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Gedanken über Tango Unterricht | 12. Teil

Gedanken über Tango Unterricht | 12. Teil

Teil 12: Improvisation im Tango – zwischen Mythos, Missverständnis und  Praxis

In der Tangowelt wird viel gesprochen: über Stilrichtungen, Lehrer, Milongas, Mode, Authentizität und natürlich – Improvisation. Gerade Letzteres scheint ein Dauerbrenner zu sein, bei dem sich viele berufen fühlen, mitzureden. Umso erstaunlicher ist es, wie oft dabei Begriffliches durcheinandergerät. Improvisation wird mit Kreativität verwechselt, mit Ideenreichtum, mit dem Mut, sich „frei“ zu bewegen, manchmal auch einfach nur mit dem Gegenteil von Figurenlernen. Wer nicht „auswendig tanzt“, improvisiert, so das Narrativ. Klingt plausibel – ist aber in der Sache oft ziemlich daneben.

Tango ist ein komplexes Kommunikationssystem. Improvisation darin ist kein Add-on für Fortgeschrittene, kein Künstlertum auf leerem Parkett, sondern grundlegender Bestandteil des sozialen Tanzes. Was ich hier beschreibe, ist keine Polemik gegen bestimmte Blogger oder Lehransätze – sondern eine Einladung, den Begriff „Improvisation“ im Tango endlich eimal gründlich zu analysieren.

„Tango ist Improvisation!“ – das ist einer der meistgehörten Sätze in der Szene. Klingt erstmal gut. Nur: Wenn man sich dann mal anschaut, was auf der Tanzfläche passiert, kriegt man oft einen anderen Eindruck. Und plötzlich melden sich Stimmen, die sagen: „Improvisiert wird kaum noch.“ Oder sogar: „Vielleicht zwei, drei Prozent, wenn’s hoch kommt.“

Beliebte Aussagen – aber stimmen sie?

Solche Aussagen findet man z. B. hier:

Ich möchte ja jetzt nicht behaupten, dass diese Auswahl an Zitaten und deren Autoren eine tänzerische Reputation mitbrächten, aber ich habe sie exemplarisch für unqualifizierte, verbreitete Meinungen hier widerlegt.

Manuela Bößel: „Nach deiner Erfahrung – welcher Anteil der Tangotänzerinnen und Tänzer improvisiert?“ „Zwei bis drei Prozent – hoch gegriffen!“
Auf die 
Frage:  „Wie kann man den Leuten beibringen, zu improvisieren?“ antwortet sie:  „Gar ned.“

Gerhard Riedl: „Bevorzugt wird das langweilige Mittelmaß, welches brav das halbe Dutzend der übliche[n] Schrittkombinationen mithampelt.“

Jochen Lüders: „Ein alter Mythos, dass Tango „kreativ“ sei. Ein Blick auf die Tanzfläche zeigt, wie absurd diese Behauptung ist.“

Quelle: https://helgestangoblog.blogspot.com/2023/09/die-kunst-der-improvisation.html

Ja, das ist provokant. Und leider auch: ziemlich schief. Denn viele dieser Aussagen basieren auf  sehr engen, oft missverstandenen Begriffen von Improvisation im Gegensatz zu Figurenvielfalt, also wie die  beiden letzten Aussagen von Gerhard Riedl und Jochen Lüders. Letztere könnte ich also bestätigen, wenn es im Artikel von Helge Schütt nicht mit Improvisation vermischt worden wäre. 

Improvisation ist nicht: „Ich klatsch einfach lauter Figuren aneinander“

Improvisation ist kein Tanz-Feuerwerk. Es geht nicht darum, wie viele Varianten ich draufhab oder wie ausgefallen mein Stil ist. Improvisation passiert dann, wenn ich im Moment entscheide, was passt – zur Musik, zur Partnerin, zum Raum. Punkt.

Improvisation ist:

    • keine Figurenparade,
    • keine spontane Modul-Show,
    • keine wild zusammengewürfelte Schritt-Mixerei.

Sondern:

    • bewusstes Reagieren auf das Jetzt.

      (Ob dieses Reagieren nun bewusst oder unbewusst genannt werden kann, ist eigentlich eine Frage der Neurowissenschaft – und mit Vorsicht zu betrachten: Bewegungsentscheidungen werden oft vom Kleinhirn getroffen, das zwar mit dem motorischen Cortex zusammenarbeitet, aber auf einer anderen Ebene von Bewusstheit operiert.)

      Erklärung:

      • Das Kleinhirn (Cerebellum) spielt eine entscheidende Rolle bei Bewegungskoordination, Timing und Feinabstimmung, trifft aber nicht isoliert „Entscheidungen“ im kognitiven Sinne.

      • Der motorische Cortex (Teil des Großhirns) ist direkt an der bewussten Planung und Ausführung von Bewegungen beteiligt.

      • Bewegungen, besonders im Tanz, laufen oft teilautomatisiert, aber auf Grundlage bewusster Intention. Das macht den Begriff „bewusstes Reagieren“ im Alltag sinnvoll, auch wenn die neuronale Bewusstseinszuordnung komplex ist.

Improvisation heißt: Ich bin im Moment und handlungsfähig

Ein paar Beispiele:

    • Vor mir bleibt ein Paar plötzlich stehen – ich passe mich an.
    • Die Musik macht eine Pause – ich halte auch an, atme.
    • Meine Partnerin kippt leicht in eine Drehung – ich gehe mit, statt sie auszubremsen.

Das sind keine spektakulären Moves. Aber es ist echte Improvisation.

Denn:

Improvisation ist die Fähigkeit, spontan passend zu entscheiden – nicht, möglichst originell zu sein.

Improvisation braucht Struktur. Sonst wird’s Chaos.

Ein weit verbreiteter Denkfehler: „Wer improvisiert, braucht keine Technik, keine Struktur, keine Figuren.“

Das ist, ehrlich gesagt, Quatsch.

Denn:

    • Wer nichts kann, kann auch nicht auswählen.
    • Wer keine Technik hat, kann nicht fein führen oder zuhören.
    • Wer keine Ahnung vom Raum hat, ist schnell der Buhmann der Ronda.

Improvisation ist nicht das Gegenteil von Vorbereitung. Sie ist das Ziel davon.

Reduktion ist nicht gleich Langeweile

Viele verwechseln Reduktion mit Ideenarmut.

Aber:

    • Wer im engen Raum elegant, ruhig und musikalisch tanzt, improvisiert meist auf hohem Level.
    • Wer aus wenig viel macht – Pausen, Atem, Verbindung – zeigt echte Kontrolle.

Also:

Nicht das Laute, Wilde, Schrille ist improvisiert. Sondern das Stimmige.

Improvisation ist Beziehung, nicht Bühnenkunst

Diese Idee vom improvisierenden Tangohelden, der einsam auf leerem Parkett seiner Kreativität freien Lauf lässt, mag schön klingen. Ist aber fern von der Praxis.

Denn:

    • Tango ist kein Solotanz.
    • Tango ist kein Wettbewerb.
    • Tango ist soziale Kommunikation in der Ronda.

Improvisation ist also:

    • achtsam,
    • beziehungsbezogen,
    • reaktiv, nicht aktivistisch.

Was bedeutet das für den Unterricht?

Statt immer neue Figuren zu servieren, sollte Unterricht helfen, die eigenen Möglichkeiten im Moment zu erkennen:

    • Was kann ich stattdessen machen?
    • Wie kann ich unterbrechen?
    • Wann lasse ich bewusst weg?

Improvisation muss geübt werden wie alles andere. In kleinen Dosen. In sicherem Raum. Ohne Erwartungsdruck.

Meine eigenen Erfahrungen: Improvisation ist lernbar

Ich habe selbst die Erfahrung gemacht: Es geht. Und zwar nicht mit noch mehr Figuren, sondern mit dem Gegenteil. Zwei Dinge haben mir besonders geholfen:

„100% Improvisation“-Workshops

      • Keine Figuren, keine Abläufe.
      • Nur: „Geh mal los, atme, hör zu.“
      • Klingt simpel. Ist verdammt schwer. Aber Augenöffnend.

Mauricio Castros „Die Struktur des Tangos“

      • Systematischer Zugang zur Improvisation.
      • Wie aus einfachen Elementen unendliche Möglichkeiten entstehen.
      • Kein dogmatischer Baukasten, sondern echte Tanzsprache.

Das war für mich der Schlüssel. Plötzlich wurde klar: Improvisation ist kein Talent, sondern ein Handwerk. Und wie bei jedem Handwerk braucht es Werkzeuge, Übung, Geduld und den Mut, Fehler zu machen.
Also wurde auch Manuela Blößels Antwort: „Gar ned.“ auf die Frage: „Wie kann man den Leuten beibringen, zu improvisieren?“  hiermit 
widerlegt.

Fazit

Improvisation ist:

    • kein Prädikat für Genies,
    • kein Synonym für Variantenreichtum,
    • kein Ersatz für Technik.

Sondern:

    • eine Haltung,
    • eine Reaktion,
    • eine ganz alltägliche Praxis auf dem Parkett.

Und deswegen:

Nicht nur zwei, drei Prozent improvisieren. Sondern fast alle – nur merken sie’s nicht, weil man ihnen nie gesagt hat, was Improvisation eigentlich ist.

Man achte also auf die Begrifflichkeiten: Dass nämlich allgemein eine relative Armut an möglichen, tänzerischen Variationen auf den Tanzpisten zu beobachten ist, ist eine andere Sichtweise und hat mit „Improvisation-Armut“ nichts zu tun.

PS: 

Besonders absurd ist also Manuela Bößels (Name korrigiert) Aussage, wenn sie sagt: „Nach deiner Erfahrung – welcher Anteil der Tangotänzerinnen und Tänzer improvisiert?“ „Zwei bis drei Prozent – hoch gegriffen!“

Vermutlich beruht diese Aussage auf der irrigen Einschätzung,  dass sie nur sich selbst, ob als  Partnerin mit Gerhard Riedl oder mit anderen Tanzpartnern,  zu den 2-3% der Tänzer zählt, die wirklich improvisieren würden. Obwohl dies nur eine Mutmaßung ist, kann ich sie damit begründen, dass Manuela Bößel wohl kaum ihren eigenen Tanz als „improvisationsfrei“ bezeichnen würde. Ich kann ihre Tanzkenntnisse nur anhand dieses Video mit ihr und Gerhard Riedl beurteilen und dieses bestätigt meinen Satz: Improvisation braucht Struktur. Sonst wird’s Chaos.  

Und das, was ich dort sehe, ist allerdings ein ziemliches Chaos. 

Also wieder mal eine Meinung auf dem Niveau: „2-3% Geisterfahrer? Nein, 97-98%!

3 thoughts on “Gedanken über Tango Unterricht | 12. Teil

    • Author gravatar

      Da Gerhard Riedl wohl nicht mehr selbst in der Lage ist, inhaltlich plausible Artikel aus dem Bereich „Tango“ zu schreiben, schreibt er mittlerweile ganze Artikel ab, oder kopiert sie per Cut&Paste, setzt seine übel riechenden Marken dazu und formuliert darunter einen Wunsch nach Zusammenarbeit.
      https://milongafuehrer.blogspot.com/2025/06/riedls-wundersame-wendlung.html
      Da er seine Satire nur selbst decodieren kann, weiß man nie so richtig, ob er sich das wirklich wünscht. Wenn ja, wäre das mutig, denn dann würde er ja die gesamte Spannung seines Blogs – der ja inzwischen sowieso völlig auf meinen ausgerichtet ist – verlieren. Denn nichts ist langweiliger als Harmonie. Wahrscheinlich soll dabei so etwas herauskommen wie „Augstein & Blome“, die sich in einem Auto durch Berlin kutschierend, über Alltagspolitik „herumfetzen“. Dabei sehen aber beide nicht sehr gut aus.
      Lassen wir’s dabei, Gerhard! Du schreibst weiterhin Deinen Schrott und ich bleibe bei sachlichen Beiträgen.
      Die darfst Du dann gerne – bitte sachlich oder genauso „knöchern“ – widerlegen oder loben, denn Deine Satire versteht sowieso keiner mehr. Denn Satire, Gerhard, lebt davon, dass der Leser noch erkennt, wo der Ernst aufhört und der Spott beginnt. Wenn das verschwimmt, wird sie zur Nebelmaschine – oder zum Selbstzweck. Und da hilft dann auch kein Duftbäumchen mehr. Statt vom Kenntnisreichtum anderer profitieren zu wollen, solltest Du Dir selbst mal die Mühe machen und lernen, und zuhören. und lesen usw.

    • Author gravatar

      Sehr schöne Übersicht zum Thema Improvisation, die Punkte kann ich aus eigener Erfahrung nur bestätigen.

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