Einsichten
Gedanken über Tangounterricht | 4. Teil

Gedanken über Tangounterricht | 4. Teil

Wie das Gehen zum Tanz wird

Es gibt, glaube ich, nichts, was mich beim Tango lernen – und unterrichten – so sehr beschäftigt hat wie das „Gehen“.

Soll doch die Grundbewegung beim Tangotanzen aus dem scheinbar Einfachsten bestehen.
Einfach? Nein. Denn wenn man den Sinn des „Gehens“ nicht versteht, wird daraus genau das, was man auf deutschen Tango-Pisten leider allzu oft beobachten kann: langweiliges Herumlatschen – ohne jeglichen tänzerischen Esprit.

Und das liegt wohl an der Deutung des Wortes „Gehen“.

Ich wage in diesem Blogartikel eine kleine Analyse. Mancher Leser mag sich fragen, ob einige Punkte nicht zu banal und selbstverständlich erscheinen. Sind sie aber nicht!

Die alltäglichste Bewegung wird zur schwersten Übung

 Woran liegt das eigentlich?

Wir beobachten gute Tanzpaare – und sie scheinen das Gehen so mühelos und selbstverständlich zu tun wie wir im Alltag. Scheinbar! Denn dahinter steckt jahrelanges Training. Warum sieht es bei diesen Paaren so klar und unmissverständlich aus? Ich versuche mal das zu erklären.
Der Grund für die Komplexität des Gehens im Paar ist wohl auch, dass der Führende 4 Beine integrieren muss.

Gehen – als Fortbewegung

Im Alltag dient Gehen der Fortbewegung, dem Weg von A nach B. Wir stehen – viele sogar den ganzen Tag – wir bewegen uns in alle Richtungen, ohne bewusst darüber nachzudenken. Es ist uns buchstäblich in die Gene geschrieben.

Erstaunlich fand ich den Test eines Kinderarztes, der den Gehreflex meiner Tochter prüfte, als sie gerade vier Wochen alt war:
Er stellte sie auf den Tisch, hielt sie an der Brust, setzte ihre Füße auf die Tischfläche und neigte sie leicht nach vorn. Und siehe da – meine winzige Tochter begann tatsächlich mit einer Art Gehbewegung. Genauer: Sie versuchte, sich durch das Gehen vor dem drohenden Fallen zu retten.

Als sie dann etwa ein Jahr später ihre ersten freien Schritte machte – nach wochenlangem Üben des Stehens auf zwei Beinen, unzähligen Stürzen und Balanceversuchen – machte sie sich auf den Weg zu einem Spielzeug auf der anderen Seite des Raumes.
In der Mitte des Raumes erschrak sie, stellte fest, dass das oft Halt gebende Tischbein fehlte – und fiel. Elinas erste Schritte.

Diese Erinnerung ist mir geblieben – wie wohl jedem stolzen Vater.
Aber aus dieser Beobachtung habe ich einige Schlüsse über das Gehen gezogen:
Gehen im Alltag – etwa auf der Straße – ist oft, bewegungstechnisch betrachtet, ein kontrolliertes „Nicht-Fallen-Wollen“.

Ein Ziel, ein Impuls zieht unseren Blick – und damit den Körper – dorthin. Die Beine und Füße folgen. Alles geschieht meist unbewusst.
Kurz: Der Körper folgt einem gedachten Ziel. Die Beine folgen dem Körper. Dabei löst sich das jeweilige Spielbein mit entspannt gebeugtem Knie aus dem Becken, der Unterschenkel folgt weich, bis das Bein nahezu gestreckt ist – und der Fuß genau dorthin fällt, wo der Körper den Gewichtstransfer unmittelbar und im Gleichgewicht übernehmen kann. Dieser Gehreflex scheint angeboren zu sein. Nur bei unebenem Boden tastet der Vorderfuß. 

Beim Spazierengehen hingegen ist das Gehen nicht unbedingt zielgerichtet – sondern ein beiläufiges Schlendern, oft im Gespräch mit anderen.

Damit kommen wir dem Gehen im Tango schon näher – aber eben nur näher.
Denn beim Tango geht es nicht um Fortbewegung. (Auch wenn das einige Showtänze suggerieren – was jedoch oft mit Dynamik verwechselt wird.)

Gehen – beim Tangotanzen

Das Wort „Gehen“ suggeriert Fortbewegung.
Aber ist es beim Tango wirklich unser Ziel, möglichst effizient von A nach B zu kommen?
Wohl kaum – oft fehlt dazu schon der Platz.

Worum geht es also? Natürlich: um die Musik.

Wir setzen die Füße zur Musik – im Timing der Musik, rhythmisch, fließend, manchmal als räumliche Interpretation der Melodie – jedenfalls immer musikalisch.

Da wir im Tango – anders als z. B. im Ballett – umarmungs-bedingt keine Ausdrucksmittel mit Armen und freiem Oberkörper haben, drücken wir unsere musikalische Interpretation durch das Platzieren unserer Füße aus. Und zwar im unmittelbaren Raum des Partners – um ihn herum, gemeinsam oder konträr gerichtet, wie in der molinete.

Das Motiv:
Beim Tango setzen wir unsere Füße zur Musik – nicht, weil wir irgendwo hin wollen.

Ein Eindruck von „Gehen“ beim Tangotanzen entsteht, wenn die Füße in aufeinanderfolgender Reihenfolge – abwechselnd mit rechtem und linkem Bein – in eine Richtung im richtigen Timing der Musik gesetzt werden. 
Natürlich körpergeführt, das bedeutet, der Rumpf wird natürlich mitgenommen. Die Füße werden also viel direkter gesetzt, als beim Gang auf der Straße. 

Klingt banal – ist aber nicht. Denn es bedeutet in der Konsequenz etwas völlig anderes als das Gehen auf der Straße. Einer der häufigsten Fehler im Tango besteht darin, dass die Bewegung zuerst aus dem ist Oberkörper initiiert wird – statt vom Spielbein auszugehen. So wird das Gehen häufig zu einem rhythmischen Fallen.

Die Grundidee hat eine enorme Wirkung auf die Art, wie wir uns bewegen: Die Schritte werden projiziert, oft unterschiedlich, je nach Intention – bei Sacadas mehr, im Normalschritt weniger. 

Mein Vorwurf:
Warum wird beim Tangounterricht oft zuerst das
Wie, nicht das Was unterrichtet?

Wenn ein Tanzschüler etwas tun soll, sollte er zuerst wissen, wozu die Bewegung eigentlich dient. Was ist ihre Funktion? Was ist ihr „Wesen“?

 

Unter diesem Gesichtspunkt lohnt es sich, gute Tänzer*innen genauer anzuschauen:

Videobeispiele

Film: Tango Bar

    • Tanz 1: Tito Lusiardo (Partnerin leider unbekannt)
    • Tanz 2: Carlos Gardel & Rosita Moreno,  

Musik: Tiempos Viejos, Canaro

Bemerkenswert an dieser Szene ist: Zwei Tänzer, zwei völlig unterschiedliche Stile.

Tito Lusiardo: katzenartige Sprünge, fast wie im Messerkampf.
Carlos Gardel: klar gesetzte Schritte – unterhalb der Gürtellinie ein Macho, der sein Revier markiert, während er lächelnd seine Partnerin bezirzt.

Auffällig: Er setzt seine Füße ganz bewusst im Stakkato auf – als wollte er sie einzementieren.

Tanz: 

Carlos Espinosa & Noelia Hurtado 

Musik: Solo Tango Orquesta

„La Tupungatina“ – Osvaldo Pugliese

Carlos‘ Schritte sind eindeutig dem markanten Grundtakt Puglieses angepasst:
Maschinenhaft, kühl, wuchtig – La Yumba-artig.
Noelias brillante, filigrane Fußarbeit korrespondiert genau mit dem Pizzicato der Geige.

Tanz: Chicho Frumboli & Moira Castellano | Musik: „Don Juan“ – Carlos Di Sarli

Hier ist zu sehen, wie Chicho und Moira praktisch die ganze Musik verkörpern – Melodie, Rhythmus, Synkopen.
Fast scheint es, als hätte Di Sarli eine Partitur für sie geschrieben.

Chichos Stil ist eigenwillig – weit entfernt vom umarmungsorientierten mundial-Stil.
Aber seine hochmusikalische Umsetzung bleibt beeindruckend.
Seine Füße wirken fast wie Perkussion – nicht sehr elegant, aber äußerst funktional.

Gehen im Paar – auf einer Milonga-Tanzfläche 

Da der Raum auf der Tanzfläche begrenzt ist, können die Schritte oft nicht linear ausgeführt werden.
Man steht, wartet, bis die Ronda fließt. Die Schritte werden kleiner – aber sie müssten nicht langweilig werden.

Oft behindern eine falsch verstandene enge Umarmung und eine suboptimale Haltung ein dynamisches Tanzen.
Ich habe Paare gesehen, die in engster Umarmung hochkomplex auf kleinstem Raum tanzten.
Warum das funktioniert?
Weil ihre Körperhaltung – insbesondere die Organisation des Beckens – stimmt.

Das Becken wird zwar nicht nach hinten herausgestreckt, aber bleibt in der hinteren Rückenlinie integriert. Gustavo Naveira hat mal den Stand im Tango mit Sitzen verglichen.
So kommt es zu keiner Kollision im Paar – und der gemeinsame Tanzraum öffnet sich leicht.
Drehungen werden leichter. Auch der Raum für andere Paare wird respektiert.

Gehen zur Musik

Viele Tänzerinnen haben vielleicht einmal in einem Workshop zum Thema Musikalität den Unterschied zwischen Stakkato- und Legato-Schritten kennengelernt.
Hier bekommt das „Gehen“ eine an die Musik angepasste Qualität.

Es macht einen erheblichen Unterschied, ob wir D’Arienzo oder Di Sarli interpretieren:
Während wir bei D’Arienzo mit kleineren, schnelleren, rhythmischeren Schritten tanzen, interpretieren wir Di Sarli mit längeren, ruhigeren, weicheren und fließenderen Bewegungen – möglichst ohne Rebotes (außer bei gezielten Synkopen).

Doch in beiden Stilen bewegt sich die Längsachse des Paars fließend durch den Raum, während Beine und Füße den Charakter der Musik zum Ausdruck bringen: stakkato oder legato – verbunden, gehalten, gebunden.
Hohe Kunst!
Manchmal wirkt das Paar wie ein Instrument, das ganze, halbe, Viertel- oder Achtelnoten tanzt – präzise gemäß dem Rhythmus der Musik.

Wer kann das schon?

Der Unterschied liegt oft im Achswechsel, im getimten Gewichtstransfer – oder darin, wie lange die Folgende auf einem Bein balanciert.

Leider tanzen viele Paare – vor allem auf engem Raum – überwiegend mit rhythmischen Rebotes, in einem dauerhaften Stakkato.
Fließende Drehungen um die gemeinsame Paarachse sieht man kaum, obwohl gerade diese Bewegungen für musikalisch getragene Phrasen so geeignet wären.

Ist das vielleicht der Grund, warum Musik auf Milongas oft in schnellem Rhythmus und weniger melodiebetont gespielt wird?

Ein gutes Beispiel: 

Trotz enger Umarmung fließende Bewegungen.

Tanz:
Edwin Espinosa y Alexa Yepes 

Musik:

Tus Labios Me Diran · Carlos Di Sarli

Fazit:

Gehen im Tango ist keine Fortbewegung.
Es ist Ausdruck. Es ist musikalischer Dialog.
Es ist Kommunikation – mit sich selbst, mit dem Partner, mit der Musik und mit dem Raum.

2 thoughts on “Gedanken über Tangounterricht | 4. Teil

    • Author gravatar

      Lieber Klaus, ich danke dir für die interessante Serie über Tangounterricht.
      Ich möchte jetzt nur eine Sache kommentieren, nämlich die anscheinend unausrottbare Verknüpfung von D’Arienzo bzw. Di Sarli mit Stakkato bzw. Legato. Die beiden Orchester haben unterschiedliche Stile, aber der Unterschied liegt nicht darin, dass D’Arienzo Stakkato spielen würde und Di Sarli Legato. Beide machen beides, und zwar in jedem Stück. Die Art, wie sie die beiden Artikulationen gestalten, ist natürlich unterschiedlich. Aber Di Sarli hat z.B. selbst in seinen romantischsten, sahnigsten Stücken immer auch kerniges Stakkato drin. Bestes Beispiel dafür ist das von dir weiter oben verlinkte geniale Video zu Don Juan mit Chicho und Moira – das ist ja gerade (unter anderem) ein Lehrstück über Stakkato und Legato, und Chicho tanzt darin mehr Stakkato als Legato. Umgekehrt hör dir mal Gallo ciego von D’Arienzo 1937 an, da wechseln sich ziemlich extrem Stakkato und Legato ab, und manchmal erklingen sie gleichzeitig (so wie auch bei Di Sarli), z.B. ab 0:54, woraus sich schöne Ideen für die Gestaltung im Paar mit verteilten Rollen ergeben können.

      • Author gravatar

        Liebe Theresa,
        Du hast natürlich teilweise Recht. Natürlich sind viele Teile bei DiSarli Stakkato und Teile von D’Arienzo Legato. Tanz- und Schritttechnisch! Allerdings erscheint die Musik für Hörer wie beschrieben: der rhythmische D’Arienzo/Biagi schnell, etwas trocken, Violine weich. „EL INCENDIO“. DiSarli „Re Fa Si“ fließend, aber akzentuiert, aber hier eher nicht Stakkato. Naja, eben von Stück zu Stück eher akzentuiert, weniger Stakkato.
        Vor allen Dingen bei DiSarli die Achtel-Synkopen sehr akzentuiert. Ich werde auf Deinen Hinweis reagieren und den Text nochmal korrigieren, ich hatte ihn vor einem Jahr geschrieben und ihn jetzt erst wieder rechtschreiblich korrigiert und dabei leider nicht inhaltlich überarbeitet.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..

Diese Seite verwendet Cookies, um die Nutzerfreundlichkeit zu verbessern. Mit der weiteren Verwendung stimmst du dem zu.

Datenschutzerklärung