
Ästhetisches Empfinden und Tanztechnik
Ein persönlicher Auftakt
Heute geht’s um Show-Tanz, Show-Tango und ihre Wirkung auf uns als Zuschauer sowie unsere Beurteilung.
Es begann mit einem beiläufigen Klick – ein Blogartikel, irgendwo im Netz, über die Ästhetik eines legendären Hollywood-Tanzpaares: Fred Astaire und Ginger Rogers. Und schon war ich gefangen.
Ich muss gestehen: Meine Bewunderung für Fred Astaire begleitet mich seit meiner Kindheit. Damals, in den 60er-Jahren, war ich ein begeisterter Fernsehzuschauer amerikanischer Musicals – jener schillernden Filme voller Gesang, Glanz und Tanz. Ich habe diese Szenen heimlich nachgetanzt, allein, versteckt, heimlich.
Doch zurück zu Ginger und Fred: In manchen Filmszenen, vor allem bei synchronen Steptanz-Nummern, scheint Ginger Rogers eine Leichtigkeit zu verkörpern, als würden ihr die Schritte zufliegen – mühelos, federnd, beinahe nonchalant. Fred hingegen wirkt expressiver, energiegeladen, geradezu architektonisch in seiner Bewegung.
Mich fasziniert beides – umso mehr, weil die Schritte formal identisch sind, der Ausdruck aber nicht unterschiedlicher sein könnte.
Natürlich steckt hinter dieser Mühelosigkeit ein Arsenal aus Arbeit, Disziplin und unerschütterlichem Können – beide waren Ausnahmetänzer. Und doch zeigt sich hier etwas Grundlegendes: Die Form – das Was einer Choreografie – kann identisch sein, während der Modus – das Wie des künstlerischen Ausdrucks – Welten voneinander entfernt ist.
Wir alle tragen innere Bilder davon, wie ein Tanz wirken „soll“. Diese Vorstellungen bestimmen, wie wir uns selbst bewegen wollen. Doch Gefühl und Wirklichkeit sind nicht immer deckungsgleich: Man glaubt, eine Bewegung genau so auszuführen – bis das unbestechliche Video-Feedback zeigt, dass der Eindruck ein ganz anderer ist. Ein Moment brutaler, aber heilsamer Klarheit.
In diesem Beitrag möchte ich – mit Beispielen aus Videos – untersuchen, wie sich Tänze in ihrer ästhetischen Wirkung entfalten. Wie beeinflussen diese Eindrücke unseren Blick auf Tänze wie den Tango? Welche Spuren hinterlassen Zeitgeist und Tanzmoden (nicht Kleidermoden) in der Art, wie wir tanzen? Denn auch der Gesellschaftstanz entwickelt Vorlieben, Trends und Muster, die eine Szene als Ganzes verändern.
Das Geheimnis der tänzerischen Wirkung
Es gibt Tänzer, die alles richtig machen – technisch sauber, im Takt, präzise. Und doch bleibt etwas aus. Kein Funke springt über. Die Bewegungen wirken wie korrekt gesetzte Buchstaben ohne Satzmelodie – verständlich, aber ohne Poesie. Dazu gehöre leider auch ich.
Was fehlt? Oft sind es Esprit, Präsenz, Ausdruck – jene unsichtbaren Ingredienzen, die auch einfache Schritte wie ein Feuerwerk erscheinen lassen.
Eine entscheidende Eigenschaft, die selbst brillanten Technikern oft fehlt, ist Authentizität.
Sie zeigt sich nicht in spektakulären Figuren, sondern in der Selbstverständlichkeit, mit der eine Bewegung geschieht. Wenn ein Tänzer, eine Tänzerin wirkt, als könne er oder sie diese Bewegung gar nicht anders ausführen – nicht, weil es keine anderen Möglichkeiten gäbe, sondern weil diese eine Geste aus innerer Notwendigkeit geboren scheint. Nichts daran wirkt aufgesetzt. Nichts will mehr sein, als es ist.
Nehmen wir den Tango: Es gibt Tänzer, deren Schritte so klar, so unaufgeregt selbstverständlich wirken, dass man unweigerlich innehält: Wow. Andere hingegen tanzen die gleichen Figuren – und doch bleibt es leer. Man spürt: Hier wird etwas reproduziert, nicht gelebt. Bei manchen wird sich daran auch mit Übung wenig ändern, weil das Entscheidende nicht in der Technik liegt.
Selbst unter Könnern gibt es solche, deren technische Perfektion von einem manierierten, fast künstlichen Gestus überlagert wird – eine Art ballettöse Steifheit, die den Fluss bricht. Und dennoch finden auch sie ihr Publikum.
Genau hier liegt der Kern meines Beitrags: Warum nehmen wir dieselbe Bewegung so unterschiedlich wahr? Warum empfinden wir eine als wahrhaftig, eine andere als leer – und eine dritte als überhöht und kunstvoll, auch wenn die formale Ausführung identisch ist?
Es ist ein Mysterium, das nicht nur vom Tanz erzählt, sondern auch vom Blick des Betrachters.
Die absolutistische Tanzästhetik im Ballett
Wenn wir heute die klaren Linien, die schwebenden Arabesken und die makellosen Positionen des klassischen Balletts betrachten, ahnen wir oft nicht, dass dieser Kanon aus einer höfischen Welt der Kontrolle geboren wurde.
Im 17. Jahrhundert, am glanzvollen Hof Ludwigs XIV., war Tanz weit mehr als Unterhaltung – er war eine politische Choreografie. Jede Haltung, jeder Schritt, jede Blickrichtung war Ausdruck eines Systems, in dem der individuelle Impuls der Ordnung zu weichen hatte.
Ludwig, selbst glänzender Tänzer und Meister der Selbstinszenierung, gründete 1661 die Académie Royale de Danse. Unter Pierre Beauchamps entstanden die fünf Fußpositionen, bis heute das Fundament des klassischen Balletts. Choreografien folgten streng geometrischen Bahnen – Kreisen, Linien, Diagonalen – eine Architektur in Bewegung, die das Weltbild des Absolutismus inszenierte.
Die Bewegungsästhetik war eine Schule disziplinierter Anmut. Wer am Hof tanzen wollte, musste sich in diese Form begeben – nicht nur körperlich, sondern geistig. Schönheit bedeutete Ordnung. Und Ordnung – das war Macht.
Tanz:Viengsay Valdés & Romel Frometa – Diana & Acteón,
Was mich dabei fasziniert – und was längst auch seinen Weg in den Tango gefunden hat – sind die Körperlinien: etwa wenn das Spielbein fast überstreckt in den Raum projiziert wird. Der sogenannte Klappschritt – erst der Fußballen, dann die Ferse – taucht im Tango häufiger auf, während der über die Ferse abrollende Schritt natürlicher wirkt. Viele Bewegungen aus dem Ballett, vor allem im Beinspiel und in der Linienführung, sind heute Teil des weiblichen Tanzrepertoires im Tango geworden.
Auch heute, bei höchstem artistischem Können, bleibt für mich oft ein Eindruck: Diese Bewegungen wirken nicht „natürlich“. Nicht, weil es an Biomechanik oder Prinzipien mangelt – im Gegenteil –, sondern weil der Stil selbst auf Distanz geht. Bewegungskunst ja, Natürlichkeit – eine ganz andere Frage.
Der tanzende Gegenpol – Nützliche Bewegung, gemeinsame Sprache
Jenseits der Marmorsäle und goldenen Spiegel existierte eine zweite Welt des Tanzes – ohne Akademien, ohne König im Mittelpunkt, ohne geometrisch vermessenen Raum. Hier ging es nicht um Repräsentation, sondern um Teilnahme. Jeder Körper durfte sprechen, ohne zuvor die Grammatik der Tanzkunst erlernt zu haben.
Auf Dorffesten, Märkten, in Ballsälen der Bürger waren es die Volkstänze und später die Gesellschaftstänze, die den Rhythmus des Lebens bestimmten. Die Bewegungen waren nützlich – nicht technisch im Sinne sportlicher Effizienz, sondern sozial brauchbar: Sie waren für jeden zugänglich, unabhängig von Stand, Alter oder Ausbildung.
Homogen wirkten sie nicht, weil sie uniform diszipliniert waren, sondern weil sie gemeinsame Erfahrung atmeten.
Ein Schritt zur Seite, eine Drehung, das Greifen einer Hand – Gesten, die keinen Machtanspruch verkörpern, sondern Kontakt. Wo das barocke Hofballett den Körper der Form unterwarf, formte der Volkstanz das Miteinander.
Seine Linien waren nicht vom Zirkel gezogen, sondern entstanden aus Blicken, spontanen Anpassungen, aus dem geteilten Atem im gleichen Takt.
Der Einzelne ging nicht in der Form auf – die Form ging in der Gemeinschaft auf.
Zwei Welten im Spiegel
- Absolutistische Tanzästhetik: streng, kodifiziert, eine Architektur der Macht in Bewegung.
- Nützliche, homogene Tanztechnik: offen, gemeinschaftlich, eine Sprache des Alltags, die jedem gehört.
Zwischen beiden Welten spannt sich ein weiter Bogen – und vielleicht beginnt genau dort das Spannungsfeld, aus dem unser heutiges Verständnis von Tanzvielfalt erwachsen ist. Auch im Tango.
Hier die Übertragung beider Blickwinkel auf den Tango:
Sebastián Arce & Mariana Montes
sind ein lebendes Archiv dieser beiden Pole:
Zwei völlig verschiedene Tänze, zwei Ästhetiken – und doch dasselbe Paar. Man könnte sagen: Hier hat sich nicht nur die Technik, sondern auch das ästhetische Empfinden mit dem Zeitgeist verschoben.
Früherer Stil (Neo-orientiert):
Tanzstil im Video 1: Die Umarmung öffnet sich, der ganze Tanz eher leger, nicht nur in Kleidung, sondern auch im Bewegungsausdruck, bei Sebastian rein funktional, bei Mariana fast schon sportlich. Lässigkeit wir betont. Hier wird deutlich: Aber dadurch wirkt der Tanz natürlicher, ich sage aber, dadurch nicht direkt besser.
Späterer Stil (klassisch geprägt)
Die eine Interpretation in Video 2 wirkt fast skulptural, mit klar gezogenen Linien, kontrolliertem Ausdruck – wie eine Miniaturversion der barocken „Architektur in Bewegung“.
Was heißt „klassisch oder traditionell“ im Tango?
Ich würde klassisch eher als konservativ bezeichnen, wobei die Ästhetik aus dem Ballett, als sie „altbekannte, bewährte“ Optik gemeint ist.
Würden wir einen Tango de Pista aus den späten 1960er-Jahren als „traditionell“ bezeichnen? Siehe folgende Videos…
Tanz: Lita & Jorge, Musik: Anibal Troilo
Ende der 60er Jahre
Tango: Nito y Elba Garcia, Antwerpen Tango Festival, 2016
Der Begriff „klassisch“ im Tango ist trügerisch – was heute „Tradition“ genannt wird, war damals oft einfach zeitgenössische Praxis.
Besonders spannend – der Bühnenstil der 70er Jahre:
Obwohl die Truppe um Juan Carlos Copes & Maria Nieves Rego (linkes Video – im Vordergrund) auf Strassenasphalt tanzen – das muss man erstmal so gut hinbekommen – ist dieser Tango schon rein technisch von heutigem Können der Showpaare auch im aktuellen ästhetischen Empfinden weit entfernt. Ich will es aber nicht abwerten, sondern sie in den zeitlichen Kontext bringen: damals war das Top-Bühnen-Tango.
70er-Jahre-Rekonstruktion 2016:
Pereyra & Nau nennen ihren Ansatz „Tango Arcáico“ – als handle es sich um Relikte einer fernen Urzeit. Für mich wirkt es eher wie die stilisierte Wiederauflage eines Bühnen-Tangos, der seine Zeit hatte.
[Ich habe hier in einer früheren Version diese Artikels ein längeres Kapitel über Nau & Pareyra verfasst, es aber wieder heraus genommen, weil es in der Länge etwas vom Thema dieses Artikels abwich. Ich werde später dieses Thema wieder aufgreifen, wenn ich das besagte Buch „Der Klang meiner Erde“ gelesen habe.Dann werde ich auch auf das Interview, das Lea Martin mit Nicole Nau führte, eingehen.]
Wandel der ästhetischen Parameter
Auffällig ist der Knie-Flex oder das Plié-Knie: In den 1970er-Jahren selbstverständlich, heute fast verschwunden. Damals tanzten Männer und Frauen mit leicht gebeugten Knien – eine Haltung, die heute nur noch selten dem ästhetischen Ideal entspricht. Es hatte aber damals seine Berechtigung in der dadurch bedingten höheren Stabilität in vielen Bewegungen. Man musste im Gewühl der Milonga sehr standsicher und flexibel sein, denn damals umschlang man seine Partnerin sehr fest, fast schon beschützend. Das Problem war allerdings, dass sich die Knie dabei sehr nahe kamen, was man durch eine vorwärtsgebeugte Haltung kompensierte. Deshalb auch die im oberen Körperbereich geschlossene Haltung der Paare.
Heute dominieren gestreckte Beine beim Aufsetzen, selbst bei vielen Frauen – ein Bewegungsablauf, der dem natürlichen Gehen näher kommt. Obwohl in vielen Tanzphasen das flexible Plié-Knie sehr funktional und heute noch relevant ist, allein schon, um das Wippen zu vermeiden, – also um fließendes Höhenniveau und größere Schritte zu meistern. Aber eben nicht durchgängig. Man ist aber dahinter gekommen, dass man durch gestreckte Knie auch in aufrechter Haltung enger tanzen konnte und die Knie nur noch in bestimmten Momenten beugen musste. Ein großer technischer und ästhetischer Fortschritt.
Hier zeigt sich, wie ästhetische Vorlieben und Bewegungsempfinden einem ständigen Wandel unterliegen. Was gestern als elegant galt, wirkt heute altmodisch – und was heute als „natürlich“ gilt, könnte in ein paar Jahrzehnten selbst zum Stilzitat werden.
Mein wichtigstes Kapitel (nachträglich eingefügt):
Der Ocho adelante – Ballett-Einflüsse im Tango
Geschichtliche Entwicklung:
Recherche: Entstand der Ocho adelante tatsächlich erst in den 1940er Jahren?
1. Historischer Ursprung der Ochos (allgemein)
El Ocho (die Ocho im Allgemeinen) zählt zu den ältesten Schrittmustern im Tango – vermutlich aus der Ära, als Frauen noch lange Röcke und Petticoats trugen, die Fußspuren im Tanzboden aufzeichneten. Dieses Element war schon zu Beginn des Tangos präsent argentinetangolab.com+2Ultimate Tango School of Dance+2.
2. Ocho adelante: „Forward Ocho“
Der Ocho adelante bezeichnet eine Variante, bei der die Folgende in Vorwärtsbewegung eine Acht zeichnet – typischerweise über zwei Kreuzschritte argentinapolo.com+7Wikipedia+7Ultimate Tango School of Dance+7.
Er gilt im Tango als grundlegende Figur und wird häufig in Tanzunterricht vermittelt Ultimate Tango School of Dance.
3. Gab es ihn schon vor den 1940er-Jahren?
Nach meinen Recherchen lässt sich kein Hinweis finden, dass der Ocho adelante erst in den 1940er Jahren entstanden ist.
Vielmehr weist die Erwähnung im Kontext der Guardia Vieja (späte 19. bis frühes 20. Jahrhundert) und älterer Tangoformen darauf hin, dass der Ocho largo vor dieser Zeit existierte tangology101.com+9Ultimate Tango School of Dance+9lifeisatango.blogspot.com+9Ultimate Tango School of Dance+7argentinetangolab.com+7tangology101.com+7.
Zusammenfassend lässt sich sagen:
Der Ocho adelante ist keine Erfindung aus den 1940er-Jahren, sondern ein authentischer Teil des frühen Tangos, der schon bestand, als Tangotänzer auf gepflasterten oder staubigen Tanzbodenlinien zeichneten. Diese Acht im Schritt – ob vorwärts oder rückwärts – war ein Ausdruck der Bewegung selbst und wurde nicht erst zu einer späteren Modebewegung.
Ein Missverständnis?
Wir alle kennen ihn auch als Grundelement des Tangos, in fast jedem Unterricht fest verankert: den „ocho adelante“, den Vorwärts-Ocho.
Doch nach 40 Jahren Unterrichtserfahrung sage ich: Der Vorwärts-Ocho ist vielleicht das größte tanz-technische Missverständnis in der Entwicklung des Tangos.
Warum? Weil er im modernen, pivot-orientierten Ansatz einen technischen Aufwand verlangt, der im Gesellschaftstanz gar keinen Platz haben dürfte. Er braucht zu viel Zeit, zu viel Training, um elegant zu wirken – und das widerspricht dem eigentlichen Charakter des Tangos als Tanz für jederfrau/mann.
Der Grund liegt im Ballett-Einfluss: Der heutige Pivot, mit seiner klaren Achse und seinem präzisen Drehmoment, stammt aus der Ballett-Technik. Für „Normal-Tänzerinnen“ ist er schwer als beiläufige, natürliche Bewegung zu erlernen. Ursprünglich war der Ocho jedoch etwas ganz anderes:
ein spontaner Richtungswechsel aus einer vorwärts-kreuzenden Position. Wenn die Tänzerin in einem zufälligen Vorwärtskreuzschritt die Richtung um den Partner herum ändern musste, ergab sich der notwendige Pivot von selbst. Kein starres Techniktraining, sondern eine Bewegung, die passierte.
Physikalisch betrachtet ist der ursprüngliche ocho adelante kein Achs-Pivot, sondern ein Spin – wie ein Ball, den man beim Wurf anschneidet. Er dreht sich, während er von A nach B fliegt. Genau so dreht sich eine Tänzerin um ihre Achse, während sie den Raum durchquert.
Ich höre schon die Proteste – aber meine Unterrichtspraxis gibt mir recht. Mit meiner Methode tanzen Anfängerinnen oft schon nach drei Unterrichtseinheiten elegante Vorwärts-Ochos. Warum? Weil ich den Ocho zurückführe zu seiner ursprünglichen Idee – zu dem, was in den 40er-Jahren auf der Piste eines ungelernten Paars ganz von selbst entstand. Der Ocho ist kein Ballett-Pivot. Er ist ein Spin aus dem natürlichen Bewegungsfluss. Wer das visuell verstehen möchte, kann sich das Video mit Noelia Hurtado anschauen, sie pivotiert ganz wenig, sondern sie kreuzt vor- und rückwärts. Die Ur-Idee des ochos als einfacher Richtungswechsel. Aber eines kann bei alten oder neuen ochos als gemeinsames Merkmal bezeichnen: er sollte nicht raumgreifend getanzt werden. Damals wegen der engen Röcke und heute wegen der meist engeren Umarmung. Und im 70er-Jahre-Bühnenstil aufgrund des hohen Tempos nicht, aber er wirkte dadurch auch – aus heutigem Gesichtspunkt – sehr plump.
Der Einfluss vieler Ballett-Tänzerinnen hat den Tango verändert – und ihn für Normal-Tänzerinnen unnötig erschwert. Das ist der Grund, warum der Vorwärts-Ocho heute kaum noch, vor allem nicht in enger Umarmung, getanzt wird. Und das ist auch kein Wunder, denn er ist in der heute gebräuchlichen, geschlossenen Umarmung und mit aneinander gedrückten Köpfen kaum bequem tanzbar.
Wer das nicht glaubt, braucht nur auf einer Milonga- oder Encuentro-Piste genau hinzusehen.
Bühnen-Tango gestern und heute im jeweilig zeitlichen Kontext
Constanza Vieyto & Ricardo Astrada – Campeones mundiales de Tango Escenario 2022
Dass ein Bühnen-Tango aus dem Jahr 2022 viel ausgefeilter, homogener, ästhetischer wirkt, liegt nicht nur an der besseren Tanztechnik dieser Paare, sondern auch daran, dass wir als Zuschauer unser ästhetisches Wunschbild an heutige Tanztechnik angepasst haben. Einen Show-Tango von Sebastian Arce & Mariana Montes aus ihrer Neo-Tango-Zeit würden wir heute schon nostalgisch als leidige Neo-Interims-Epoche der letzten 30 Jahre betrachten. Ich finde aber, da tun wir ihnen Unrecht. Denn damals haben wir es bewundert.
Ein Gespräch in Kassel – über Erwartungen und Vergleiche
Ich erinnere mich gut an eine Milonga in Kassel. Dort sprach ich mit einem ganz normalen Tanzpaar, das früher völlig begeistert war von Nicole Nau & Ricardo „El Holandés“. Jahre später klang es plötzlich ganz anders: Sie äußerten sich abfällig über das Paar, fast so, als hätten sie deren Wert komplett neu verhandelt.
Warum dieser Wandel? Vermutlich, weil sie inzwischen andere Shows gesehen hatten – Paare aus Buenos Aires, technisch brillanter, ästhetisch makelloser. Natürlich lernt man auch als Zuschauer dazu. Aber anstatt die eigene damalige Euphorie als Moment der Begeisterung zu verstehen, begannen sie, über Nicole & Ricardo herzuziehen. Dabei war die Diskrepanz zu den allerbesten Paaren schon damals erkennbar.
Hier zeigt sich, wie sehr eine Beurteilung von Erwartungen abhängt. Unsere Vorstellung davon, wie Tango „auszusehen hat“, verändert sich mit dem, was wir kennen, sehen, erleben. Aber die entscheidende Frage ist: Passen diese Maßstäbe immer zum ursprünglichen Kontext des Tangos?
Oder anders gesagt: Ist es noch Gesellschafts-Tango – oder schon Ballett? Sind unsere Vorstellungen über „Guten Tanz“ nicht allzu sehr geprägt von unserer ästhetischen Prägung aus dem Ballett? Denn ich habe den Eindruck, dass das längst passiert ist.
Der Grund: Weil ein Tänzer wie Chicho Frúmboli heute ganz anders beurteilt wird, als zu seinem Höhepunkt in den 2000er-Jahren – obwohl er sich musikalisch sogar noch weiter entwickelt hat. Denn ich halte ihn, aufgrund seiner natürlichen, ungekünstelten, präsenten Art, immer noch für einen der Besten, obwohl er den heutigen ästhetischen Erwartungen überhaupt nicht entspricht. Aber genau das ist der Grund, warum Bühnenpräsenz und Authentizität manchmal wichtiger sind als bloßes technisches Können mit absolutistischer Tanztechnik.
Fazit – Tanz im Spiegel der Zeit
Dass Tango so unterschiedlich beurteilt wird, liegt an so vielen Vorlieben und Prägungen, daran, was man selbst von Tanz erwartet.
Vielleicht steckt der Kern darin, dass unser ästhetisches Empfinden immer zwei Seiten hat:
Ein Teil von uns sucht die Strenge, die Linie, die Form – wie im Ballett oder in den barocken Hoftänzen, wo Schönheit aus Kontrolle geboren wurde.
Der andere Teil sucht das Natürliche, das Selbstverständliche – Bewegungen, die sich wie von selbst ergeben, die jedem vertraut sind, weil sie aus dem Gehen, Drehen, Greifen entstehen.
Tanz ist nie nur Bewegung. Er ist immer auch ein Abbild seiner Zeit – geformt von Mode, gesellschaftlichen Idealen, technischen Möglichkeiten und persönlichen Ausdrucksweisen. Was in einer Epoche als Inbegriff von Eleganz und Kunstfertigkeit galt, kann Jahrzehnte später fremd oder überladen wirken. Umgekehrt erscheinen uns manche Gesten „natürlich“, weil sie unserem heutigen Bewegungsgefühl entsprechen – obwohl sie in der Vergangenheit vielleicht unvollkommen oder roh gewirkt hätten.
Ein kleines Detail macht das besonders sichtbar: die Kniehaltung im Tango. In den 1970er-Jahren war es völlig normal, mit leicht gebeugten Knien zu tanzen – es wirkte selbstverständlich und elegant. Heute gilt genau das oft als unsauber oder altmodisch, und das Ideal sind durchgestreckte Beine beim Aufsetzen, was dem natürlichen Gehen auf der Straße ähnlicher ist.
Hier zeigt sich: Ästhetik ist wandelbar, und unser Empfinden wandelt sich mit. Von gebeugten Knien der 1970er zu gestreckten Linien heute, von weichem Fluss zu geometrischer Präzision – und wieder zurück.
Genau deshalb ist der Blick über den eigenen Zeitgeschmack hinaus so wichtig. Tanz muss im Kontext seiner Entstehung verstanden werden – als lebendige Sprache, deren Vokabular sich ständig verändert.
Klar, man kann aus einem Gesellschaftstanz einen Kunsttanz machen. Aber er sollte seine Wurzeln nicht verleugnen – bei Bewegungen bleiben, in denen sich auch ein „Normaltänzer“ wiedererkennen kann. Denn sonst verliert er den Funken, der ihn lebendig macht.
Für mich spiegelt sich jedoch im Tango noch bis in die 2010er Jahre das typische Rollenklischee von Mann & Frau wider: Der Mann, der seine tänzerische Ästhetik mit rein funktionaler, perfekter Technik – ohne sichtbare Führungssignale – erreicht, während die Frau durch ihre Ornamentik und Grazie überzeugt. Das macht auch die Faszination für den Tango aus, dass es kaum einen Tanz gibt, in dem Männer so männlich wirken und Frauen so weiblich, aber nur in ihrer jeweiligen Rolle. Ein Dilemma für Queer-Tänzer:inen, die ich wahrscheinlich durch diese Aussage verärgern könnte, aber die Rollen sind auch im Ausdruck der geschlechtlichen Rollen-Ästhetik fixiert, nicht nur durch die Choreografie. Aber ich stehe dazu, obwohl ich Queertänzer:innen ihren Tango nicht durch feste Rollenzuweisungen absprechen will, denn die Gesellschaft entwickelt sich, also passt sich ein Gesellschaftstanz an. Der Tango braucht also noch eine Weile bis er sich auch ästhetisch an die flexiblen, queeren Rollenzuweisungen angepasst hat. Der queere Tango wird es dabei schwer haben, aufgrund der heterogenen Mehrheit in der Tango-Welt. Er ist aber schon auf gutem Wege.
Mich ärgert an den Bewertungs-Kriterien der Tango-Szene an Tanzpaaren, dass sie diese nur aus nach heutigen Maßstäben beurteilen und nicht nach zeitgenössischen Kriterien der jeweiligen Zeit. Außerdem sollten sie mal die Grundlagen der Tanz-Ästhetik beachten, nach denen sie selbst die eigene Erlebniswelt in die Beurteilung einfließen lassen
Quellenüberblick
Thema | Quellen |
Ballets de cour: Gesamtkunstwerk Barock | Wikipedia: Ballet de cour Carolina Digital Repository+14Wikipedia+14Centre de musique baroque de Versailles+14 |
Geometrische Choreografien & Herrschaft | Ballet de la nuit, politische Inszenierung Wikipedia |
Bewegungsästhetik: kontrolliert, höfisch | Andrea Zuvich’s Beitrag The Seventeenth Century Lady |
Académie Royale de Danse & Technik-Formalisation | Wikipedia & Nationalmuseum-Blog WikipediaSchweizerisches Nationalmuseum BlogAlign Ballet Method Official Site |
Beauchamps: Fußpositionen | Bachtrack & Align Ballet Method BachtrackAlign Ballet Method Official Site |
Politische Funktion des Hoftanzes | UNC-Essay, Ballet de la nuit Kontext Carolina Digital RepositoryWikipedia |
7 thoughts on “Ästhetisches Empfinden und Tanztechnik”
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> [Vorwärts-Ochos] „technischer Aufwand“ / „Er braucht zu viel Zeit, zu viel Training, um elegant zu wirken“
Sehe ich völlig anders. Wenn man die Dissoziation mal weglässt, ist es ein Schritt diagonal-vorwärts mit einer Vierteldrehung. Dafür braucht man kein Ballett, das ist eine ganz einfache Bewegung, die normalerweise schon Kinder können. Bis sie „elegant“ sind, dauert es natürlich wie immer etwas länger. Das Drehen auf einem Bein finde ich auch viel einfacher als die relativ großen gekreuzten Schritte in dem Video. Außerdem sind Vorwärts-Ochos ja auch viel einfacher als Rückwärts-Ochos.
Ich schreibe ja auch: „…Weil er im modernen, pivot-orientierten Ansatz einen technischen Aufwand verlangt, der im Gesellschaftstanz gar keinen Platz haben dürfte.“ und „Ursprünglich war der Ocho jedoch etwas ganz anderes:
ein spontaner Richtungswechsel aus einer vorwärts-kreuzenden Position. Wenn die Tänzerin in einem zufälligen Vorwärtskreuzschritt die Richtung um den Partner herum ändern musste, ergab sich der notwendige Pivot von selbst. Kein starres Techniktraining, sondern eine Bewegung, die passierte.“ , das letztere entspricht der Version, wie Du sie beschreibst. Aber, ob der Ocho vorwärts leichter ist als der Ocho Rückwärts, darüber kann man streiten. Ich brauche für beide im Unterricht nicht sehr lange, „kommt also drauf an, wie man ihn vermittelt„. Und das Drehen auf einem Bein findest Du einfacher als „als die relativ großen gekreuzten Schritte in dem Video“? Welches Video meinst Du denn, das von Noelia Hurtado & Carlos Espinoza? Dann empfinde ich das allerdings ganz anders, weil der Ocho vorwärts so entstanden ist, wie Noelia ihn tanzt.
Hallo Klaus, danke für diesen wirklich sehr guten Artikel zu diesem Thema.
Und tatsächlich hab ich mich schon häufiger gefragt; wenn Chicho auf einer Berliner Milonga unerkannt wäre, ob er überhaupt eine gute Tänzerin finden würde, die mit ihm tanzen würde.
Grüße Leo
Ich gehe mal davon aus, daß das ein Negativstatement über die Berliner Milongas ist. Andersherum wäre es doch ein wenig absurd.
Da gehe ich auch von aus. Aber ich denke, dass er in dem Moment als Tanzpartner begehrt würde, wenn er sich tänzerisch zu erkennen gäbe, denn er hat auch auf einer normalen Tango-Piste eine außergewöhnliche Wirkung und Präsenz.
Das Buch „Der Klang meiner Erde“ von Nicole Nau und Luis Pereyra ist bereits seit Juni im Handel erhältlich und m.E. lesenswert!
Hallo Michael,
Danke für den Tip, aber der Begriff „lesenswert“ ist immer auch sehr subkjektiv. Ich werde es aber auf jeden Fall lesen, allein schon, weil ich hier ja bereits eine vorläufige Kritik losgeworden bin, die ich auch untermauern muss.
Mit freundlichen Grüßen
Klaus Wendel