus. Wenn selbst ein Profitänzer sagt, wie kompliziert das ist, wieso sollte man so etwas Beginnern zumuten? 

Der Puls des Tangos: compás

Takt, nicht Taktung

Der Grundschlag im Tango heißt compás – wie der spanische Begriff für „Kompass“ oder „Herzschlag“: compás del corazón. Schon nach zwei Schlägen kann man den dritten vorhersagen – das gibt dem Tanz Struktur und Spannung.

Eine meiner Lieblingsübungen:
🎧 Zur Musik klatschen lassen, dann leise drehen – und wieder laut. Fast alle beschleunigen unbewusst. Erst wenn die Melodie im Kopf weitergesummt wird, bleibt das Klatschen im Takt.

Beispiel für Beobachtungen: 

    • Viele Anfänger:innen wippen beim Gehen – das ist kein Fehler, sondern ein Hinweis auf Empfindsamkeit für Offbeats. Sie hören die 2 und 4 – können sie aber noch nicht zuordnen. Sobald das metrische Betonungssystem (1 und 3) erklärt wird, hört das Wippen meist auf.
    • Viele Anfänger versuchen jedoch, jeden Taktschlag einzeln zu „treffen“ – was zu Stress führt. Nur wer den Puls verinnerlicht, kann entspannt tanzen.

Fazit:
Tanzen lernen heißt zuerst: Musik hören lernen.

Videos als Unterstützung im Unterricht

Ich nutze im Unterricht gerne Tutorials von Rui Barroso, der musikalische Strukturen sehr klar erklärt. Hier eine Auswahl:

Bewegungstraining mit Rhythmus-Pattern

Während der Corona-Zwangspause habe ich typische Rhythmus-Pattern aus Tangostücken herausgeschnitten (meist 8er-Phrasen) und in Loops montiert. Diese lasse ich mit passenden Schrittfolgen üben – mit kleinen Pausen zur Neuausrichtung.

Erst danach wird das ganze Stück getanzt – das bringt meist erstaunlich gute Ergebnisse.

Mit Partnertausch wird die Übung noch effektiver – und wenn man die Sequenz verschiebt (jede Wiederholung eine Zählzeit später), entsteht ein gutes Gespür für rhythmische Komplexität.

Ich könnte diesem Kapitel noch einige Vorschläge zufügen, aber, sie sind zu kompliziert zu erklären.

 

Gehen ist nicht Tanzen

Das Gehen im Tango dient nicht der bloßen Fortbewegung, sondern der Umsetzung der Musik. Daraus ergibt sich ein differenziertes Konzept:

Die Füße sind wie die Schlagstöcke eines Schlagzeugs,
die Körper des Paares eine fließende Einheit im Raum.

Wenn dieses Konzept nicht klar vermittelt wird, entsteht bei vielen Tanzschüler:innen ein belangloses „Herumlatschen“– statt eines musikalisch inspirierten Tanzes.
Gehen ist nicht Tanzen.

Wie mache ich diesen Unterschied deutlich?

Durch bewusstes, gezieltes Setzen der Füße im Taktschlag – und durch die Erklärung, dass jeder Schritt eine Projektionist, nicht bloß Bewegung im Raum. Sobald diese Differenzierung einmal verinnerlicht ist, lassen sich auch rhythmisch betonte Sequenzen schneller erfassen und umsetzen.

Ich kann nicht nachvollziehen, wie man diesem grundlegenden Prinzip im Tango nicht konsequent Raum gibt – gerade wenn es um das „Was“ bei tänzerischen Erklärungen geht. Ohne diesen Fokus entsteht unkontrolliertes, zufälliges Fallen in den Takt – und genau das ist es: Latschen.


Raumökonomie im sozialen Tanz

Gerade auf einer gefüllten Milonga ist Vorwärtslaufen kaum praktikabel. Daher ist es wichtig, Bewegungsformen zu lehren, die sich an die räumlichen Gegebenheiten anpassen lassen.

Die lineare Molinete bietet sich hier besonders an. Durch ihre Grundbausteine – Vorkreuz, Rückkreuz und Apertura – lassen sich alle Bewegungsrichtungen klar und elegant vermitteln, ohne dass es zu raumgreifenden Ausweichmanövern kommen muss.

Diese Struktur macht es möglich, auch in enger Umgebung kontrolliert und musikalisch differenziert zu tanzen – was ja letztlich das Ziel jedes sozialen Tangos sein sollte.

Insofern schließe ich das Kapitel „die liebe Musik…“ jetzt ab.  

Fazit: Musik ist kein Beiwerk – sie ist das Zentrum

Tango zu unterrichten bedeutet mehr, als nur Figuren und Schrittmuster weiterzugeben. Wer die Musik nicht versteht, wird den Tanz nie wirklich erfassen – ganz gleich, wie elegant die Bewegungen erscheinen mögen. Denn Tango ist vor allem eines: eine getanzte Reaktion auf Musik.

Der Unterricht muss daher beim Hören beginnen, nicht beim Tanzen. Erst wenn das Ohr geschult ist, entsteht ein natürlicher Bewegungsimpuls. Und nur wer den musikalischen Puls verinnerlicht, kann im Paar harmonisch und freitanzen.

Musikalität ist kein Stilmerkmal für Fortgeschrittene, sondern Grundlage jedes Tanzgefühls – unabhängig davon, ob man zu D’Arienzo, Pugliese oder Piazzolla tanzt. Der Zugang zur Musik muss offen bleiben, ohne Dogmen, aber mit Bewusstsein für die Grenzen und Herausforderungen, die verschiedene Musikstile mit sich bringen.

Ein guter Tango-Unterricht gibt nicht nur Antworten – er öffnet Ohren, Körper und Denkweisen.
Denn Musik verstehen heißt nicht nur hören. Es heißt: fühlen, zulassen, tanzen lernen.

9 thoughts on “Gedanken über Tango Unterricht | 10. Teil | c)

    • Author gravatar

      Hallo Klaus,
      sehr guter Artikel u.a. um die Möglichkeiten des Körpers zu verbessern auf die Musik zu tanzen, die man hört. Ich übe seit einigen Monaten bei Tangos von Rodolfo Biagi die Füße auf die 2 und 4 Betonungen zu setzten, das ist wirklich eine Herausforderung. Aber es macht auch richtig Spaß, wenn man die dann tatsächlich erwischt.
      Die Bedeutung und die Tanzbarkeit (ich finde dieses Wort sehr negativ, weil es häufig dazu benutzt wird Contemporary Orquesta -CTO- zu deklassieren) der Musik von zeitgenössischen Orquesta sind zwar nur ein Randthema in Deinem Artikel und wurden jedoch auch von Helge Schütt im Kommentar aufgegriffen.
      Zu diesem Thema habe ich tatsächlich eine gewisse Expertise, da ich seit ca. 8 Jahren immer auch diese Orquesta in meine Set`s einbaue. Waren es in der Anfangszeit so ca. 20% CTO, so sind es mittlerweile um die 50%. Das Verhältnis hat sich erhöht, weil in den letzten Jahren immer wieder neue Ensembles entstanden sind und die Bestehenden, neue Aufnahmen auf den Markt bringen. Zur Zeit spiele ich Aufnahmen von ca. 20 Orquesta`s, aber es gibt noch deutlich mehr. Ich wähle die Aufnahmen sehr genau aus, von manchem Orquesta nur einige Stücke, obwohl sie viele CD´s aufgenommen haben.
      Bei der Beschreibung bitte Aufpassen; die Beispiele die Helge Schütt genannt hat sind keine eigenen Kompositionen, sondern Arrangements historischer Kompositionen. Eigene Kompositionen von CTO´s sind sehr viel seltener und tatsächlich manchmal mehr zum zuhören.
      Für den/die DJ gibt es meiner Ansicht nach einige Herausforderungen beim Auflegen zeitgenössischer Tangos. Zum einen haben die CTO eher selten genug Aufnahmen, die sich in den gewohnten Hörweisen nach Orquesta Styl der EDO gut in einer Tanda zusammenstellen lassen, man sollte also Orquesta mischen. Das Mastering vieler Aufnahmen der verschiedenen CTO ist aber leider sehr unterschiedlich, manchmal sogar in unterschiedlicher Lautstärke, so dass ich entweder beim Auflegen mit einem Equalizer reguliere, oder einzelne Stücke vorab mit entsprechender Software im Rechner anpasse.
      Warum mache ich das? Mich inspirieren schon immer einerseits die kleinen oder größeren Veränderungen in den Arrangements der zeitgenössischen Orquesta, die immer gleichen Tangos und Tandas der EDO langweilen mich, wenn ich diese auf einem Festival oder Marathon mehrere Tage lang vorgesetzt bekomme. Und nicht zuletzt ist für meine Tanzinspiration die akustische Sinnlichkeit des normalen Tonumfanges, die Instrumente oder Stimmen nun mal besitzen, wichtig.

      Viele Grüße, Leo XII

      • Author gravatar

        Hallo Leo,

        vielen Dank für Dein Feedback zu meinem Artikel!
        Was Du beschreibst, nennt man wohl eine Synkopierung der „weak beats“ – und genau solche Synkopen finden sich ja auch häufig bei Biagi. Mir fällt in dem Zusammenhang ein sehr geeignetes Übungsstück ein, allerdings von Francisco Canaro: La Muchacha del Centro. In diesem Stück wechseln die Synkopierungen von Phrase zu Phrase zwischen den Betonungen auf 1+3 und 2+4. Das macht es besonders spannend, um den Wechsel dieser Betonungen gezielt zu üben. Anspruchsvoll ist dabei vor allem die Führung der Synkopen, da viele Folgende diese als „falsch“ wahrnehmen und unbewusst „korrigieren“ möchten.

        Was moderne Tango-Musik betrifft, wollte ich keineswegs grundsätzlich ihre Tanzbarkeit infrage stellen. Jede Musik ist in gewissem Maße tanzbar – die Frage ist vielmehr: Wie einfach oder herausfordernd ist sie für Tänzer*innen? Wird man unter- oder überfordert?

        Um das differenzierter zu beurteilen, müsste man die einzelnen modernen Orchester gesondert analysieren – dafür fehlt hier allerdings der Raum. Häufig fehlt es modernen Formationen an jener Vielschichtigkeit, die klassische Tangoorchester auszeichnet: das Zusammenspiel mehrerer rhythmischer Ebenen und Instrumentengruppen, die sich zu einem komplexen „Klangteppich“ verweben. Das gelingt manchen modernen Orchestern durchaus – meist sind es jedoch größere Ensembles mit entsprechendem musikalischem Können.

        Im klassischen Tango hören wir oft mehrere Ebenen gleichzeitig:
        – den Grundschlag als Basis,
        – rhythmische Muster über vier Taktschläge, teils mit Verdopplungen,
        – sowie eine rhythmisch-melodiöse Ebene.

        Das bietet für alle tänzerischen Niveaus etwas: Anfänger*innen können sich am Grundschlag orientieren, Fortgeschrittene sich an der Melodie oder den rhythmischen Variationen. Innerhalb eines Paares lässt sich dadurch sogar individuell aufteilen, was zu einem besonders spannenden gemeinsamen Tanzerlebnis führen kann.

        Diese Mehrdimensionalität fehlt modernen Orchestern häufig – teils aus musikalischen, teils aus praktischen Gründen, etwa wegen der kleineren Besetzung. Um z. B. eine eigenständige Rhythmusebene mit Streichern zu erzeugen, braucht man mindestens zwei starke Geiger*innen.

        Sehr empfehlenswert zu dem Thema sind übrigens die Bücher von Michael Lavocah, etwa „Was die Musik erzählt“. In den neueren Ausgaben werden auch einzelne Orchester ausführlich behandelt.

        Herzliche Grüße
        Klaus Wendel

    • Author gravatar

      Lieber Klaus,
      danke für deine ausführlichen Gedanken zum Unterrichten von Musikalität. Ich bin sehr einverstanden mit deinen Statements „Der Unterricht muss daher beim Hören beginnen“ und “ Musikalität ist kein Stilmerkmal für Fortgeschrittene, sondern Grundlage jedes Tanzgefühls“. Und in der Tat, das zu unterrichten ist kein einfaches Unterfangen. Manche haben die Musikalität durch Begabung oder musikalisches Training im Blut, andere müssen hart trainieren, um auf den Trichter zu kommen, wenn überhaupt.
      Ich unterrichte anders als du keine laufenden Kurse, sondern Workshops. Ich habe also nicht das Problem, wann und wie ich Musikalität in die laufende Ausbildung einbaue, sondern in die Workshops kommen Leute, die gezielt an dem Thema arbeiten wollen. Die Workshops sind für alle Niveaus, setzen also keine bestimmten Tanz-Kenntnisse voraus.
      Ein Charakteristikum des Tangos ist es ja, dass er keinen durchlaufenden Rhythmus hat, sondern dass vielerlei Rhythmen in nicht standardisierter Weise in ihm vorkommen, jeweils mit nur 2 bis 4 Wiederholungen. Es kommt also darauf an, diese Tango-typischen Rhythmen kennenzulernen und Ideen zu kriegen, wie man sich darauf bewegen kann.
      Ich arbeite mit sehr vielen Musik-Beispielen (das Heraussuchen davon ist so ziemlich der arbeitsintensivste Teil der Vorbereitung) und damit, die Leute sich spontan auf die Musik bewegen zu lassen. Zur Veranschaulichung der Rhythmen benutze ich Objekte von unterschiedlicher Größe und/oder Farbe, die den 4/8 Takt auf der Zeitlinie darstellen, und je nach Rhythmus entferne ich einige von diesen Objekten oder füge sie hinzu (ähnlich wie in den von dir verlinkten Videos von Rui Barroso), dann kommen gleich die Musik-Beispiele und die Bewegungs-Optionen, und geredet wird nicht ganz viel am Anfang, sondern zwischendurch, immer wieder auf neue Weisen, wie das Orchester den Rhythmus gestaltet, hinweisend, und neue Bewegungsoptionen vorschlagend.
      Abgesehen vom Basis-Takt und -Rhythmus („Verdoppelung“) ist für mich das wichtigste rhythmische Element, das Tangotänzer lernen sollten, die Synkope („síncopa a tierra“ = die Sechzehntel nach der Eins, im 4/8 Takt). Diese rhythmische Figur kommt in fast allen Tangos vor. Und zwar oft in Verbindung mit der Sechzehntel vor der Drei, das Ganze wird von den Argentiniern „La síncopa“ genannt. (Beispiel: D’Arienzos „Rawson“, in der Wiederholung der ersten Phrase). Und weil die Synkopen so häufig sind, ist es toll, wenn sie auch getanzt werden, und viele Tänzer tun das auch.
      Dagegen kommt der 3-3-2-Rhythmus zwar in traditionellen Tangos immer wieder vor, aber immer nur mit wenigen Wiederholungen, und wenn man den dann gerade nicht trifft, macht das auch nichts. Es sei denn, man will Nuevo-Stücke von Piazzolla durchtanzen und den 3-3-2-Rhythmus dabei eisern durchhalten 😉 (Und ein „Vorteil“ von Piazzolla im Unterricht ist tatsächlich, dass der zu übende Rhythmus im Prinzip durchläuft und nicht immer nur 2 bis 4 Wiederholungen hat, wie es bei den Synkopen bei z.B. Troilo und Tanturi der Fall ist).
      Für mich ist ein wichtiges Lernziel, dass musikalisch Tanzen nicht heißt, jede Zuckung in der Musik mit einer Fußaktion oder gar mit einer Gewichtsverlagerung nachzuzeichnen. Wenn man diesen Ehrgeiz hat (z.B. bei Biagi), führt das zu Stress und Verkrampfung. Viel wichtiger finde ich es, langsam tanzen zu können, anzukommen, und dann eventuell aus guter Verbindung mit dem Boden rhythmische Akzente zu tanzen. Ich bin immer glücklich, wenn die Teilnehmer am Ende des Workshops weniger Schritte machen als vorher.
      Das systematische „Matrix“-Üben finde ich ermüdend und für nicht wettbewerbsorientierte Tänzer nicht notwendig. Ich übe so nicht und empfehle es auch nicht. Mir kommt es mehr darauf an, dass die Leute in der Musik, die sie dauernd hören und einigermaßen kennen, rhythmisch interessante Elemente heraushören und damit herumprobieren.
      Theresa

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        Liebe Theresa,
        Vielen Dank für Deine ausführliche Antwort und Deine ausgiebige Unterrichtsbeschreibung.
        Und der große Unterschied in unserer Vermittlung besteht eben im unterschiedlichen Format: Kurse sind intensiver und Nachhaltiger als Workshops. Es ist ein Unterschied, ob Leute irgendwo mal in ein Thema „reingerochen“ haben oder auch Zeit dazu hatten, sie ausgiebig zu üben. Denn Workshops sind, was die relativ begrenzte Konzentrationszeit betrifft, nicht so ergiebig wie Kurse. Bei wöchentlichen Kursen ist die Übungszeit, bei einer Matrix pro Woche, auch nachhaltiger. Da ich oft Ad-hoc-Trainingseinheiten für die Improvisation mache, können Schüler die Übungen nachher besser aus dem Bewegungsgedächtnis, dem „motorischen Cortex“ abrufen, denn „Was man im Kopf hat, hat man noch lange nicht in den Beinen“. Lernen braucht Zeit für Konsolidierung.

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          Beide Formate, fortlaufende Kurse und einzelne Workshops, haben Vor- und Nachteile, gerade für so ein übergreifendes Thema wie Musikalität. Dass Musikalität Thema in fortlaufenden Kursen sein soll, darüber sind wir uns absolut einig. Auf der anderen Seite: als Teilnehmer am fortlaufenden Kurs macht man in der Musikalitäts-Stunde halt mit, weil es „dran“ ist – und einen Workshop zum Thema bucht man extra und gezielt, weil man sich davon eine Verbesserung des eigenen Tanzens verspricht.
          Und angesichts dessen, dass Musikalität bzw. Rhythmus gar nicht selbstverständlich in den fortlaufenden Kursen unterrichtet werden, kann ein Workshop wirklich nützlich sein, und das Interesse ist auch groß – meine Workshops waren bisher fast immer ausgebucht. Und da die Teilnehmer ziemlich motiviert sind, sind man auch Erfolge; auch bleibende Erfolge sehe ich bei denen, die ich im Auge behalte.

    • Author gravatar

      Zweite Anmerkung: Du schreibst:
      „Doch ein Blick auf die tatsächliche Anzahl verfügbarer Stücke zeigt: Es gibt bisher nur wenige zeitgenössische Orchester mit einer kleinen Auswahl tanzbarer Musik.
      Ein Blogger aus Pörnbach spricht gern von einer Vielzahl moderner Tangos, die es „ja gäbe“. Nein – viele davon sind musikalisch belanglos, mitunter sogar grauenhaft – oft auf dem Schlagerniveau der 60er-Jahre, als sentimentale Verklärung der „guten alten Zeit“.“

      Dem möchte ich doch stark widersprechen. Ich habe bestimmt nicht den vollständigen Überblick über die modernen Tango Orchester. Aber selbst mit meinem eingeschränkten Horizont sind mir schon etliche Orchester begegnet, die sehr gute, sehr tanzbare, eigene Kompositionen spielen.

      Zwei Beispiele:

      Beispiel 1: Ein Tangolehrer Paar verwendet in seinem Unterricht nur zwei Stücke: „S.O.S“ und „El Adios“, beide vom Sexteto Cristal. Und das reicht auch tatsächlich vollkommen aus. Beide Stücke sind so abwechslungsreich, dass alles vorkommt, was im Tango so vorkommen kann.

      Beispiel 2: Solo Tango hat einige geniale Vals komponiert. Vals #1, Mujeres Vals, Vals de Verano, Vals de Invierno …

      Natürlich gibt es heutzutage deutlich weniger reine Tango Orchester als während der EdO. Daher macht es in der Tat keinen Sinn zu versuchen, die traditionellen Tangos komplett zu ersetzen. Aber den modernen Orchestern generell die Qualität abzusprechen finde ich doch etwas unpassend. Eine Tanda mit dem Cuarteto Rotterdam, Bandonegro, Sexteto Cristal, Solo Tango, Cuarteto Re!Tango kann man auf jeden Fall in einer Milonga unterbringen.

      Liebe Grüße,
      Helge

      • Author gravatar

        Hallo Helge,
        zuerst mal zur Klarstellung: ich habe hier ausschließlich „Gerhards Playlisten“ als grauenhaft kritisiert. Das war wohl nicht klar genug kommuniziert, wenn Du das, zu recht, monierst. Somit ist dein esamter Kommentar korrekt und danke Dir dafür.
        In einem anderen, vorherigen Artikel habe ich nur gesagt, dass die Anzahl der zeitgenössischen Tangos noch nicht die der damaligen ersetzen kann.

    • Author gravatar

      Hallo Klaus,
      Ich stimme zwar fast allem zu, was Du schreibst, aber hier habe ich doch zwei Anmerkungen zu Deinem Beitrag.
      Anmerkung 1: Du schreibst:
      „Das laute Mitsprechen der Taktschläge ist unerlässlich – auch wenn es Überwindung kostet. Einfaches Klatschen reicht nicht.“
      Wieso sprechen und klatschen? Und nicht gehen? Das Ziel ist doch, die Füße zu bewegen. Und während ich tanze, klatsche ich nicht und ich spreche den Rhythmus auch nicht laut mit. Um den Rhythmus in die Beine zu bekommen, brauchst Du dann noch eine weitere Transferleistung von den Händen in die Füße. Und das ist normalerweise sehr unnatürlich. Mal drastisch formuliert: Wer Klavier spielen kann, kann deswegen noch lange nicht Tango tanzen.
      Das kommt mir sehr unnatürlich vor und gerade in den guten Workshops zur Musikalität, an denen ich teilgenommen habe, begannen die Lehrer sofort mit Gehübungen.

      • Author gravatar

        Hallo Helge,
        und wieder hast du Recht. Natürlich lasse ich meine Tangoschüler danach auch zum Taktschlag gehen. Also eins nach dem anderen. Außerdem spreche ich von Rhyrhmus-Unterricht von Fortgeschrittenen. Dort ist das genaue Hinhören, Mitklatschen und und Mitsprechen bei komplexen Pattern zuerst sehr wichtig, um sie zu verinnerlichen. Sofort tanzend umsetzen ist überfordernd.
        Lg. Klaus

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