
Gedanken über Tango Unterricht | 14. Teil
Teil 14: „Selber machen“ reicht nicht – warum Tango ohne Expertise oft im Chaos endet
Lernen heißt nicht improvisieren
Es gibt dieses romantische Bild vom argentinischen Milonguero, der nie einen Kurs besucht hat, aber magisch tanzt, einfach, weil er jahrelang in der Milonga gesessen und zugeschaut hat. Der Mythos vom instinktgetriebenen Genie, das durch „reines Erleben“ den Tango aufsaugt – ohne Lehrer, ohne Unterricht, ohne Technik.
Aber so war es viellicht in früheren Zeiten so, als der Tango entstand, aber nicht mehr in den letzten 40 Jahren.
Schon gar nicht in Buenos Aires.
Daniel Trenner, einer der wichtigsten Brückenbauer zwischen der argentinischen und internationalen Tangoszene, hat das sehr treffend beschrieben. Lernen in Argentinien passiert dreifach: kulturell durch das Umfeld, beobachtend durch stundenlanges Zuschauen – und ganz konkret durch Unterricht.
„Indem er zu einem Lehrer geht wegen dessen speziellen Vokabulars von Schritten und seiner stilistischen Präferenz…“
Tango wird dort nicht „rein intuitiv“ gelernt – sondern in einem durch soziale und kulturelle Vorbereitung angereicherten Lernumfeld. Und dann sehr wohl auch durch gezieltes Training mit Lehrer*innen.
Was bei uns oft fehlt, ist genau dieser Unterbau. Niemand wächst hier mit Tangomusik, Codigos oder Milongas im Wohnzimmer auf. Umso mehr brauchen wir strukturierte Anleitung, klare Konzepte und erfahrene Lehrer*innen, die diesen Mangel auffangen.
Und trotzdem hält sich bei uns die Idee, man könne einfach „in der Gruppe lernen“. In freien Übungsformaten wie Prácticas zeigt sich aber regelmäßig, wie schwierig das tatsächlich ist. Die meisten können nicht einmal das Kursthema eigenständig wiederholen. Statt sich gezielt mit dem Inhalt zu beschäftigen, wird „einfach getanzt“. Ohne Plan, ohne Fokus – und vor allem: ohne Richtung.
Geübt wird dann meist das, was ohnehin schon unfertig ist – und das dann unkontrolliert und unreflektiert. Die guten Vorsätze („Lass uns mal an der Drehung arbeiten“) lösen sich nach zwei Minuten in improvisiertem „Herumprobieren“ auf. Kaum jemand beobachtet, analysiert oder gibt Feedback. Ganz, ganz selten entsteht aus Zufall eine kleine Interaktion, bei der man sich gegenseitig hilft. In der Regel ist jeder mit sich selbst beschäftigt.
Eine gute Práctica braucht Anleitung. Sonst ist sie keine Übungszeit, sondern eine Milonga in Jogginghosen. Und das ist schade – denn gerade dieser Zwischenraum zwischen Unterricht und Tanzfläche hätte enormes Potenzial. Aber nur, wenn jemand hilft, ihn auch zu strukturieren.
Darum geht’s im folgenden Text:
Es klingt erstmal nach einer herrlich demokratischen Idee: Lasst uns Tango einfach gemeinsam lernen. Ohne Lehrer. Ohne Frontalunterricht. Ohne jemanden, der einem sagt, was richtig oder falsch ist. Stattdessen: ein lockerer Raum, in dem sich alle gegenseitig was zeigen, Erfahrungen austauschen, voneinander lernen. Workshops im „ursprünglichen Sinne“, wie man manchmal hört. Klingt sympathisch, oder? Ist es auch – auf dem Papier.
In der Praxis wird daraus leider oft: Planloses Herumgewusel.
Romantik statt Realität
Natürlich hat die Vorstellung etwas Verlockendes. Niemand will mehr wie in der Schule belehrt werden. Man will keine trockenen Anweisungen, sondern ein bisschen Freiheit, ein bisschen Flow, vielleicht sogar einen kleinen Tango-Woodstock: alle tanzen, experimentieren, inspirieren sich gegenseitig.
Aber machen wir uns nichts vor: So funktioniert Lernen in den allermeisten Fällen nicht – und schon gar nicht im Tango.
Denn Tango ist kein Baukasten, den man sich mit ein bisschen gesundem Menschenverstand zusammenstecken kann. Es ist eine komplexe Körperkunst, bei der feinste technische Abläufe, Musikalität und Körperspannung zusammenspielen müssen – oft auf Millimeter genau.
Tango-Unterricht ist kein Vortrag
Ein weitverbreitetes Missverständnis: Tango-Unterricht sei einseitig – der Lehrer doziert, die Schüler „konsumieren“. Aber so läuft es nicht.
Guter Unterricht bedeutet: Die Lehrperson zeigt etwas, die Lernenden versuchen es zu verstehen, körperlich umzusetzen, zu fühlen. Und aus dem, was dabei passiert, entstehen neue Fragen, neue Aufgaben, neue Wege. Es ist ein Prozess – und zwar hoch interaktiv.
Klar, da gibt’s auch mal eine Erklärung. Aber was wirklich zählt, ist das Tun: Der Körper lernt durch Wiederholung, Korrektur, Feedback. Die Konzentration liegt auf der Bewegung, der Partnerverbindung, dem Takt. Und während das passiert, entsteht etwas: Verständnis durch Erfahrung – Learning by Doing, aber eben strukturiert, fokussiert und angeleitet.
Das ist nicht mit dem Herumprobieren in einer ungeführten Gruppe zu vergleichen, wo sich jeder auf sein eigenes Körpergefühl verlässt (und oft in die Irre läuft).
Tango lernt man nicht durch Reden – aber auch nicht durch reines Improvisieren. Es braucht eine Struktur, innerhalb der man gezielt an Dingen arbeitet.
Das Auge sieht nicht alles – und schon gar nicht richtig
Ein beliebter Irrtum: „Ich hab das doch gesehen, das mach ich einfach nach!“
Tango funktioniert aber nicht wie IKEA.
Viele technische Feinheiten sieht man nicht, wenn man sie nicht schon kennt. Oder man sieht sie – aber falsch. Man denkt: „Ah, er dreht da aus der Hüfte“, dabei war es in Wirklichkeit ein subtiler Gewichtswechsel mit aktiver Fußarbeit und isolierter Oberkörperrotation. Und wenn man dann das Falsche nachmacht, fühlt es sich im besten Fall komisch an. Im schlimmsten Fall schleift man sich über Monate Bewegungsmuster ein, die einen komplett blockieren.
Das Tragische: Man merkt es selbst gar nicht.
Gruppen ohne Leitung – nette Idee, oft schlechtes Ergebnis
In sogenannten freien Gruppen oder Peergroups passiert dann oft genau das:
Jemand erklärt, was er „mal irgendwo gelernt“ oder „gefühlt“ hat, die anderen probieren’s, interpretieren’s weiter, und nach drei Runden weiß niemand mehr, was eigentlich gemeint war. Jeder bastelt sich seine eigene Version zusammen – klingt nach Freiheit, ist aber häufig: chaotisch, unklar und frustrierend.
Das ist wie eine Kochgruppe, in der keiner richtig kochen kann, aber jeder schon mal ein Rezept gelesen hat.
Ohne jemanden, der sagt: „Stopp, so funktioniert das nicht – hier ist der Drehpunkt, da gehört die Achse hin, das ist dein Timing“ – kommt man einfach nicht weiter. Zumindest nicht gezielt.
Und: Es gibt keine Qualitätskontrolle. Kein Feedback, ob etwas wirklich funktioniert oder nur irgendwie durch Zufall klappt.
Didaktik ist kein Luxus, sondern Notwendigkeit
Guter Tango-Unterricht besteht nicht nur aus ein paar Anleitungen. Dahinter steckt im Idealfall eine didaktische Struktur: Was kommt wann? Wie baue ich Grundlagen auf? Wo müssen die Schüler*innen zuerst Klarheit haben, bevor sie den nächsten Schritt verstehen können?
Das Problem ist: Viele unterschätzen, wie viel Erfahrung, Reflexion und auch Psychologie in gutem Unterricht stecken.
Ein Lehrer oder eine Lehrerin kann nicht nur tanzen – sie können auch erklären. Sie können beobachten. Sie sehen, was fehlt, und können auf verschiedenen Wegen dorthin führen. Und: Sie filtern Informationen. Sie verhindern, dass man sich in Nebensächlichkeiten verliert.
Denn mal ehrlich: Wie viele Stunden haben wir alle schon damit verbracht, an Dingen zu basteln, die am Ende gar nicht relevant waren?
Anfänger wissen oft nicht, was sie brauchen
Ein oft gehörter Vorschlag ist: „Man sollte sich selber überlegen, was man lernen will!“
Klingt mündig – ist aber bei Anfängern meistens unrealistisch.
Denn man kann seine Schwächen nicht benennen, wenn man noch gar kein Bild davon hat, was gut ist – geschweige denn, wie man dahin kommt.
Was sich „gut anfühlt“, ist nicht immer gut.
Was schön aussieht, ist nicht immer technisch sauber. Was „läuft“, ist oft nur Improvisation über eine Baustelle.
Gerade am Anfang braucht man jemanden, der sagt: „Schau, das ist die Basis – und da kommst du gerade nicht weiter, weil deine Achse nicht stabil ist.“ Oder: „Du hörst auf die Melodie, aber dein Timing folgt nicht dem Takt.“
Solche Analysen kommen nicht durch Rumprobieren zustande – sondern durch erfahrene Augen und Ohren.
Freiheit ja – aber mit Struktur
Das heißt nicht, dass man sich blind dem Unterricht ausliefern soll. Im Gegenteil: Wer bewusst lernt, reflektiert, fragt, auch mal hinterfragt, lernt oft besser. Aber das braucht eben ein Gegenüber, das weiß, wovon es spricht.
Selbstorganisation funktioniert dann gut, wenn sie auf einem soliden Fundament steht.
Übrigens: Wer sich in freien Gruppen wohlfühlt, soll sie gerne nutzen – ergänzend. Zum Wiederholen, Ausprobieren, Austausch. Aber als Hauptweg des Lernens? Dafür fehlt meistens die Orientierung.
Fazit: Tango ist zu komplex für Trial & Error
Es ist völlig okay, sich inspirieren zu lassen, mit anderen zu tanzen, zu tüfteln, zu entdecken. Das gehört zum Tango dazu.
Aber bitte unterschätzt nicht, wie viel Know-how in einem funktionierenden Tanzpaar steckt – und wie wichtig gute Lehrer*innen sind, um dorthin zu kommen.
Tango ist kein Hobby für Schnellbaukästen.
Es ist eher wie ein Instrument – du kannst es nicht „aus dem Gefühl heraus“ lernen, wenn du nicht irgendwann auch Tonleitern übst und jemanden hast, der dich auf falsch gegriffene Töne hinweist.
Romantik ist schön. Aber wer wirklich tanzen will, braucht auch ein bisschen Realitätssinn.
6 thoughts on “Gedanken über Tango Unterricht | 14. Teil”
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Gerhard Riedl hat einen neuen Beitrag über diesen Artikel geschrieben:
https://milongafuehrer.blogspot.com/2025/07/chaos-ohne-expertise.html
Obwohl ich meinen Blog „Riedl-frei“ machen wollte und alle Bezüge auf ihn aus meinem Blog schon gelöscht hatte, möchte ich nun den „Deckel drauf“ machen und meinen letzten Kommentar zu diesem leidigen Thema Gerhard Riedl – den ich eigentlich für einen Narzissten halte – (das zum Thema Meinungsfreiheit) schreiben:
Abschließende Anmerkung zur „Gegenrede“ von Gerhard Riedl
Gerhard Riedl hat also erneut reagiert – mit einem Text, der weniger auf Argumente eingeht als auf persönliche Spitzen, Verdrehungen und lässige Polemik. Statt sachlich zu diskutieren, weicht er aus, wechselt das Thema, unterstellt, zitiert mich nicht wörtlich, sondern mit eigenen Worten falsch, verdreht meine Aussagen, parodiert – und liefert keine einzige ernstzunehmende Antwort auf die zentralen Fragen meines Artikels.
Die Frage nach methodischer Anleitung, strukturiertem Lernen, körperlicher Kompetenzvermittlung, didaktischer Verantwortung – alles bleibt unbeantwortet. Dass Prácticas ohne Anleitung ins Leere laufen können, dass viele Anfänger schlicht nicht wissen, was sie brauchen, dass Tango komplex ist und Erfahrung erfordert – dazu kommt nichts Substanzielles. Kein Konzept. Keine Alternative. Nur Hohn, Anekdoten und das übliche: Ich, ich, ich.
Das überrascht nicht. Riedl hat in all seinen Texten nie ernsthaft seine Thesen über Lehr- und Lernprozesse beim Tango belegt. Seine Kritik an Tango-Unterricht wird nicht erfahrungsbezogen durch eigene Tango-Unterrichtstätigkeit untermauert und deshalb fachlich fundiert, beruht nur auf eigenen, schlechten Erfahrungen mit mäßigen Lehrern, sind also nur ideologisch motiviert – getragen von einem tiefen Misstrauen gegenüber Expertise. Wer sein ganzes Denken darauf aufbaut, anderen die Kompetenz abzusprechen, muss natürlich alle ablehnen, die sie tatsächlich haben.
Der Vorwurf mangelnder Diskursbereitschaft trifft in diesem Fall nicht – weil es gar keinen Diskurs gibt. Ein Diskurs setzt voraus, dass beide Seiten an einer Klärung interessiert sind. Riedl geht es nicht um Klärung, sondern ums Rechtbehalten.
Darum ist es auch müßig, weiter auf ihn einzugehen. Wer sich inhaltlich nicht auf ein Thema einlässt, sich immer wieder ins Persönliche rettet und vor allem sich selbst ins Zentrum rückt, diskreditiert sich als Gesprächspartner von allein. Das hat nichts mit Meinungsvielfalt zu tun, sondern mit Anstand – und der fehlt hier ganz offensichtlich.
Ich sehe daher keinen Grund, mich weiter mit Herrn Riedl zu befassen. Sein Beitrag zum Thema Tango-Unterricht ist erschöpft. Der Erkenntnisgewinn: gleich null.
Um ganz offen zu sein, halte ich persönlich viele seiner Beiträge über den Tango als Tanz, seine Ratschläge über in Milongas zu spielende Musik und auch viele andere Aussagen für absoluten Schwachsinn.
Natürlich bin ich mir bewusst, dass solche Aussagen polemisch wirken und in einem Diskurs nichts zu suchen haben, aber den ehrlichen Diskurs bin bisher nicht ich, sondern ist Gerhard Riedl schuldig geblieben.
Und wer die Artikel von Gerhard Riedl wirklich noch nach diesen vielen Offenlegungen seines Charakters, seiner Rechthaberei noch ernst nimmt, dem ist einfach nicht zu helfen. Denn ein bisschen Blog-Folklore über unterschiedliche Tango-Musikgeschmäcker und autonomes „Tango-lernen-mit -vor-sich-hin-bröseln“ auf dem tänzerischen Niveau von Gerhard Riedl machen noch keine Expertise aus.
Die Antwort auf die Frage, woher er das Fundament seiner Diskurs- und Urteilsfähigkeit über Tango-Unterricht und über eine ganze Berufsgruppe eigentlich bezieht, ist Gerhard Riedl nach einer ernsthaften Nachfrage eines Kommentators schuldig geblieben – er verweigert sie nach wie vor.
(Horst Soltau in der Kommentarspalte: https://milongafuehrer.blogspot.com/2025/07/schon-wieder-ein-kommentar.html)
Man muss ihn also nicht widerlegen – man muss ihn einfach stehen lassen.
Sein Text spricht für sich. Und leider auch gegen ihn.
Im Übrigen kann ich das, was manche Leser bei Riedl vielleicht für Argumente halten, nur als reinen „Sophismus“ bezeichnen.
Hier eine Erklärung, damit man versteht was ich meine:
Ein Sophismus ist eine Argumentation, die zwar logisch korrekt erscheinen mag, aber aufgrund einer versteckten oder unzulässigen Schlussfolgerung zu einem falschen Ergebnis führt. Es ist eine Art Trugschluss, der oft dazu dient, eine bestimmte These zu beweisen oder eine andere zu widerlegen, ohne dabei faire und korrekte Mittel zu verwenden.
Bedeutung und Verwendung:
Trugschluss:
Ein Sophismus ist ein bewusster oder unbewusster Fehler in der Argumentation, der dazu führt, dass eine falsche Aussage als wahr erscheint.
Scheinbeweis:
Er wird oft als Scheinbeweis bezeichnet, da er zwar logisch aufgebaut sein kann, aber auf falschen Prämissen oder einer unzulässigen Schlussfolgerung basiert.
Spitzfindigkeit:
Der Begriff kann auch eine übertriebene oder unnötige Spitzfindigkeit in der Argumentation bezeichnen, die dazu dient, den Gesprächspartner zu verwirren oder zu täuschen.
Abwertung:
In der Regel wird der Begriff negativ verwendet und steht für eine argumentative Praxis, die nicht auf der Suche nach Wahrheit, sondern auf der Durchsetzung einer bestimmten Position basiert, auch wenn diese falsch ist.
Sophisten:
In der Antike waren die Sophisten Lehrer, die gegen Bezahlung rhetorische Fähigkeiten und argumentative Techniken lehrten.
Ihre Methoden wurden oft kritisiert, da sie manchmal dazu dienten, eine Aussage zu beweisen, unabhängig davon, ob sie wahr oder falsch war.
Der Begriff „Sophismus“ ist eng mit der Figur des Sophisten verbunden und steht für eine bestimmte Art der Argumentation, die oft als trügerisch oder manipulativ angesehen wird. Sophisten geht es oft garnicht um die sachliche Auseinandersetzung, sondern darum, Recht zu behalten.“
Noch ein Gedanke zum Schluss:
Selbstüberschätzung ist in der Tango-Szene leider kein seltenes Phänomen – im Gegenteil: Wir alle kennen Leute, die Meinung mit Wissen verwechseln. Gerade im Tango, wo viele glauben, durch bloßes Beobachten oder Mitreden Expertise erworben zu haben, entstehen schnell Irrtümer, die dann selbstbewusst als Wahrheit verkauft werden.
Dass nun auch jemand wie Herr Riedl meint, ausgerechnet über Tango-Unterricht aufklären zu müssen – ohne methodische Erfahrung, ohne praktische Lehrpraxis, ohne jede didaktische Kompetenz –, ist insofern kein Einzelfall, sondern fast folgerichtig. Dass er dabei auch noch viele erreicht, liegt nicht an der Tiefe seiner Inhalte, sondern an seinem Talent zur sprachlichen Verpackung. Und daran, dass das Wissen über Tango in Deutschland nach wie vor begrenzt ist.
Noch ein persönliches Wort zur Frage der Qualifikation:
Gerhard Riedl bezeichnet mich als Autodidakt – und stellt dem seine eigene schulische Ausbildung gegenüber. Das ist nicht nur ein Scheinargument, sondern auch schlicht falsch.
Ich habe sehr wohl eine fundierte Ausbildung im Tango genossen, und das zu einer Zeit, als in Deutschland kaum jemand überhaupt wusste, wie Tango als Unterrichtsfach funktioniert. Bereits 1990 begann ich mit einer Ausbildung bei Juan D. Lange in Berlin („Tango vom Río de la Plata“), später dann – 2003 – bei Mauricio Castro, Schwerpunkt: 100 % Improvisation. Ich gehörte damit zu den ersten ausgebildeten Tangolehrern in Deutschland.
Seitdem habe ich bei unzähligen namhaften Lehrer*innen im In- und Ausland gelernt – und tue das bis heute. Ich könnte die Anzahl an Lehrern nicht mal an vier Händen abzählen. Und ja: Ich nehme weiterhin Unterricht.
Denn für mich gilt: „Wenn ich aufhöre zu lernen, höre ich auch mit dem Tango auf.“
Tango ist ein ewiger Lernprozess – für Lehrende genauso wie für Lernende.
Und jetzt die eigentliche Frage: Wann hat Gerhard Riedl eigentlich zuletzt Tango-Unterricht genommen?
Welche Fortbildungen hat er gemacht? Hat er sich tänzerisch weiterentwickelt? Hat er sich je mit Körpertechnik, Partnerarbeit, Feedbackmethodik, Unterrichtsdidaktik im Tanz auseinandergesetzt?
Nach allem, was man lesen kann: nein. Er ist also – nach seiner eigenen Definition – ein Autodidakt. Und zwar einer, der nicht kontinuierlich lernt, sondern sich auf seiner Position eingerichtet hat.
Ich sehe außerdem den Widerspruch nicht nur, ich finde ihn grundlegend absurd:
Riedl fordert autodidaktisches Lernen im Tango – aber wirft es Tangolehrern vor, wenn sie keine „staatliche Ausbildung“ vorweisen können.
Nur: Eine solche Ausbildung existiert gar nicht! Es gibt in Deutschland keine staatlich normierte Ausbildung zum Tangolehrer, weil Tango keine standardisierte Tanzform wie etwa Standard/Latein ist.
Es bleibt also nur das, was qualifizierte Lehrer überall auf der Welt tun: lernen, unterrichten, reflektieren, weiterlernen.
Ich bin kein staatlich geprüfter Chemielehrer.
Aber ich bin ein erfahrener, reflektierter und kontinuierlich weitergebildeter Tangolehrer mit jahrzehntelanger Unterrichtspraxis – und das auf einem Niveau, das sich viele in dieser Szene nicht einmal anschauen, geschweige denn erarbeiten.
Jeder Leser möge selbst entscheiden, wem er mehr zutraut, Gerhard Riedl oder mir – aber bitte keine „False Balance“ zwischen Meinung und Fachkenntnis herstellen.
Ich schreibe aus der Praxis, mit täglicher Erfahrung im Tango-Unterricht, mitten im Geschehen, mit realen Schülern, mit realen Problemen – und realen Lösungen.
Gerhard Riedl dagegen urteilt aus der Distanz – basierend auf eigenen schlechten Erfahrungen als Tanzschüler vor langer Zeit. Seine Thesen entstehen aus Theorie, nicht aus gelebter Praxis. Was er vorschlägt, hat er nie ausprobiert – also kann er es auch nicht seriös bewerten. Und mit Verlaub: Unterrichtserfahrung als Gymnasiallehrer in Biologie und Chemie hat wenig mit dem komplexen, körperlich-sozialen, emotionalen Lernprozess im Freizeitbereich Tango zu tun.
Gerade deshalb brauchen wir mehr Aufklärung: über Lernprozesse, über Unterrichtsqualität, über die Rolle von Erfahrung und Reflexion.
Was wir nicht brauchen, ist der Versuch, fundierte Arbeit mit leicht verdaulichem Meinungstheater gleichzusetzen.
Der Tango verdient Besseres.
Und deshalb lasse ich es damit bewenden.
Die Kommentar-Möglichkeit auf meinem Blog, für Leute, die bei Gerhards Tangoblog blockiert werden, stelle ich nun auch ab.
Liebe Grüße
Klaus Wendel
Lieber Klaus,
Ich kann alles, was Du feststellst, unterschreiben. Zusätzlich möchte ich noch einen Aspekt ergänzen: Die Effizienz des Lernens. In meinem Informatik Studium gab es den schönen Spruch: „Four weeks of programming can easily save you two hours of research.“ Soll heißen: In einer Privatstunde bei einem guten Lehrer lerne ich mehr als in 20 Stunden in einer Lerngruppe, in der sich keiner der Anwesenden mit den Grundlagen des Tango beschäftigt hat. Und ja: Natürlich bezahle ich so einen Lehrer dann auch gerne für seine Erfahrung und sein geschultes Auge.
Liebe Grüße,
Helge
Lieber Helge,
Danke für diese bestätigende Aussage.
L.G. Klaus Wendel
Sehr schöner Artikel, Klaus. Und ein guter Kontrapunkt zu dem „wir brauchen keine Lehrer“-68er-Romantik-Quark von Du-weißt-schon-wem. Schon witzig, wenn jemand sich immer wieder über „gut abgehangene Uralt-Grütze“ ausläßt und gar nicht merkt, daß er derjenige ist, der in der Vergangenheit festhängt.
Danke, …und er war ja eigentlich auch als Kontrapunkt gedacht, konnte diesen Quatsch von „Du-weißt-schon-wem“ einfach nicht so stehen lassen.