
Tango oder Fußball?
Seit meiner Kindheit hadere ich mit dem Fußball, weil ich schon als Kind lungenkrank und kurzatmig und deshalb auch gesundheitlich nicht aktiv fussballtauglich war. Ich wollte, aber durfte nicht Fussball spielen. Tango tanzen hingegen konnte ich einige Jahre später schon. Heute beobachte ich eine zunehmende Kommerzialisierung in beiden Metiers.
Das erste durch Fußball bedingte Kinderleid waren für mich kurzfristig abgesagte Fernsehsendungen, die irgendeinem Länderspiel zum Opfer fielen. Welt- und Europameisterschaften hatten aber in meiner Jugend etwas magisches, denn die Straßen waren leergefegt, alle hingen an diesen Röhrenfernsehern, dessen Bildschirme in den Ecken von Dorfkneipen so dunkel und klein, so verschwommen wirkten, dass man auf die Kommentartoren angewiesen war, die noch die einzelnen Spielzüge der Spieler ansagen konnten, weil das Spiel noch so langsam war. Franz Beckenbauer konnte als Libero noch 5 Sekunden nachdenken und bedächtig schauen, wer freistand, ohne von anderen bedrängt zu werden. Das Wort-Duo „Müller/Tor!“ war dagegen nicht zu trennen, weil eben Gerd Müller die Tore schoss.
Was mich als Kind vorwiegend am Fußball interessierte, waren die Sammelalben mit den Mannschaftsbildern einzelner Spieler, die man schon Monate im Voraus in Tüten kaufen und mit Mitschülern tauschen konnte. Bilder von Spielern wie Pelé, Eusébio oder Bobby Charlton hatten echten Wert; man brauchte Monate um ein Album mit dem letzten Bild komplettieren zu können. Dass man durch diese Sammelleidenschaft die Namen sämtlicher Nationalspieler der Welt auswendig kannte, war nur ein Nebeneffekt, der mich heute noch als Fußball-Fachmann der 60er Jahre erscheinen lässt.
Tango und Fussball gehören wohl in Argentinien zusammen, in Europa aber dagegen nicht so sehr.
Ansonsten war Fußball auf dem Dorf, außer dem Kirchgang, der einzige sonntägliche Treff der Dorfgemeinde, aber eher ein alkoholisiertes Vergnügen. Das Spiel der Mannschaften, meist Kreisklasse, erinnerte mehr an das Zufallsprinzip: Ballkontrolle war sehr selten, der Ball bestimmte das Spiel weil er rund war, selten dagegen die Spieler, die meist auch noch verkatert vom samstagabendlichen Kneipengang waren. Tore wurden beiläufig im Nachhinein lautstark „bebrüllt“, denn man bekam den Spielablauf im Nachhinein vom Stehnachbarn geschildert, weil man vom Spiel selbst nicht viel mitbekam. Das ganze Szenario bestand aus 22 Spielern und ca. 150 Schiedsrichtern oder Trainern. Die nach einem Sieg gesungene Hymne war, vom Vereinsnamen mal abgesehen, bei allen Dörfern gleich:
„Aber eins, aber eins, das bleibt besteh’n,
Rot-Weiß-[Dorfname] wird nie untergeh’n!“
Samstagnachmittage am Radio mit Live-Reportagen der Bundesliga hatten dagegen schon ihren Reiz. Diese Radiokommentatoren waren wahre Wortkünstler, konnten jeden Spieler schon vor dessen Ballkontakt benennen und machten die Spiele als Hörerlebnis spannender als wenn man direkt zugeschaut hätte. Es waren und sind immer noch journalistische Meisterleistungen. Die Zuschauer-Wahl zum Tor des Monats in der ARD-Sportschau war auch ein Ereignis. Gibt’s das eigentlich noch?
Auch ein späterer Besuch bei einem Zweitligaspiel 1976 mit Schalke 04 gegen BVB Dortmund (damals noch mit Willi „Ente“ Lippens, Manfred Burgsmüller und Erwin Kostedde) in der berüchtigten Dortmunder „Südtribüne“ des Westfalenstadions, machten mich nicht zum Fußballfreund, denn die Rufe der Dortmunder Fans gegen die Schalker mit Worten wie „FC-Meineid“ gefielen mir überhaupt nicht. Was hatte das denn noch mit Sport zu tun?
Überhaupt assoziierte ich zuerst mit Fußball meist nur besoffene, grölenden Horden von Fans. Aber meine Anschauung änderte sich, denn es gab auch viele Fans, die nicht zum Mob gehörten. Für viele war ihre Treue zum Verein ihr Lebenselixier, Loyalität bis zum Lebensende.
Deshalb respektierte ich den Fußball, achtete dieses Hobby, weil es eben zum Leben in Deutschland dazugehörte.
Kommerz, Kommerz, Kommerz
Die zunehmende Kommerzialisierung des Fußballs spielte sich nach meiner Erinnerung 1971 zunächst in der Bundesliga ab, als mit dem „Meineid-Skandal“ wegen Spielmanipulation etliche Spieler gesperrt wurden; davon allein 11 Spieler der Schalke-Mannschaft.
Und später verkauften Top-Vereine die meist schon in China fabrizierten Fan-Artikel. Diese Devotionalien wie Club-Wappen oder andere Merchandising-Artikel waren nur noch mit einem offiziellen Markennamen verbunden und Omas handgestrickte Gelb-Schwarz-oder-Blau-Weiß-Schals sah man nur noch im Ausnahmefall. Dass ein Top-Fußballer wie Uwe Seeler mal nur für die Ehre und ein paar Hundert Mark für die Nationalelf gespielt hatte, wirkte wie ein Relikt aus dem letzten Jahrhundert. Dass er nicht im Alter ausgesorgt hatte und jahrelang für eine Sportschuhfirma als Vertreter arbeiten musste, ist schon ein Witz im Vergleich zu heutigen Spielern, die meist mit Maserati zum Training vorfahren. Ich will hier nicht von alten Zeiten schwärmen, aber die Unterschiede sind schon rasant.
Obwohl ich nicht fußball-affin war, habe ich oft Länderspiele angeschaut bis zur Weltmeisterschaft 2014. Das war aber dann das letzte Mal. 2018 hat sie mich nicht mehr interessiert. Nächstes Mal findet die WM sogar in der Wüste in klimatisierten Stadien statt, der Irrsinn kennt keine Grenzen.
Dass Fußball immer kommerzieller wurde, erkannte man zum Beispiel auch daran, dass Borussia Dortmund eine Aktiengesellschaft wurde und Bayern München den Meistertitel schon allein finanziell in der Tasche hatte, weil Bayern die konkurrierenden Mannschaften mit Spitzenspielern leerkauften, um in der Champions League oder in der Uefa-Pokal-Liga konkurrieren zu können. Von Steuerskandalen des Managers Uli Hoeneß, dem man das offensichtlich verzeihen konnte, weil er immerhin Bayern-Chef war, ganz zu schweigen.
Die Spitzenmanager der FIFA, Blatter und Infantino, erinnern an Mafiabosse – endlos gierig, skrupellos und machtbesessen.
Fußball in Zeiten der Pandemie
Zunehmend ekelte mich Fußball an, bis es mir in der beginnenden Corona-Pandemie zu krass wurde:
Während ganz Europa in der Pandemie verharrte, jeder Mensch in seiner Freiheit eingegrenzt wurde, viele Menschen mehr oder wenig solidarisch waren; während Bänder stillstanden und Daimler Kurzarbeitergelder direkt an seine Aktionäre ausschüttete, ging der Fußball weiter, wie in einem Paralleluniversum. Alles schien normal; auch, dass Fußballer vor allen anderen getestet wurden, dass sie vor teilweise leeren Stadien spielen durften und es so schien, als wenn die Pandemie den Fußball gar nicht berühren würde. Die Arroganz mancher Manager, die offenbar gar nicht mehr mitbekamen, dass da draußen wohl eine Seuche ihr Unwesen trieb, tat ihr Übriges dazu, mir den Fußball zu vergällen. Mal abgesehen von Fußball-Pressekonferenzen mit unzähligen Sponsorenlogos im Hintergrund, mit mies gelaunten Managern und Trainern, mit einem Gehabe, als wenn sie über die reale Zukunft von Ländern entscheiden müssten.
Ich hatte schon lange genug von dieser Sportart.
Aber bei dieser Europameisterschaft und beim Verschweigen der Toten, die dem Bau der Qatar-Stadien zum Opfer fielen, hat der kommerzielle Fußball seine wahre Fratze gezeigt: er geht offenbar über Leichen!
Obwohl in Großbritannien die Pandemie wieder im Vormarsch ist, lässt es aus rein kommerziellen Interessen zu, dass die Stadien voll sind und zu wahren Superspreadern fungieren können. Die EM findet auch nicht in einem Land statt, sondern in mehreren, sodass scheinbar ein „Super-Zuschauer-Mixcocktail“ eine europaweite Verbreitung der Delta-Variante absichtlich beschleunigen soll.
Wir warten wieder geduldig auf den nächsten Lockdown, der kommen wird und meinem Geschäft, meiner Tangoschule, den Rest geben wird. Der Fußball wird ja weiterlaufen, unberührt. Was kratzt es die UEFA, die FIFA und die Top-Vereine, wenn der Zirkus ja auch ohne Stadienzuschauer zu funktionieren scheint und man sich die Taschen trotzdem weiterhin mit TV-Lizenz-Tantiemen vollstopfen kann? Auch das Aufbegehren der Fans gegen die geplante Super-Liga ist nur ein kleiner Lichtblick. Sie wird, ob kurz oder lang, doch kommen.
Geld und Gier sind eben zu mächtig. Kein Politiker wagt es, dem Fußball die Stirn zu bieten.
Dabei machte die UEFA auch noch obendrein den Kniefall vor Potentaten wie Orban, in dem man die Regenbogenfahne zum politischen Symbol erklärte.
Tango und Fussball
Sabrina & Ruben Veliz – „tango y futbol“
In Argentinien gehören der Tango und ‚futbol‘ zusammen. In Europa war das wohl nie der Fall. Nur wenige Tangotänzer sind wirkliche Fußballfans. Fußball ist wohl vielen zu prollig.
In beidem jedoch, im Fußball international und im Tango zumindest in Europa, ist eine zunehmende Kommerzialisierung zu beobachten.
Erstmalig schadet der Fußball nicht nur der Gesundheit der Allgemeinheit, die Kommerzialisierung des Tangos schadet auch der Tangokultur, und der Fußball schadet durch die vermehrte Infektion in Europameisterschafts-Stadien indirekt dem Tango.
Aber der Tango und der Fußball gehen langsam an der zunehmenden Kommerzialisierung zugrunde.
In Zeiten der Pandemie wurden die Tangostudios als die Träger der Tangokultur betrachtet, man glaubte sogar, laut einem Video, dass der Tango selbst bei Wegfall dieser Tangoschulen auch sterben würde.
(Um es mal klarzustellen: Ich selbst halte wöchentliche Tangokurse oder Prácticas nicht für eine Kommerzialisierung, sondern betrachte sie zumindest in Deutschland als notwendige Kulturpflege, egal, ob die Tango-Lehrer davon leben oder nicht.)
Heute betteln jedoch einige Tangostudios in Berlin um ihre Tangoschüler, man ist sich sogar nicht zu schade zu sagen „…wir brauchen Euch!“ Das fällt ihnen jetzt erst auf?
Dass aber der Tango zumindest in Deutschland schon lange ein Konsumgut statt Kulturgut einer gehobenen Einkommensschicht geworden ist, in der man offenbar glaubt, Tango könne man kaufen, ist beim ganzen Geldverdienen mit Tangoreisen für Wohlhabende, mit Massenworkshops mit Gastlehrern oder in Encuentros wohl einigen nicht aufgefallen. Marathon-Veranstalter müssen mittlerweile auch um ihre Kundschaft buhlen. Nur noch wenige können sich eine Vorauswahl ihrer Gäste wirtschaftlich erlauben.
Momentan setzt eine Öffnungswelle neuer wöchentlicher Milongas ein. Allein in meiner Umgebung 6 neue Milongas. Wo übrigens dafür die nötigen Tänzer herkommen sollen, die auch nach der Pandemie noch nicht wieder in die Milongas zurückgekehrt sind, kann mir niemand erklären. Um nicht von diesen Neueröffnungen überrollt zu werden, muss ich wohl mithalten. Ich habe allerdings auch die nötige Schülerzahl, um eine kleine Milonga zu füllen.
In diesem Jahr habe ich mich zum ersten Mal über den vorzeitigen Rauswurf der deutschen Nationalelf gefreut, weil dadurch dann weniger Deutsche in Stadien mit Covid-19 infiziert werden.
Offenbar ist es aber schon zu spät: der Lockdown scheint unausweichlich.
[Update: inzwischen erinnerte mich eine Leserin daran, dass mein Wunsch nach weniger deutschen Fans in überfüllten Stadien nach dem Ausscheiden der deutschen Nationalelf wohl ein Wunschdenken bleiben wird, denn viele Karten sind ja schon lange im Voraus verkauft, ohne dass die Fans wirklich wissen, wer denn letztendlich zum Beispiel im Viertelfinale gegeneinander spielen wird. Da hat sie völlig Recht.]
Ich werde mir jedenfalls vorerst kein kommerzielles Fußballspiel mehr ansehen; es sei denn, da tut sich was und die Fans revoltieren endlich.
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Ich bin vor gut 22 Jahren direkt vom Fußball zum Tango gewechselt. Klingt etwas verrückt, war aber so. Ich betrieb den Rasensport schon seit meinem sechsten Lebensjahr mit großer Begeisterung, war aber später mehr in der freien Liga aktiv, weil ich keinem Verein beitreten wollte.
Wie auch immer. Nach meinem ersten Tango Crash Kurs in der „Kaue“ in Gelsenkirchen war ich so angetan vom Tango Argentino als Musik und Tanz, dass ich unbedingt und möglichst bald einen wöchentlichen Trainingsabend besuchen wollte. Es gab davon aber zu dieser Zeit im Ruhrgebiet nicht so viele in meiner Nähe. Genauer gesagt war der einzige Kurs genau an dem Abend, an dem wir uns immer zum Fußball trafen. Da ich mich sowieso schon länger zu alt für die Balltreterei fühlte, fiel mir die Entscheidung nicht wirklich schwer. Und ich habe sie bis heute nicht bereut.
Was mir allerdings gleich bei meiner ersten Milonga auffiel war, dass nur wenige Führende ein Blick für ihre Mittänzer hatten. Ihre sozialräumliche Konzentration lag in der Regel nur bei ihrem Partner oder ihrer Partnerin. Nicht nur für die Anfänger lag der (Tanz)Raum um sie herum und die Menschen darin meistens außerhalb ihres räumlichen Konzentrationsbereiches. Für einen Fußballer unvorstellbar. Ich war darauf trainiert immer zu schauen wo meine Mitspieler waren. Gute Spieler versuchen nie nur den Ball unter Kontrolle zu halten, sondern immer auch die Situation auf dem Spielfeld.
Die Suche nach dem freien Raum war dabei die Hauptaufgabe für ein zügiges Nach Vorne Spiel, ohne dass es nun mal keine Tore gibt. Die technische Meisterschaft besteht dabei darin, die anderen geschickt zu umspielen und/oder ihnen auszuweichen und nicht sie umzurennen. Natürlich ist Fußball kein Tango, weil eine Ronda das Gegenteil von einem Angriffsspiel ist. Aber meine fußballerische Aufmerksamkeit für den freien Raum und die Mittänzer hat mir, seitdem ich bei meiner neuen Bewegungsleidenschaft durch viel Übung und Praxis endlich statt auf meine Füße nur noch auf die Musik und die Menschen um mich herum zu achten brauchte, bis heute sehr geholfen.