
Gedanken über Tango Unterricht | 6.Teil
Figuren, Sequenzen und Improvisation
Was braucht man auf einer gefüllten Tanzpiste, um von Beginn an, also als Tango-Anfänger, improvisieren zu können?
Im Tango Rioplatense sind Figuren weit mehr als bloße Schrittfolgen – sie sind Werkzeuge der Kommunikation, der Musikalität und der Orientierung. Auf der Tanzfläche einer Milonga helfen sie, sich im Raum zu bewegen, mit anderen Paaren zu koexistieren und die Musik im Moment zu interpretieren. Ganz anders auf der Bühne: Im Tango Escenario werden Figuren choreografiert, dramatisiert und stilisiert – sie dienen nicht dem sozialen Miteinander, sondern der visuellen Wirkung, der Spannung und dem erzählerischen Ausdruck. Wo in der Milonga Improvisation im Vordergrund steht, ist auf der Bühne meist jede Bewegung geplant – als Teil einer Sequenz, die den Blick des Publikums fesseln soll.
Doch auch auf der Tanzfläche entstehen oft kleine Sequenzen: vertraute Kombinationen, die aus dem Repertoire abrufbar sind und dennoch variabel bleiben. In diesem Beitrag geht es darum, wie Figuren im Tango funktionieren und wie sich aus ihnen sowohl strukturierte Abläufe als auch improvisierte Momente entwickeln können.
Bewegungslogik und „kultivierte Missverständnisse“
Ich bin kein Tango-Historiker. Was ich an Hintergrundwissen zusammentrage, ist das, was allgemein kursiert – mehr nicht. Worum es mir in diesem Beitrag eigentlich geht, sind Figuren und Sequenzen im Unterricht. Und vor allem: wie man Improvisation sinnvoll und lebendig unterrichtet.
Im Laufe der Jahre habe ich festgestellt, dass jede Figur, die ich vermittle, letztlich aus sich heraus verständlich ist – sie ergibt sich logisch aus dem Bewegungsfluss. Da ist nichts Aufgesetztes, nichts rein Abgesprochenes. Und genau das macht für mich das Wesen einer Tangofigur aus: Sie ist nicht etwas, das man „macht“, sondern etwas, das passiert – vorausgesetzt, man bewegt sich mit Bewusstsein, mit Technik und mit klarem Kontakt. Sobald eine Abfolge nur noch auswendig gelernt und abgewickelt wird, sprechen wir nicht mehr von Figuren, sondern von Choreografie.
Wenn Schüler mich also bitten, eine Figur aus einem fremden Workshop zu erklären, sehe ich meist sofort: Die Bewegungslogik hakt. Das, was sie reproduzieren wollen, widerspricht oft der natürlichen Mechanik der Bewegung – ein klares Indiz dafür, dass irgendwo im Verständnis ein Fehler sitzt.
Ich gehe ohnehin nicht davon aus, dass die meisten Figuren „erfunden“ wurden. Vieles entsteht zufällig auf der Tanzfläche – aus Missverständnissen, aus improvisierten Reaktionen, aus Momenten, in denen zwei Körper etwas tun, das nicht geplant war, aber funktioniert. Wenn so etwas dann wiederholt, übernommen und weitergegeben wird, wird aus dem Zufall eine Form. Ob aus Eitelkeit, aus Neugier oder einfach, weil es sich gut anfühlt – am Ende stehen wir vor etwas, das bleibt.
Deshalb nenne ich Tango-Figuren gern: kultivierte Missverständnisse.
Was mich dabei stört: In Europa – und gerade auch hierzulande – wird Tango oft als ein starres Gebilde vermittelt. Als wären die Regeln und Abläufe dieses Tanzes vom heiligen Berg Buenos Aires gemeißelt worden und uns vom Himmel diktiert. Dabei ist Tango kein Monument, sondern ein Prozess. Ein lebendiger, sich ständig verändernder Tanz, in dem Figuren kommen und gehen, sich verändern, wieder verschwinden – und manchmal über Jahrzehnte bestehen bleiben.
Doch gerade dieser kreative Aspekt – das Erfinden, Entwickeln, Verwerfen von Bewegungen – fehlt uns hier. Zu viele Tänzer lernen nur nach, statt selbst zu gestalten. Alles kommt „von dort“ – und wird hier nur noch reproduziert. Und genau dadurch geht uns etwas Wesentliches verloren: die Freiheit, selbst zu gestalten.
Was ist Improvisation im Tango?
Improvisation – im Alltag meint das: Du reagierst spontan auf eine Situation, die gerade erst entstanden ist. Du hast ein Problem, eine Aufgabe, und findest im Moment eine Lösung. Im Tanz ist das nicht anders. Bei der Contact-Improvisation zum Beispiel entsteht Bewegung aus Impuls, Berührung, Nähe. Einer macht was, der andere antwortet – oder umgekehrt. Im Liegen, Stehen, mit Hebefiguren, aktiv und reaktiv im ständigen Wechsel.
Im Tango ist es komplexer. Beide bewegen sich gleichzeitig – in der Umarmung, im begrenzten Raum der Ronda, nur vertikal und dabei immer im Dialog: mit dem Partner, mit der Musik, mit der Umgebung. Auch bei der Tango-Improvisation heißt es: Ich entscheide nicht allein. Alles, was ich tue, muss anschlussfähig bleiben – damit der andere überhaupt reagieren kann.
Räumliche Improvisation
In der Ronda gibt es kein unendliches Platzangebot. Also muss ich mit dem Raum umgehen können. Ich muss in der Lage sein, jederzeit anzuhalten, eine Sequenz auf der Stelle zu tanzen, in Linie weiterzugehen oder mich seitlich auszuweichen. Improvisation heißt hier: Ich mache das, was gerade passt – nicht das, was ich geplant habe.
Tango-Figuren als Spielerei – und nicht als Navigation
Viele Tänzer:innen haben den eigentlichen Zweck von Figuren in einer gefüllten Milonga noch nicht wirklich verstanden. Sie nutzen sie als bloße Spielerei, als Selbstzweck – aus Spaß an der Bewegung, aber ohne Bezug zum Raum. Das kann man natürlich machen, aber es funktioniert nur, wenn die Tanzfläche leer ist.
Diese Tänzer lassen sich treiben, bleiben vielleicht im Paar gut verbunden, aber sie tanzen nicht in Bezug zur Ronda. Die Richtung auf der Tanzfläche wird ignoriert, der Fluss der Bewegung unterbrochen. Genau das passiert, wenn in der Tangoschule das Tanzen in der Ronda nicht vermittelt wird und Figuren nur als hübsches Bewegungsspiel gelehrt werden.
Ich achte im Unterricht bewusst darauf, dass alle Sequenzen in Tanzrichtung enden – und dass Schrittabläufe so gestaltet sind, dass sie nicht in der „Nachbarspur“ landen. Navigation ist kein Nebenthema, sondern der Rahmen, in dem sich der Tanz sinnvoll entfalten kann. Wer den Raum nicht achtet, tanzt am Tango vorbei – egal, wie elegant die Figur aussieht.
Musikalische Improvisation
Noch entscheidender ist für mich die Musik. Sie ist der eigentliche Impulsgeber für alles, was im Tango passiert. Raum und Umarmung setzen Grenzen – klar. Aber die Musik entscheidet, ob ich überhaupt losgehe. Und wie. Wenn ich eine rhythmische Verdopplung tanzen will, dann sollte das nicht passieren, weil mir gerade jemand im Weg steht – sondern weil die Musik mir diesen Impuls gibt.
Das Problem ist: Vieles, was man auf der Tanzfläche sieht, passiert nicht wegen der Musik, sondern trotz der Musik. Rhythmische ‚rebotes‘ zum Beispiel werden oft einfach aus Platzgründen eingebaut. Nicht, weil gerade eine musikalische Phrase das anbietet. Und genau da fängt das Missverständnis an: Tanzbewegungen, die auf Raumprobleme reagieren, aber keine Verbindung zur Musik haben, wirken leer.
Improvisation im Tango heißt also nicht nur, spontan zu reagieren. Sondern: bewusst, musikalisch und gemeinsam zu reagieren. Und das muss man lernen.
Ich sehe das oft im Unterricht: Sobald der Fokus auf „Figur XY“ liegt, verschwindet das Hören. Die Musik wird zur Kulisse, nicht zum Auslöser. Deshalb arbeite ich lieber mit kleinen Bewegungsbausteinen, die sich kombinieren lassen – aus dem Moment heraus, mit dem Ohr an der Musik. Wie das konkret aussehen kann, zeige ich am liebsten an einem ganz einfachen Beispiel…
Ein Beispiel aus der Praxis: Das Vorwärtsgehen mit Verdopplung
Nehmen wir etwas ganz Einfaches: das Gehen. Zwei, drei Schritte geradeaus – mehr nicht. Aber statt sie einfach nur nacheinander abzuspulen, höre ich in die Musik. Gibt es eine klare rhythmische Phrase? Kommt ein Akzent oder eine Verdichtung im Takt?
Wenn ja, kann ich einen der Schritte verdoppeln – also in ‚contra tiempo‘ – tanzen. Aber nur dann. Die Bewegung entsteht aus dem Gehörten, nicht aus der Laune. Ich sage oft im Unterricht: „Wenn du die Musik nicht hörst, tanz gar nicht erst los.“
Die Übung dazu ist simpel:
– Erst ganz normale Gehschritte, im Tempo der Musik.
– Dann zuhören: Gibt es irgendwo in der Phrase eine Einladung zur Beschleunigung?
– Nur wenn sie da ist: ein Schritt wird verdoppelt. Nicht vorher, nicht nach Lust und Laune.
Das Spannende: Die Verdopplung fühlt sich plötzlich „richtig“ an. Nicht weil ich sie technisch geübt habe, sondern weil sie musikalisch motiviert ist. Und genau so entsteht Improvisation, die sich organisch anfühlt – nicht wie ein Trick, sondern wie ein Gespräch.
Beobachtete Praxis: Improvisation im „Ich-Modus“ (*1) bei Führenden
In vielen Milongas sieht man Führende, die in erster Linie aus ihrem eigenen Bewegungsrepertoire schöpfen – vertraute Muster, fest eingeübte Abläufe. Das Ergebnis: ein Tanz, der oft mechanisch wirkt, vorhersehbar, wenig musikalisch. Die meisten Tänzer behaupten von sich, beim Tango zu improvisieren, aber das tun sie nicht: Sie tanzen nur immer wieder die selben Muster ab. Statt eines Gemäldes entstehen dadurch nur Tapetenmuster. Gute Improvisation ist unvorhersehbarer Tanz.
Wer sich beim Improvisieren in der Führungsrolle nur an sich selbst orientiert, tanzt meist im Kreis um die eigenen Gewohnheiten.
Ganz anders wird es, wenn die Orientierung nach außen geht: Wenn der Führende bei der Navigation nicht überlegt, was er tanzen will, sondern was er seiner Partnerin in genau diesem Raum und zu genau diesem Zeitpunkt anbieten kann. Plötzlich entsteht Kommunikation. Die Bewegung wird zum Vorschlag, nicht zur Durchsetzung. Und der Tanz beginnt, sich lebendig zu verändern – jedes Mal neu. (*2)
- *1 der Ich-Bezug wird im Teil 2 | Kapitel 2 bei „Mentale Verbindung im Paar“ https://www.tangocompas.co/gedanken-ueber-tangounterricht-teil-2/#mentale-verbindung beschrieben.
- *2 Der Paarbezug des Führenden wird im Teil 2 | Kapitel 2 bei „Daniel Trenner und die Basis des Tangos“ „ https://www.tangocompas.co/gedanken-ueber-tangounterricht-teil-2/#skelett beschrieben.
Räumliche Improvisation im Unterricht
Ein führender Tangoneuling muss vor allem lernen, Verantwortung für den äußeren Raum zu übernehmen – also dafür, seine Partnerin sicher und flüssig durch die Ronda einer vollen Milonga zu navigieren. Figuren, die sich nicht auf die konkrete, situativ entstandene Umgebung beziehen, helfen ihm dabei wenig. Was nützt eine komplexe Schrittfolge, wenn sie im Moment keinen Platz hat oder den Fluss der Ronda stört? Entscheidend ist, dass das, was getanzt wird, aus dem Jetzt heraus passt – nicht aus dem Repertoire.
Ein Beispiel aus der Praxis:
Beim Vorwärtsgehen gerät das Paar plötzlich ins Stocken – andere Paare kreuzen den Weg, der Raum ist dicht. Entscheidend ist jetzt nicht, was geplant war, sondern: Auf welchem Bein stehe ich gerade?
Aus genau diesem Moment heraus – dem Standbein – sollte sich eine neue Richtungsoption ergeben. Je nachdem, ob links oder rechts belastet ist, kann ich spontan eine Alternative auf der Stelle oder im Kreis entwickeln. Zum Beispiel ein Wiegeschritt, aus dem ich direkt in eine Drehung einsteige. Und diese wiederum lässt sich in jeder Phase flexibel anpassen – je nachdem, wie sich der Raum weiterentwickelt.
Improvisation heißt hier: nicht festhalten am Plan, sondern aufmerksam umsteuern, ohne den Fluss zu verlieren.
Genauso funktioniert es bei der musikalischen Improvisation
Die aktuelle Schrittposition sollte sich an die gerade gespielte musikalische Phrase anpassen. Da es aber so viele mögliche Positionen und Übergänge gibt, wird genau das im Unterricht schnell kompliziert. „Musikalisch tanzen“ zu unterrichten klingt leicht, ist aber in der Praxis schwer greifbar – vor allem in einem zeitlich begrenzten Workshop.
Chicho Frumboli hat dafür eine der besten Ansätze entwickelt. Er arbeitet zum Beispiel musikalische Verdopplungen systematisch durch – Schritt für Schritt. Für die Folgende entstehen daraus klare, wiederholbare Kombinationen: rück–seit–vor (die klassische Variante), vor–seit–rück, seit–rück–seit oder seit–vor–seit.
Ebenso lässt es sich beim Tanzen von ganzen Noten(werten) üben, in jeder möglichen Postion den langsamen Achsenwechsel üben.
So lässt sich das Thema musikalischer Reaktion konkret und strukturiert üben – ohne den Anspruch auf Spontaneität zu verlieren.
Alles bedeutet allerdings viel Üben und die Fähigkeit der Tangolehrer, die Übenden bei Laune zu halten. Aber der Spaß an der Musik beflügelt.
Ich habe mir dafür die Mühe gemacht während der Corona Zeit rhythmische Pattern als Dauerschleifen-Übungsmusik zusammen zu schneiden.
(Mangelnde) Kreativität bei Tango-Shows (vorgetragen – nicht der escenario!)
Manche Tangotänzer:innen mögen Tango-Shows, andere nicht. Ich persönlich mag sie nur noch von bestimmten Paaren.
Ich möchte aber zuerst über positive Entwicklungen sprechen, denn während meiner Zeit als Tango-Lehrer, immerhin 40 Jahre, hat sich einiges getan, was die Qualität des Show-Tangos angeht. Allein die Entwicklung der „Frauentechnik“, beeinflusst durch Ballett, ist beeindruckend. Der gesamte Showtango ist auf einem unglaublich hohen technischen Niveau angelangt.
Zum Schluss möchte ich noch auf eine Entwicklung hinweisen, die ich im Show-Tango mit Sorge beobachte – und zwar nicht im klassischen Bühnentango, sondern im sogenannten Vortragstango, wie er bei vielen Festivalitos zu sehen ist. Dort tanzen eingeladene Paare am Abend drei bis vier Stücke – mal choreografiert, mal halb improvisiert, mal gar nicht vorbereitet.
Was dabei leider immer häufiger auffällt: Es ist oft ein standardisiertes Repertoire, das abgespult wird. Dieses Repertoire ähnelt sehr dem Tanzstil der Tango de Pista des Mundial. Technisch makellos, zweifellos. Oft mit Spannungsbogen, gut platziert auf die Musik. Aber nach dem dritten Auftritt derselben Art wird es vorhersehbar. Die Strukturen ähneln sich, die Figuren wiederholen sich – und das gilt besonders für die berüchtigten Enrosques, die offenbar zum Pflichtprogramm geworden sind.
Was fehlt, ist der Mut zur Variation, zur Überraschung, zum eigenen Stil. Und genau das ist es, was Tango – für mich – im Kern ausmacht, – ob auf der Bühne oder auf der Tanzfläche.
Ich will das nicht schlechtreden – sie tanzen das brillant, keine Frage. Aber originell ist das für mich nicht. Und genau da fehlt mir etwas Wesentliches, etwas, das Tango für mich ausmacht: ein individueller Stil, eine persönliche Bewegungssprache, die nur zu diesem einen Paar gehört.
Deshalb schaue ich persönlich viel lieber jemandem wie Pablo Inza zu – verspielt, musikalisch, überraschend – als einem glattpolierten Showpaar, das sich durch das Viertelfinale des Mundial tanzt, hübsch frisiert, aber ohne Seele.
Tänzer wie Inza (Partnerin aktuell? Keine Ahnung, die wechseln ja oft – vielleicht ein Thema für einen separaten Blogpost), Carlos Espinosa, Chicho Frumboli mit Juana Sepulveda, oder auch Murat Erdemsel – sie alle bringen etwas Eigenes mit. Nicht perfekt im klassischen Sinn, aber unverkennbar. Und genau das schätze ich: Persönlichkeit vor Perfektion.
Wenn jetzt jemand sagt: Du nennst nur Männer – stimmt. Liegt aber auch daran, dass in diesen Paaren meist der männliche Part die strukturelle Gestaltung dominiert – und damit stark den Ausdruck des Paares prägt. Aber es gibt natürlich Tänzerinnen, die ganz klar eigene künstlerische Akzente setzen: Noelia Hurtado, Juana Sepulveda, Alejandra Mantiñan, Vanina Vilous, Milena Plebs – und sicher noch einige andere, die mir gerade nicht einfallen, die aber genauso wichtig sind.
Tanz:
Pablo Inza & Mariella Sametband
Titel: Yo soy así
Tango mit Humor getanzt, passt zum Titel: „So bin ich eben!“
Tanz: Pablo Rodriguez & Noelia Hurtado –
Musik: El Cencerro | Juan D’Arienzo
Dass dieser Tanz improvisiert wurde, sieht man am überraschten Lächeln von Noelia Hurtado nach einer spontanen Aktion von Pablo
Fazit: Unterricht als Einladung zur Eigenständigkeit
Guter Tango-Unterricht sollte mehr sein als das Weitergeben von Figuren. Es geht nicht darum, Schrittmaterial zu sammeln, sondern darum, Werkzeuge zu vermitteln, mit denen sich Tanz entwickeln kann – individuell, musikalisch, räumlich und lebendig.
Improvisation ist dabei kein Ziel für Fortgeschrittene, sondern von Anfang an Teil des Lernprozesses. Wer von Beginn an lernt, auf Musik und Raum zu reagieren – nicht nur zu wiederholen, was vorgegeben ist –, wird schneller ein sicherer, kreativer und eigenständiger Tänzer.
Im Unterricht versuche ich deshalb, keine festen Abläufe einzutrichtern, sondern Prinzipien zu zeigen: Wie entsteht eine Figur? Wie kann sie sich verändern? Wie höre ich den richtigen Moment? Wie bleibt Bewegung offen für das, was mein Gegenüber gerade braucht?
Denn genau das macht für mich guten Tango aus – auf der Tanzfläche wie im Unterricht: keine Kopie, kein Automatismus, sondern bewusste, lebendige Entscheidungen im Moment.
Improvisation ist kein Talent, sondern eine Haltung – und man kann sie lernen.
7. Teil – Nächstes Thema – Gedanken über Tango Unterricht:
Das gekreuzte Schrittsystem – el sistema cruzado
Über die Vorteil und die neuronalen Hindernisse es zu lernen.
18 thoughts on “Gedanken über Tango Unterricht | 6.Teil”
Schreibe einen Kommentar Antworten abbrechen
Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..
Gerhard Riedl, unser virtueller „Pörnbacher Tango-Spezialist“, hat eine kleine, relativ absurde Anspielung auf Christian Beyreuthers Kommentar zur Enrosque verfasst:
https://milongafuehrer.blogspot.com/2025/05/eine-verschraubung-locker.html
Ich möchte ihm noch folgendes dazu schreiben:
Gerhard, du bist echt ein Phänomen.
Da erklärst du ganz locker, dass du von dem Zeug eigentlich keine Ahnung hast – und legst dann trotzdem los, als wärst du der dienstälteste Enrosque-Inspekteur der Republik. Kaum mal selbst ausprobiert, nie ernsthaft geübt, aber Hauptsache, aus der bequemen Beobachterloge – wie Statler & Waldorf, nur nicht so witzig, aber dümmer – wird wieder kräftig der Rotstift gezückt. Natürlich gewürzt mit der altbekannten Ironie, die immer dann herhalten muss, wenn einem für echte Fachlichkeit die Praxis fehlt.
Und das Beste: Während andere jahrelang schwitzen, üben, scheitern und irgendwann vielleicht stolz ihre erste saubere Drehung hinstellen, reicht bei dir ein kleiner geistiger Muskelkater aus dem Anatomie-Buch – und schon ist klar, wie der Hase (oder besser: der Schraubenzieher) läuft.
Aber ich sag’s mal so: Wer den Enrosque nur vom Hörensagen kennt, sollte vielleicht nicht ganz so eifrig erklären, wie überflüssig oder eitel das alles ist. Denn von außen sieht jede Bewegung irgendwie sinnlos aus – bis man mal versucht, sie wirklich zu können.
Der Enrosque im Tango – Eine persönliche Annäherung
Von Christian Beyreuther
Der Enrosque gehört für mich zu den faszinierendsten Elementen im Tango – technisch anspruchsvoll, körperlich fordernd und in seiner Ästhetik einzigartig. Ich tanze ihn heute in verschiedenen Variationen und auf beiden Seiten. Doch besonders die rechte Seite – vom Mann aus gesehen – empfinde ich nach wie vor als deutlich schwieriger.
Körperarbeit und Haltung
Oft wird vom „muskulären Anspruch“ gesprochen – aber beim Enrosque geht es nicht um rohe Kraft. Entscheidend ist gezielte Stabilität: Es gilt, Beckenboden, Adduktoren, unteren Rücken, Hals, Schultern und Brust in feiner Abstimmung zu aktivieren. Diese Muskelgruppen tragen zur Aufrichtung und Kontrolle bei – ohne sichtbare Anstrengung.
Ein zentrales Prinzip: absolute Aufrichtung. Wer beim Drehen den Kopf „nach unten“ neigt – als würde er Pilze suchen – verliert nicht nur Haltung, sondern auch die Funktion des Enrosque. Die Drehung entsteht aufrechter und zentrierter, als es oft vermutet wird.
Führen – und geführt werden
Ein Enrosque ist klar geführt. Es ist keine Soloeinlage des Mannes – und wer glaubt, die Tänzerin würde „den Mann drehen“, der irrt. Die Initiative liegt beim Führenden, auch wenn es Momente gibt, in denen die Partnerin – meist unbewusst – Energie „spendet“. Besonders im Back Step der Frau innerhalb des Giros kann der Führende diese Energie aufgreifen und für den Enrosque nutzen – vorausgesetzt, die Bewegung ist eindeutig und sauber ausgeführt.
Homework für die Frauen: Gerade dieser rückwärts gesetzte Schritt im Giro muss präzise, klar und bewusst getanzt sein – je nach musikalischem Kontext entweder im einfachen Tempo oder in der Verdoppelung. Nur so entsteht der nötige Fluss, den der Führende aufnehmen und in den Enrosque übersetzen kann.
Wichtig: Die Energie beider Tänzer bleibt in der Verbindung – aber nicht im Sinne von Passivität. Besonders in diesem Moment braucht es von der Folgenden volle Präsenz und Körperwahrnehmung. Wer hier mit geschlossenen Augen tanzt – wie im Tango oft üblich – riskiert, den Impuls zu verpassen. In diesem Fall heißt es: Augen auf, aktiv folgen und spüren, wann sich der Moment öffnet.
Es braucht keine demonstrative Kraft – sondern Klarheit, Ruhe und gegenseitiges Verstehen. Nur so kann der Enrosque als echtes Dialogelement gelingen – geführt, empfangen, getragen.
Zur Klarstellung: Wenn die Frau den Mann tatsächlich aktiv dreht, sprechen wir nicht mehr vom Enrosque, sondern von einer Calesita – also einem Rollentausch und einem anderen tänzerischen Prinzip. Ich glaube, das hat ein Kollege aus einem Nachbarblog bis heute nicht verstanden!
Einstiegsmöglichkeiten
Ein klassischer Zugang zum Enrosque erfolgt über eine Sakada – allerdings ist das für viele Tänzer:innen herausfordernd. Eine saubere Sakada ist Millimeterarbeit und verlangt präzise Führung und Timing.
Ich selbst bevorzuge den Einstieg über einen Lápiz auf der linken Seite, kombiniert mit einem Back-Ocho und einer Hinterkreuzung am Standbein. Diese Variante erscheint mir für Einsteiger verständlicher und körperlich klarer steuerbar.
Schwieriger wird es beim Einstieg aus dem gekreuzten Grundschritt – hier geht leicht die Dynamik verloren. Was dann gefragt ist: maximale Körperbeherrschung und musikalisches Bewusstsein. Noch anspruchsvoller ist der direkte Einstieg während des Giros der Frau: Wer in diesem Moment eine einzige kontrollierte Drehung ausführen kann, hat den Enrosque wirklich verinnerlicht.
Sehr dynamisch funktioniert auch eine Variante mit gegenläufigen Ochos – die Frau geht vorwärts, der Mann rückwärts. Schwierig im Einstieg, aber kraftvoll und musikalisch reizvoll in der Ausführung.
Raum auf der Tanzfläche
Ein Enrosque braucht Platz. Ich empfehle, ihn vorzugsweise in den Ecken der Tanzfläche zu tanzen – dort ist meist mehr Raum vorhanden. Alternativ eignet sich die zweite Reihe der Ronda, sofern diese auf der Milonga strukturiert funktioniert. Vorteil: geringere Kollisionsgefahr mit Stühlen oder sitzenden Personen.
Langer Weg – große Freude
Ich selbst habe mehr als fünf Jahre gebraucht, bis der Enrosque bei mir zuverlässig funktionierte. Der Schlüssel war für mich: konsequentes Techniktraining, um meine eigene Achse und Stabilität zu schulen. Danach folgte die Anwendung – mit Partnerinnen auf ganz unterschiedlichem Niveau. Gerade dabei lässt sich gut erkennen, wie verlässlich die eigene Bewegung geworden ist.
Heute ist der Enrosque ein fester Bestandteil meines Tanzens. Auf der linken Seite deutlich stabiler, auf der rechten noch in Arbeit, aber er funkioniert. Aber ich weiß genau, woran ich arbeiten muss – und genau das ist für mich das Schöne am Tango: Es gibt immer Entwicklung, immer neue Tiefe.
Mit besten Grüßen
Christian Beyreuther
Die ausführliche Diskussion zum Thema „Enrosques“ in dieser Kommentarreihe inspiriert mich zu einem neuen Beitrag:
„Offene und versteckte Eitelkeiten auf der Milonga-Tanzpiste“.
Warum?
Eigentlich trägt diese Blogreihe den Titel „Gedanken über Tango-Unterricht“. Und tatsächlich geht es mir hier darum, Ideen und Anreize zu sammeln, wie man Tangounterricht klarer, präziser und vor allem zugänglicher für einen möglichst breiten Kreis Interessierter gestalten kann.
In meinem aktuellen Artikel habe ich mich auf den funktionalen Sinn von ad-hoc-Figuren konzentriert, speziell im Kontext der Navigation auf gut gefüllten Tanzpisten. Das Thema „Enrosques“ tauchte darin nur am Rande auf – in einer kritischen Anmerkung zu häufig beobachteten Show-Figuren, die im sozialen Tanz kaum sinnvoll einzusetzen sind.
Denn mal ehrlich: Im Milonga-Kontext sind Enrosques schlicht keine ad-hoc-Drehungen. Wer das Gegenteil behauptet, sollte sie bitte aus jedem beliebigen Schritt heraus spontan, im Einklang mit der Musik und angepasst an jede räumliche Situation sauber tanzen können. Und damit sind wir auch schon beim nächsten Punkt:
Didaktisch sind Enrosques denkbar ungeeignet. Der Lernaufwand ist enorm – selbst unter den ambitionierten „Hardcore-Fancy-Figure“-Fans dürfte eine ernstzunehmende Enrosque-Qualität selten innerhalb von fünf Jahren entstehen. Und das setzt voraus, dass man überhaupt eine Tanzpartnerin findet, die diese präzisen Drehungen sauber ausführen (und vor allem zulassen) kann. Nach meiner Erfahrung ist der Kreis solcher „drehungsbefähigten Damen“ doch eher begrenzt.
Also stellt sich die Frage: Wozu dient diese Figur eigentlich?
Wenn wir ehrlich sind, doch vor allem der Selbstdarstellung des Führenden, oder der puren Lust an „fancy-moves“. Denn rein funktional betrachtet bringt eine Enrosque auf der Milonga keinen Mehrwert für Navigation oder musikalische Interpretation. Und seien wir ehrlich: Eine einfache, sauber geführte Drehung wäre oft musikalischer und eleganter – aber eben nicht spektakulär genug, um Eindruck zu schinden.
Entschuldigt, liebe Enrosque-Enthusiasten, wenn ich das so direkt sage – aber ich sehe das nun mal so!
Ich möchte aber Christian Beyreuter und allen anderen Enrosque-Fans keineswegs unterstellen, dass sein/ihr ausgiebiges Üben bloß der Selbstdarstellung dient. Vielmehr kann der reine Spaß an der Weiterentwicklung der Bewegung – als autotelisches Verhalten, gewissermaßen ein l’art pour l’art – oft ein anderes Motiv für solche aufwändigen Figuren sein.
Und damit sind wir beim eigentlichen Thema: Eitelkeit im Social Dance.
Sie wird oft als Tabuthema behandelt, dabei beginnt Eitelkeit bekanntlich schon morgens beim Blick in den Spiegel. Wo aber genau verläuft die Grenze zwischen einer harmlosen Lust an der Selbstinszenierung und einem aufrichtigen, paarbezogenen, nach innen gewandten Tanzen?
Eine spannende Frage, die nach einem eigenen Blogartikel ruft. Ich nehme die Herausforderung an.
Schon gesehen? Der kleine Gerhard möchte mal wieder aus dem Bällebad abgeholt werden. Was mich angeht, kann er da aber gerne noch eine Weile bleiben.
Schon vernommen, aber habe jetzt Deinen Kommentar veröffentlicht, weil er so goldig war.
Jetzt hat er sogar nochmal nachgelegt: https://milongafuehrer.blogspot.com/2025/05/tango-technisch-gesehen.html
Nachdem er sich zuerst mit seinem Lob für meinen Artikel garnicht zurückhalten konnte, versucht er sich nun an den Kommentaren, die wohl ziemlich an seinem Selbstbewusstsein genagt haben müssen, indem er zwar offen zugibt sie nicht zu verstehen, aber deshalb umso heftiger darum ringt satirisch zu wirken. Klingt aber eher nach: „Ich verstehe zwar nix, aber hört sich alles ziemlich blöd an, wenn Erwachsene reden.“ Und natürlich – weil die technischen Details seinen Tangoverstand offensichtlich überfordern – bezeichnet er unsere Kommentare als „Gebalze“. Also aufpassen, Ihr Auerhähne, haltet Euch einfach und verständlich, Opa liest mit.
Lieber Klaus Wendel,
Mein Eindruck über die „berüchtigte Enrosque“ ist nicht, dass es einen Grund für diesen Klassifizierung gäbe.
In der Form mit vollständiger Drehung mit Vorwärts-Sacada als Einstieg in die Enrosque, ruhiger und stabiler Ausführung und anschließendem Planeo oder gar abschließender Sacada atrás ist diese nunmal bereits aus Sicht der physikalischen Dynamik ein kleines Kunstwerk, und wenn es in die Ronda sicher eingebaut werden kann (im Hinblick auf Harmonie zur Musik und bezüglich der sich stetig ändernden Raumgeometrie während der Ronda) dann ist sie schon ein Hingucker wert.
Und ein Zeichen eines gewissen Niveaus.
Leider stellt sich ein solcher Moment recht selten bei den regulären Milongas im Westen unseres deutschen Nachbarlandes ein. Bei meinen Besuchen dort habe ich solches nur 3 Mal gesehen über einen Zeitraum von ungefähr 15 Jahren.
Der gegenteilige Effekt stellt sich hingegen mit deutlich höherer Frequenz ein. Da werden ohne Rücksicht auf andere Paare unnötig überdimensionierte Drehungen begonnen, darauf die eigene Partnerin bei der Sacada adelante bereits verletzt und obendrein bei der Enrosque als Stützgerüst missbraucht, da bei dem Balancieren auf einem Bein der Schwerpunkt verloren geht und die Gefahr droht, dass das Paar die Figur auf dem Tanzboden flachliegenderweise vollendet, wobei ich bei einigen realisierten Manifestation dieser Gefahr Augenzeuge werden musste.
Nach meinem Dafürhalten sind solche Ereignisse glücklicherweise nicht die Regel sondern häufen sich bedauerlicherweise und ganz insbesondere kurz nach sog. „Master classes“ Workshops von internationalen (i.d.R. argentinischen) Star-Paaren (ich erwähnte in einem vormaligen Kommentar das Phänomen der Attraktivität dieser Unterrichtsveranstaltung).
Daher mein Votum die „Enrosque“ nicht als „berüchtigt“ zu bezeichnen.
Sondern als das, was sie ist: elegant, aber eben auch anspruchsvoll.
Ist man dann ein guter Tänzer, wenn man diese Figur gemeistert hat?
Ich möchte hier auf eine vortreffliche Sprachregelung verweisen, die in den sogenannten exakten Wissenschaften üblich ist: Das Beherrschen eben jener Figur ist notwendig, aber nicht hinreichend.
Statt „berüchtigter“ Enrosque, müsste man eher von der „notwendigen“ sprechen.
Beste Grüsse aus dem 1. Bezirk zum 2. in Essen!
Tangovifzack
Lieber Vifzack,
ach, wie schön, dass mir jemand aus der Seele spricht. Bis auf 2 Dinge:
1. ich betrachte die Enrosque in Vortrags-Shows als immer wiederkehrendes Element, weil sie höchst komplex ist und von beiden Partnern viel abverlangt.
Allerdings zu häufig sichtbar, zwar in unterschiedlich Variationen und Qualitäten, aber es erscheint etwas als Männerprahlerei, während die Dame die Stütze dafür bietet (nicht mechanisch natürlich), wie ein Zirkuspferdchen. Das ist meine persönliche Interpretation. Was ich selten beobachte, ist, dass die Führenden die Partnerin dabei in einem sanft fließenden Ablauf wirklich um sich herumführen, bedeutet, dass die Enrosque-Drehung wirklich aus der Führung entsteht. Und sich nicht von ihrer Partnerin herumziehen lassen, während sie mit sich selbst beschäftigt sind, wie Du es ja treffend beschreibst. Ja, das passiert leider in Deutschland sehr oft! Im Übrigen ist das Niveau vieler Damen hier für Drehungen nicht so ausgeprägt, was ich sehr bedaure.
2. Meine Erfahrung mit Enrosque-Drehungen sind gar nicht so ronda-freundlich: Es scheint, dass die Partnerin oft auf die Nebenspur gerät. Ist auch logisch, wenn der Partner in der Mitte steht und die Dame drum herumtanzt, nimmt das schon etwas mehr Platz ein. Ich halte in Rondas die konträr-gegangene „Platztausch-Drehung mit Sacadas“ für die platzsparendere, quasi „en una baldosa“. So hat sie mir auch Antonio Todaro erklärt, weil es das Drehen auf den während der 40er Jahre gefüllten Pisten eigentlich erst wieder möglich gemacht hat.
Ich bestätige, dass die Enrosque kaum in Mionga getanzt wird. Aber warum wohl nicht? Nur wegen Ihrer Schwierigkeit oder wegen Ronda-Untauglichkeit?
(Übrigens war das einzige Paar, das ich damit erfolgreich auf gefüllter Tango-Piste beobachtet habe, zufällig Franco & Bruna im Tango 8 in Köln und ich staunte Bauklötze)
„Das Beherrschen eben jener Figur ist notwendig, aber nicht hinreichend.“ Sehr gut! Vielen Dank für Deinen kompetenten Kommentar, freue mich von Dir zu lesen!
Beste Grüße aus dem II. Stadtbezirk Essen
Klaus Wendel
PS: Diese Masterclasses mit diesen Effekthascher-Publikumsmagneten-Workshops sind mir auch ein Dorn im Auge, weil die eigentlich dafür nötige Zeit in einem nur 2 Stunden dauernden Unterricht, für derart komplexe Abläufe, nicht im geringsten ausreicht. Es grenzt schon an „Show-Classes“, weil die Lehrer selbst eigentlich wissen müssten, wie aufwändig der Lernprozess ist, wie unendlich oft sie das selbst geübt haben, und leider auf Kosten der Partnerin. Man kann eine stabile Achse üben, allein, aber es ist doch etwas anderes mit Partnerin, die einwandfreie Drehung ist da nur die Voraussetzung.
Und Du hast Recht: Ich werde in Zukunft das Adjektiv „berüchtigt“ umändern in „(zu) häufig beobachtet“-
Nach meiner Erfahrung ist die Reihenfolge beim Lernen von Tango-Bewegungsabläufen „erst groß, dann klein“. Erst muß ich bzw. mein Körper die Dynamik eines Ablaufs verstehen, wie bei einem Einschwingvorgang auch die Erfahrung von Variationen in Details machen, bis es paßt – dann kann ich ihn allmählich miniaturisieren, ohne daß es unscharf wird. Das ist insofern ein Dilemma, als auch beim Tango „use it or lose it“ gilt. Vielleicht geht es nur mir so, aber reine Trockenübungen, so etwas wie nur meine Partnerin und ich, womöglich in einer Küche, fallen mir motivationsmäßig eher schwer, es fehlt dann irgendwie das richtige spirituelle Umfeld. Dazu kommt: Für jede Musik gibt es (das ist natürlich subjektiv) ein bestimmtes Spektrum von Abläufen, die sich stimmig anfühlen, andere passen weniger oder gar nicht. Irgendetwas in mir sträubt sich dagegen, einen Ablauf zu Musik zu tanzen, die sich dafür nicht richtig anfühlt. Der primäre Kandidat ist also der Kurs, dort wird der Lehrer die passende Musik wählen. Dann noch Practicas oder verkehrsärmere Zeiten auf Milongas, wenn dort – was das Wahrscheinlichkeitsfenster für Übungsgelegenheiten noch etwas verkleinert – kompatible Musik läuft.
Bestimmte Bewegungen sollte man einzeln üben, beim Enrosque zum Beispiel das getrennte Drehen von Becken und Schultern. Wenn man die Schultern ganz gleichmäßig in Drehrichtung dreht, um dann das Becken durch die Rückenwirbelmuskelspannung „nachzuholen“, der Schwung kommt dann von ganz alleine.
Wenn man das direkt mit den Schritten der Partnerin koordinieren muss, ist man überfordert. Die wirklichen Tango-Cracks üben das bis zum Abwinken, jahrelang, bis es wirklich sitzt. Bei dieser Bewegung funktioniert das nicht grobmotorisch oder groß, wie Du es nennst. Zum Üben braucht man sehr viel Disziplin und ein gutes Übungskonzept. Die wenigsten haben das, sie üben in den blauen Himmel hinein, lassen sich durch unwichtige Dinge ablenken und hangeln sich von einem Problem zum anderen. Üben muss man genauso lernen wie das Tanzen selbst. Ich beobachte das oft bei Prácticas ohne Anleitung: Die Leute tanzen – statt üben, – immer wieder nur genau das, was sie sowieso glauben zu können. Sie üben schlechte Angewohnheiten, bis sie so tief im motorischen Cortex verankert sind, dass man Jahre braucht, um sie zu zu verbessern. So sind neuronale Netzwerke eben, Du bist doch Spezialist darin, aber wohl eher bei KI, also nicht biologische Netze. Das Kleinhirn verankert Bewegungen so tief, dass ich als Lehrer die Leute nicht lange genug zu Übungszeiten motiviert bekomme, schlechte Angewohnheiten zu verändern. Durch synaptische Plastizität (Hebb’sche Regel: „Neurons that fire together, wire together.“). Langfristige Potenzierung (LTP) sorgt dafür, dass stark genutzte neuronale Verbindungen verstärkt werden.
Bei wiederholtem Training wird ein Bewegungsablauf immer mehr automatisiert, neuronale Netzwerke arbeiten dann mit weniger bewusster Kontrolle.
Lieber Klaus Wendel,
sehr schön, Deine Beschreibung der Dissoziation:
‚ Wenn man die Schultern ganz gleichmäßig in Drehrichtung dreht, um dann das Becken durch die Rückenwirbelmuskelspannung „nachzuholen“, der Schwung kommt dann von ganz alleine.‘
und wie man dazu kommt:
‚… üben das bis zum Abwinken, jahrelang, bis es wirklich sitzt.‘
Wenn ich diese sehr richtigen Sätze ergänzen darf, möchte ich hinzufügen, dass selbst diejenigen, die diese Technik beherrschen und elegant demonstrieren können, nicht immer auch die besten Lehrer zum Unterrichten sein müssen.
Dazu eine kleine Schnurre:
Zeitlich :Vor einigen Jahren, örtlich: in Mekka (des Tangos), vulgo in Buenos Aires.
Auf den Milongas stach uns ein aussergewöhnlich elegant tanzendes junges Paar ins Auge, von dem erfuhren, dass es auch clases anbot.
Wir fanden uns zu einer dieser Veranstaltungen ein und erlebten einen relativ desinteressierten Lehrer, aber eine sehr engagierte, freundliche und zugewandte Lehrerin.
Es wurde eine 360° Linksdrehung mit Planeo-Abschluss vorgeführt, und nach einigen erfolglosen Versuchen der Paare, entschloss sie sich, diese individuell zu unterstützen.
Auf die Frage, wo denn Schwung zu der Drehung herkommen würde, gab es zunächst als Antwort eine nochmalige Vorführung der nämlichen Figur und auf weiteres Nachfragen,
dachte sie nochmals nach, drehte sich selbst, sinnierte kurz, nickte und kam mit freudestrahlendem Gesicht zurück und erklärte uns:
„Tenés que empujarte del suelo con los pies.“
Aufmunternd lächelte die junge, lebhafte Frau und nickte uns zu. Dann wandte sich Geraldin dem nächsten Paar zu.
Beste Grüsse aus dem 1. Bezirk,
Tangovifzack
😂 Danke für diese unterhaltsame „Schnurre“. (habe dieses Wort lange nicht gehört, aber in diesem Fall passt es perfekt.
Liebe Grüße vom II. Stadtbezirk Essen
Klaus Wendel
P.S. Ich nehme an, die junge Dame hieß mit Nachnamen Rojas, oder?
Lieber Klaus Wendel,
Du weisst doch selbst, dass ein Caballero nicht den vollständigen Namen einer Dame preisgibt.
Aber ich widerspreche Dir auch nicht. 😉
Eine gute Nacht wünscht aus dem 1. Bezirk
Tangovifzack
Was neuronale Netze angeht – da kann ich jetzt nicht widerstehen. KI-Experte oder -Forscher bin ich nicht, nur interessierter Laie. Ich habe allerdings 1990 ein Jahr lang bei Mitsubishi Electric in Osaka an neuronalen Netzen geforscht. Dazu gehörten auch Basics, also der Blick auf biologische Systeme. Gezieltes „Unlearning“ ist bei Menschen wie auch bei Maschinen ein Problem, man kann es eigentlich nur allmählich überschreiben. Und unter Streß will das System dann doch lange Zeit noch, wie es mal bei „Jagd auf Roter Oktober“ hieß, heim zu Mama.
Das Prinzip beim Lernen ist sowieso „fehlerorientiert“ – wie Du es nennst vom „Großen zum Kleinen“, weil man sich als Lernender immer nur über Fehler dem Ziel nähert. Ein Kind lernt durch das Fallen die Grenzen des Gleichgewichts und tastet sich langsam an den aufrechten Stand heran, die unzähligen kleinen Unfälle gehören dazu. Ich habe im Unterricht oft das Problem, dass Tanzschüler das „Wackeln“ vermeiden wollen, zum Beispiel bei langsamen Bewegungen. Sie sind dabei so angespannt, dass die winzigen Muskel und deren Antagonisten nicht das Gleichgewicht austarieren können. Der Körper regelt das „autoreflexiv“, die Vermeidung ist deshalb kontraproduktiv.
Ich sage dann immer „vermeidet nicht das Wackeln, sondern lasst es zu.“ Erstaunlicherweise ist dann nach 2-3 Versuchen verschwunden, der „Körper“, der motorische Cortex, hat’s gelernt. Insofern stimmt Deine Beobachtung.
Und üben in der Küche ist nicht gerade motivierend. Ich brauche auch eine „Tanzumgebung“. Was Prácticas angeht, habe ich ja schon darüber geschrieben. Die sollte man auch wirklich nutzen und nicht nur zum Tanzen im üblichen Muster missbrauchen.
Dem ist wenig hinzuzufügen (was bedeutet, daß ich tangomäßig ähnlich ticke). Also nur ein paar Punkte: 1) für mich hat in einer Milonga auch Kollisions- und Irritationsvermeidung die oberste Priorität, d.h. im Zweifel muß der „fancy move“ eben zugunsten einer räumlich sparsameren Alternative aufgegeben werden. Allerdings sollte man auch „Übersparsamkeit“ vermeiden, was oft zum Runterbremsen des Ronda-Tassenkarussells auf das Drehen am Platz führt und Bewegungsoptionen für alle reduziert. Ich habe mal gehört, in Argentinien sei die Vorstellung bestimmter Grundtypen von Bewegung (Drehen vs. linear) enger an die Musik gekoppelt als hierzulande. Ob das stimmt wage ich nicht zu beurteilen, ich denke allerdings, „Ronda-Fluß am Laufen halten“ ist trainierbar – allerdings ist es sicher schwieriger, die „streßfreien“ Möglichkeiten in einer dynamischen Situation zu finden als in einer statischen.
2) Mir geht es bei Show/Bühnentango ähnlich – ich sehe viel beeindruckende Highspeed-Akrobatik mit wenig Seele oder Sinnlichkeit. Einräumen muß ich allerdings, daß ich nicht beurteilen kann, wie sich das für die Tänzer selbst anfühlt – ich könnte mir vorstellen, daß ein solcher Power-Tanz für Leute in der Top-Liga dennoch ein Gefühl der Befriedigung hinterläßt.
3) Bei den Tänzerinnen mit klarer eigener Persönlichkeit und Energie würde ich noch Eugenia Parilla auf die Liste setzen wollen.
Ja, Deine Vermutung mit der räumlichen, musikabhängigen Bewegung in Buenos Aires stimmt, wobei die Grundtypen der Bewegung ob Drehung oder Linear – sich sowieso aus der Musik ergibt – Beispiel: DiSarli – fließend linear, aus Drehungen fließend, Biagi – trocken – rhythmisch, lokal mit rebotes – wie auch hier üblich. Leider klappt es hier linear nicht so gut, weil DiSarli nicht so oft gespielt und getanzt wird (wahrscheinlich, weil die bei DiSarli typischen 8tel-Synkopen, die i-Tüpfelchen, nicht wahrgenommen werden oder tänzerisch nicht umgesetzt werden können.) Und wenn, dann Tangos des Sextetts von Di Sarli aus den 30er Jahren, die allerdings sehr rhythmisch sind (z.B. Chau Pinela) Im Walzer werden hauptsächlich Drehungen fließend, sie Schritte hingegen Stakkato getanzt, ja Stakkato, weil es ein 6/8tel Tankt ist. Ansonsten auch völlige Übereinstimmung bezüglich Eugenia Parilla und Bühnentanz.