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Gedanken über Tango-Unterricht | 22. Teil

Gedanken über Tango-Unterricht | 22. Teil

Nett oder ehrlich – oder beides?

Als Tango-Unterrichtender ist man manchmal etwas ernüchtert, wenn es um die Selbstreflexion der Schüler geht. Viele Tänzer haben nur ein sehr vages Bild davon, wo sie stehen, was klappt, was nicht. Und dann kommt das Problem: Kritik.

Manchmal stehe ich da und denke: Na gut, wie ehrlich darf ich jetzt eigentlich sein? Sage ich „passt schon, wird schon besser“, dann nicken die Leute zufrieden, gehen heim – und sind eigentlich keinen Schritt weiter. Sage ich dagegen „das funktioniert überhaupt nicht“, dann schaut mich jemand an, als wäre gerade der ganze Tangohimmel über ihm zusammengebrochen. Das eine ist nett, das andere ehrlich. Beides hat Tücken.

Und ehrlich gesagt: Ein Tango-Lehrer, der nur lobt, ist für mich keiner. Punkt. Ich will wissen, woran ich bin, wo’s klemmt, auch wenn es weh tut. Aber klar – nicht jeder will so behandelt werden. Manche brauchen die Samthandschuhe, andere eher den Holzhammer. Die Frage bleibt: Was bringt am Ende mehr?

Natürlich ziehe ich im Unterricht die motivierende Variante vor – ein „Da musst du noch dran arbeiten“ reicht oft. Aber hilft es wirklich, wenn die Lösung in eine ferne Zukunft verschoben wird? Irgendwann muss man auch sagen dürfen: „So, genau hier, das funktioniert nicht – und zwar jetzt nicht.“

Fehler als Wegweiser – oder: Warum Perfektionismus tödlich ist

Genau an dieser Stelle kommt für mich die Fehlerkultur ins Spiel. Ich habe schon an anderer Stelle darüber geschrieben: Lernen funktioniert nicht, indem man ein Ziel direkt ansteuert, sondern über den Umweg der Fehler. Erst das Differenzieren, das Erkennen, das Austesten von Irrwegen bringt einen wirklich voran.

Darum geht es mir im Unterricht: einen klaren Umgang mit Reflexion zu etablieren. Wer sich selbst nicht sieht – oder nicht sehen will –, der erlebt Kritik schnell als Angriff. Und das ist der Knackpunkt: Kritik ist nicht grundsätzlich etwas Schlechtes, sie ist ein Werkzeug. Sie sollte als Anreiz zur Verbesserung verstanden werden, nicht als persönlicher Schlag.

Erst wenn Tango-Schüler lernen, nüchtern und sachlich mit ihren Unzulänglichkeiten umzugehen, verliert Kritik ihren Stachel. Fehler sind nicht das Ende, sondern der Anfang von Lernen.

Und Humor – über sich selbst lachen zu können – wirkt da übrigens Wunder. Wer über die eigenen Patzer schmunzeln kann, trägt sie leichter. Der Unterricht bekommt sofort eine andere Leichtigkeit, und plötzlich ist Kritik gar nicht mehr so bedrohlich.

Negativ-Beispiel: Wie man Schüler garantiert kaputtmacht

Oft höre ich von Schülern, dass sie Einzelunterricht bei bestimmten Lehrern als totales „Heruntermachen“ erlebt haben. Ich frage mich immer: Was soll das bringen? Wenn die Bestandsaufnahme des Könnens darin besteht, erstmal zehn Minuten lang aufzuzählen, was alles falsch ist – dann bleibt doch nur ein Scherbenhaufen übrig.

Ja, das ist jetzt ein bewusst negatives Beispiel. Aber solche Lehrer gibt es. Tango-Lehrer, die ihre eigenen Unzulänglichkeiten als Tänzer kompensieren, indem sie den Schüler mit einem Korrekturen-Schwall eindecken. Am Ende hat man das Gefühl: Da wird sich gerade die perfekte Tanzpartnerin zurechtgebastelt – und der Schüler ist nur das Rohmaterial.

Für mich ist das der falsche Ansatz. Wenn ich mich beim Tanzen in der Führung vertue, wenn mir ein Lapsus unterläuft, dann sage ich meiner Partnerin sofort: „Das war mein Fehler.“ Punkt. Alles andere wäre unehrlich. Und noch etwas: Genau diese kleinen Maleure sind wertvoll. Sie zeigen, dass niemand perfekt ist – und dass Reflexion nicht mit Schuldzuweisung, sondern mit Einsicht anfängt.

Nettigkeit schlägt Inhalt – wirklich?

Aus früheren Erlebnissen kenne ich den Satz nur zu gut. Nach einem Workshop mit großen Namen, vielleicht sogar Sternchen der Szene, frage ich Teilnehmer: „Und, wie war’s?“ Antwort: „Hm … keine Ahnung mehr, irgendwas mit … äh … aber die Lehrer waren sooo nett!“

Ganz ehrlich: Das ist bezeichnend. Der Inhalt ist im Nebel verschwunden, aber das Gefühl bleibt. „Nett“ überstrahlt alles.

Jetzt kann man sagen: Na gut, Tango ist ja auch ein Gemeinschaftsding, da zählt Atmosphäre. Klar, ein bisschen „Kuschelfaktor“ schadet nie. Aber wenn Nettigkeit plötzlich wichtiger ist als Lernerfolg, dann komme ich ins Grübeln. Soll ich also auch noch netter werden? Reicht es, sympathischer zu wirken als die Kollegen?

Es scheint fast so. Denn sobald man Stars nicht als arrogante Übermenschen erlebt, sondern als ganz normale Menschen, kippt das schnell ins „über-nett“. Und dann entsteht dieser seltsame Starkult, in dem es nicht mehr so sehr darum geht, was vermittelt wurde, sondern wie sich’s angefühlt hat. Tango als Kuschelbühne.

Auch öffentlich nett?

Das Ganze hört ja beim Unterricht nicht auf. Auch als Blogger oder Veranstalter ist man schnell in der Zwickmühle. Kritik? Ganz gefährlich. Schon ein leicht negativ formulierter Satz über irgendeine Szene-Marotte – und schwupps, man landet in der Grantler-Ecke.

Ich hab’s erlebt: Selbst gut gemeinter Rat, vielleicht nur ein Hinweis, kann Leute verletzen. Nicht weil man sie direkt angesprochen hat, sondern weil sie sich in der Beschreibung wiederfinden. Zack, persönliche Betroffenheit.

Also was tun? Vorher überlegen, ob man das wirklich so schreibt. Sich in die Leute hineinversetzen, ihre Motive verstehen. Klar. Aber irgendwann muss man auch sagen: Tango ist kein Wattebausch-Spiel. Wenn man nie ausspricht, was klemmt, bewegt sich auch nichts.

Der Nachteil von „nur nett sein“

Ich habe mir einmal die Ausbildungskriterien für angehende Tanzlehrer in ADTV-Schulen durchgelesen. Dort steht tatsächlich: niemals negative Kritik äußern, immer freundlich, immer verbindlich bleiben.

Natürlich steckt dahinter ein Kalkül. Es geht um Kundenbindung. Die Schüler sollen sich wohlfühlen, nie in Selbstzweifel geraten, bloß keine schlechte Stimmung. Klingt nachvollziehbar – aber hat einen hohen Preis.

Denn das Unterrichtsziel verschiebt sich: Statt wirklichem Lernen geht es in erster Linie um „lustige Kursabende mit netten Leuten und super-netten Lehrern“. Der Tanzunterricht wird zum Stimmungsmanagement.

Das führt dazu, dass selbst komplexe Schrittfolgen in Rekordzeit durchgepeitscht werden – Hauptsache, alle kommen mit. Möglich wird das durch ausgefeilte Zähltechniken und mechanisches Wiederholen. Aber am Ende sind das nur auswendig getanzte Konstrukte. Und wehe, die Musik passt nicht exakt zum Zählen – dann bricht das Kartenhaus zusammen.

Das zweite Problem dabei: Die Schüler werden nie mit dem Wie der Bewegung konfrontiert – mit dem Modus, dem Aussehen, der Qualität. Reflexion darüber? Fehlanzeige. Denn das könnte ja zur Ernüchterung führen. Also lautet die Devise: Vermeide jede Auseinandersetzung mit dem eigenen Bild im Spiegel, die macht nur unzufrieden.

Das Ergebnis ist absehbar: schlechte Technik und schwache Ausdruckskraft. Deshalb sehen viele ADTV-Schüler auch nach Jahren des Übens aus wie unbeholfene Hopplhäschen. Hauptsache Spaß – aber der Tanz bleibt oberflächlich.

Was bleibt – wie immer das Mittelding?

Am Ende läuft es – wie so oft – auf ein Mittelding hinaus. Nicht nur nett, nicht nur brutal ehrlich, sondern konsequent verbindlich und authentisch. Ein Lehrer muss sagen, was Sache ist, aber ohne das Bedürfnis, sich an seinen Schülern abzuarbeiten. Und ja: manchmal gehört auch ein freundliches Schulterklopfen dazu, manchmal aber eben auch ein klarer Hinweis – „so geht das nicht“.

Für mich heißt das: nicht in Watte packen, nicht herunterputzen, sondern ehrlich bleiben. Authentisch. Denn wer nur nett ist, wirkt irgendwann unglaubwürdig. Und wer nur kritisiert, zerstört Motivation. Beides zusammen – Verbindlichkeit und Authentizität – ist unbequem, aber letztlich der einzige Weg, wie Lernen überhaupt funktionieren kann.

Und was die Fehler angeht: die passieren sowieso. Wichtig ist nur, wie wir damit umgehen. Entweder wir verdrängen sie und tanzen weiter wie bisher – oder wir nehmen sie ernst, reflektieren, lachen auch mal über uns selbst und machen’s beim nächsten Mal anders. Mehr braucht’s eigentlich nicht.

3 thoughts on “Gedanken über Tango-Unterricht | 22. Teil

    • Author gravatar

      Hallo Klaus,
      korrigiere mich, wenn ich das falsch sehe, aber: Dein Beitrag klingt für mich nach sehr viel Sprechen. Aber beim Tango geht es doch viel mehr ums Fühlen. Deswegen tanze ich im Zweifelsfall lieber mit einem Schüler und versuche ihm den Unterschied zu seinem eigenen Ansatz zu zeigen. Wenn er selber spürt, dass sich die Schrittfolge nun stabiler, fließender, präziser, kontrollierter, weniger anstrengend, … anfühlt, dann bekommt er viel eher eine Idee davon, wo es hingehen soll, als wenn ich es ihm nur mit Worten erkläre.
      Mit dem Ansatz hatte ich auch noch nie Probleme damit, dass mir jemand eine Kritik übel genommen hätte. Denn es ist keine Kritik in dem Sinne „Du machst das falsch!“, sondern ein Hinweis zur Verbesserung „Probier mal, das so zu tanzen. Spürst Du den Unterschied?“.
      Liebe Grüße,
      Helge

      • Author gravatar

        Hallo Helge,
        mal eine Gegenfrage: Wo in meinem Artikel könnte man darauf schließen, dass in meinem Unterricht viel gesprochen wird?
        Und ja, ich spreche hier über Kritik im Unterricht – also darüber, ob man eher nett oder ehrlich Rückmeldung gibt. Das schließt für mich das Lernen über das Fühlen keineswegs aus. Im Grunde habe ich in meinem Beitrag genau das erklärt, was Du auch in Deinem Kommentar beschreibst.
        Das heißt nicht, dass bei mir nur verbal geübt wird – ich halte im Unterricht schließlich keine Dia-Vorträge. Aber: Wenn ich in einer Unterrichtsstunde jedem Schüler ausschließlich durch Tanzen über „Fühlen lassen“ Korrektur-Feedback geben würde, käme ich bei 16 Personen mit 5 Minuten pro Kopf schon an die zeitlichen Grenzen. Mit wenigen, gezielten Worten kann ich hingegen jedem in seiner jeweiligen Situation eine punktgenaue Korrektur geben. Das ist für mich eine Frage der Erfahrung – etwas, wofür andere vielleicht eine halbe Stunde benötigen würden.
        Außerdem: Wie soll ich in der Rolle als folgender Tanzpartner gleichzeitig ein so sensibles Feedback inklusive Korrektur vermitteln, wenn es nur um die Form geht? Und ein Schüler fühlt ja auch den Unterschied, wenn er sich an eine verbale Anweisung hält.
        Positiv gesagt: Mach es so, wie es für Dich stimmig ist.
        Lg. Klaus

        • Author gravatar

          Sehe ich ähnlich (aus der Schüler-Perspektive): Es gibt kein Entweder-Oder. Etwas körperlich erleben ist genauso ein wichtiger Baustein wie eine Beschreibung. Es gibt selten den einen „Durchbruch“, ab dem dann alles ideal funktioniert. Dazu sind die realen Situationen auf der Piste zu vielfältig. Wenn ich eine Art durch Sprache (UND durch früheres Erleben) erzeugtes inneres Leitbild habe, kann ich meine aktuelle Situation besser wahrnehmen und in Richtung „allmählich besser“ steuern.

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