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Über das Musikerlebnis als entscheidenden Faktor bei der Priorisierung von Tangomusik

Über das Musikerlebnis als entscheidenden Faktor bei der Priorisierung von Tangomusik

Wie Gefühle und Erinnerungen unseren Musikgeschmack prägen – und warum das im Tango besonders stark wirkt

In der Tango-Community wird oft darüber gestritten, welche Musik im Unterricht und auf Milongas gespielt werden sollte – traditionell, modern oder gemischt.
In meinem Artikel „Gedanken über Tango-Unterricht | 18. Teil – Über tänzerische Schlichtheit, Códigos, Musik und volle Tango-Pisten“ erhielt ich dazu einen Kommentar von Blogger Jochen Lüders, der mich nachdenklich gemacht hat:

„Du bist wie ein Musiklehrer, der seinen Schülern klassische Musik nahebringen möchte und ihnen nur Aufnahmen aus den 40er Jahren vorspielt, weil er (durchaus mit guten Gründen) der Meinung ist, dass Furtwängler der beste Dirigent aller Zeiten war. Da kannst du noch so viel ‚vermitteln‘ und über ‚feine Phrasierungen‘, ‚unerreichten Klang‘ und sonstwas dozieren, du wirst die meisten deiner Schüler nicht erreichen und deshalb scheitern.“

Zuerst war ich etwas sauer – woher will er wissen, ob ich damit scheitern werde?
Außerdem ordnete ich ihn vorschnell als jemanden ein, der mit der EdO-Musik auf Kriegsfuß steht und sie sogar für den Niedergang der Tangoszene verantwortlich macht – ausgehend, wie ich damals annahm, vor allem von seinem persönlichen Musikgeschmack.

Diese Einschätzung erwies sich jedoch als voreilig, denn später stieß ich auf einen sehr guten Artikel von ihm zu diesem Thema. Darin trifft er viele Punkte erstaunlich gut – greift aber aus meiner Sicht am Kern vorbei, weil er das komplexe Zusammenspiel aus Emotion, Bewegung und Erinnerung sowie die Rolle des persönlichen Empfindens völlig außen vor lässt.

(Denn bei solchen Kritiken gehe ich manchmal in mich und reflektiere – ganz im Gegensatz zu einem Kollegen, der jede, auch berechtigte Kritik, mit atemberaubenden Ausreden abbügelt, was ihm den Ruf eines Rechthabers eingebracht hat.)

Hier der Link zu seinem Artikel – und ich empfehle ihn vollständig zu lesen, da ich ihn nicht durch herausgelöste Zitate verstümmeln möchte:
https://jochenlueders.de/?p=17307

Jochen Lüders’ Kritik an Edo-Fans

Viele Unterstellungen, auch eine fehlende Einschätzung der Klangqualität von Tango-Orchestern der Época de Oro.
Neben einigen kritischen Einwänden gegen die Kritikfähigkeit von „Edologen“ behauptet Lüders, es sei aufgrund der völlig unterschiedlichen Aufnahmetechniken heute nahezu unmöglich zu sagen, wie die Musik damals wirklich geklungen habe.

Auch da irrt er!

Ich habe mehrmals das Orchester O.T.R.A. aus Rotterdam live gehört und dazu getanzt – einmal im P.A.C.T. Zollvereinin Essen und ein weiteres Mal 2005 bei einem Tango-Ball in der Stadthalle Wuppertal.
Außerdem erlebte ich Sexteto Mayor, Osvaldo Pugliese, das letzte Orchester Juan D’Arienzos unter Leitung von Lazari im „Las Argentinas“ in Buenos Aires sowie weitere Formationen.

Natürlich haben die meisten EdO-Fans solche direkten Vergleiche nicht, doch zu behaupten, es sei unmöglich zu wissen, wie die Orchester geklungen haben, ist schlicht falsch.


Ursprung und Kontext (Anfang 2000er)

  • Die OTRA (Orquesta Típica de Rotterdam) war eng verbunden mit dem Rotterdams Conservatorium (heute Codarts) und dessen Fachbereich World Music / Argentine Tango.
    Sie agierte als Tango-Bigband, in der Studierende und Lehrende gemeinsam musizierten, unter Leitung unter anderem von Leo Vervelde. Ziel war es, klassische argentinische Tangoorchester der „Golden Age“-Periode (1940er/50er Jahre) möglichst authentisch nachzubilden – und auch neue Kompositionen aus Buenos Aires, Paris oder Rotterdam aufzuführen.
    Es handelte sich dabei eher um ein Ausbildungs- und Aufführungsensemble, nicht um eine private Musikschule im herkömmlichen Sinn.


Entwicklung und aktueller Stand

  • Zwischen 2003 und 2007 trat OTRA regelmäßig bei Konzerten und Milonga-Abenden auf, unter anderem im PACT Zollverein (Essen) mit der „OTRA Gran Orquesta Típica“.

  • Auch heute existiert das Ensemble als Teil des Curriculums von Codarts Rotterdam (Weltmusik-Abteilung) und besteht aus Dozierenden und Studierenden.
    OTRA spielte beispielsweise bei der Tango Music Night am 3. Dezember 2024 und tritt weiterhin regelmäßig auf.

  • Im April 2024 war OTRA Teil des Wanderlust-Festivals, wo es zusammen mit Studierenden auftrat.


Bedeutung für den Klangvergleich

Das Besondere an dieser großartigen Formation ist, dass sie exakt die bekanntesten Titel der Época de Oro im Stil der jeweiligen Original-Orchester nachspielt.
Hört man OTRA, ist der Unterschied zu den historischen Aufnahmen – abgesehen von der technischen Qualität – kaum wahrnehmbar. Die Live-Sound-Qualität ist hingegen sensationell.
Daraus lässt sich sehr wohl ein präzises Bild ableiten, wie die Originalorchester geklungen haben dürften.

Aber natürlich gibt es noch andere Orchester dieser Klasse, wie z.B.: 

Wenn ich ganz ehrlich meine Meinung dazu äußern darf, kommen so manche  zeitgenössische, kleinere Orchester im Vergleich da einfach nicht mit. Aber ein Vergleich ist auch unfair,  weil kaum ein Veranstalter Orchester in dieser Größenordnung engagieren, also bezahlen könnte.

Zur eigentlichen Frage

Nachdem der erste Ärger verflogen war, blieb für mich eine grundsätzliche Frage im Raum:
Erreichen wir als Tango-Lehrende unsere Schüler:innen überhaupt, wenn wir ihnen vor allem die Musik vorspielen, die wir selbst bevorzugen?

Denn im Tango ist Musik nie nur Klang. Sie ist immer auch Bewegung, körperliches Empfinden, Partnerkontakt und Atmosphäre.
Schon im Unterricht verbinden sich bestimmte Orchester untrennbar mit den ersten Schritten, mit kleinen Erfolgen, mit dem Spaß über eine gelungene Figur – aber auch mit Momenten der Unsicherheit oder gar Frustration.

Diese frühen Erfahrungen prägen den eigenen Musikgeschmack oft stärker, als uns bewusst ist.
Und genau hier sehe ich den Punkt, der in Jochens Analyse fehlt: Es geht nicht nur um Gewöhnung oder Gruppendruck, sondern um ein tiefes, verkörpertes Erleben, das Emotion, Bewegung und Erinnerung zu einem untrennbaren Paket schnürt.
Wer diese Dimension ausklammert, versteht nur einen Teil der Mechanismen, die dazu führen, dass viele Tänzer:innen ein Leben lang an „ihrer“ Musik festhalten.

Wie Musikprägung im Tango entsteht

Psychologisch betrachtet gibt es viele Studien zu Musikgeschmack, aber im Tango kommt ein entscheidender Faktor hinzu: Wir erleben die Musik nicht nur passiv, wir bewegen uns im Takt, im Kontakt mit einer anderen Person, in einer räumlichen Atmosphäre, die selbst Erinnerungen speichert.
Das macht die Prägung besonders intensiv – und besonders langlebig.

1. Emotionale Konditionierung

Wenn ein Schüler die ersten gelungenen Drehungen zu Di Sarli tanzt oder zum ersten Mal einen rhythmisch fließenden Abend mit D’Arienzo erlebt, verknüpft das Gehirn diese Musik untrennbar mit positiven Emotionen.
Das ist ein klassischer Fall von evaluativer Konditionierung: Musik wird zum Trigger für Freude, Stolz oder Sicherheit.
Umgekehrt können negative Erlebnisse – etwa Unsicherheit oder eine unangenehme Tanzsituation – ebenfalls an bestimmte Musik gebunden werden und zu unbewusster Abneigung führen.

2. Verkörpertes Gedächtnis

Musik wird im Tango im Körper gespeichert.
Die Bewegungsabläufe, das Gefühl der Umarmung, die Spannung im Rhythmus – all das wird im sogenannten prozeduralen Gedächtnis abgespeichert.
Wenn dieselbe Musik später erklingt, ruft sie nicht nur Töne, sondern auch das Körpergefühl von damals wach.
Dieses verkörperte Erinnern verstärkt die Bindung an bestimmte Orchester und Arrangements.

3. Sozialer Kontext als Verstärker

Der soziale Rahmen prägt das Musikerleben stark – im Positiven wie im Negativen.
Anerkennung im Unterricht, unterstützendes Feedback oder gelungene Erlebnisse auf einer Milonga können eine dauerhafte positive Bindung an bestimmte Musik schaffen.
Umgekehrt können belastende Erfahrungen wie schlechter oder demotivierter Unterricht, Spannungen in der Lerngruppe, Kritik ohne konstruktive Begleitung oder ungünstige äußere Bedingungen diese Bindung schwächen oder sogar zu einer Abneigung gegenüber bestimmten Stücken oder Orchestern führen.

4. Stabilisierung durch Wiederholung

Wenn in den ersten ein bis drei Jahren fast ausschließlich ein bestimmtes Repertoire gespielt wird, stabilisiert sich die emotionale Bindung daran.
Andere Stile oder moderne Aufnahmen wirken dann „fremd“, nicht unbedingt, weil sie schlechter wären, sondern weil ihnen die verkörperte Erinnerung fehlt.
Das ist der psychologische Kern des oft beschriebenen Taste Freezing.

Jochen Lüders hat zwar in seinem Artikel diese Verfestigung des Geschmacks (Taste Freezing) als Grund für die Bevorzugung bestimmter Musikrichtungen genannt, aber nicht die dahinterliegenden Ursachen,  wie hier beschrieben, näher beleuchtet. 

Was die Wissenschaft dazu sagt

1. Erinnerungshoch („Reminiscence Bump“) & nostalgische Präferenz

    • Menschen erinnern sich besonders lebhaft an Musik, die sie im Alter von etwa 10 bis 30 Jahren gehört haben. Diese Musik löst häufig stärkere Emotionen und ein tieferes Erleben aus – klar verbunden mit persönlicher Identität und Lebensabschnitten WikipediaThe Scholarly KitchenScholarWorks.
    • Diese Phase bildet die „Reminiscence Bump“, ein häufiges Phänomen in der Musikpräferenzforschung – erklärt perfekt, warum Hörerinnen und Hörer Erinnerungen aus ihrer Jugend mitmusizieren und emotional stärker reagieren Wikipedia.

2. Music‑Evoked Autobiographical Memories (MEAMs)

    • MEAMs bezeichnen persönliche Erinnerungen, ausgelöst durch bestimmte Musikstücke. Diese Erinnerungen enthalten oft starke emotionale Signatur, positive wie negative PMC+6Wikipedia+6repository.gatech.edu+6.
    • Musik kann beim Wiedererinnern die emotionale Färbung einer Erinnerung verändern – positive Erinnerungen noch positiver, negative können verstärkt oder umgedeutet werden Neuroscience Newsrepository.gatech.edu.

3. Emotion als Gedächtnisverstärker

    • Emotional geladene Musik verstärkt die langfristige Speicherung und Intensität von Erinnerungserlebnissen PMC.
    • Der Kahneman’sche „Peak‑end‑Rule“ zeigt, dass besonders starke emotionale Höhepunkte oder Enden (etwa ein besonderer Tangomoment) die gesamte Rückbewertung dominieren können – auch wenn der Rest des Abends weniger erinnerungswürdig war Wikipedia.

4. Mechanismen: Konditionierung & kultureller Kontext

    • Laut dem BRECVEM‑Modell bindet Musik Emotionen über verschiedene Mechanismen, z. B. evaluative Konditionierung (wiederholt positive oder negative Ereignisse gekoppelt mit Musik), emotionale Ansteckung oder visuelle Imaginationen Wikipedia+1Wikipedia+1.
    • Außerdem spielt kulturelle Vertrautheit eine Rolle: Musik, die in der eigenen Kultur/sozialem Milieu verankert ist, löst bevorzugt stärkere emotionale Reaktionen aus Wikipedia.

Zusammenhang mit „Taste‑Freezing“

Das Konzept, dass sich Musikkonsum verfestigt („musical paralysis“ oder „taste freezing“), insbesondere nach der Jugendphase, lässt sich damit erklären:

    • Einerseits durch den reminiscence bump – die Musik, die einen prägte, wirkt dauerhaft nostalgisch und emotional bedeutungsvoll reddit.com+1iflscience.com+1Wikipedia.
    • Andererseits durch emotionale Verbindung und autobiografische Erinnerungen (MEAMs), die auch schlechte Erlebnisse involvieren können – und damit eine bewusste oder unbewusste Blockade gegenüber Neuem begünstigen.
 

Warum das häufig im Tangokreis unberücksichtigt bleibt

Während in Tangoforen oft technische oder tanzbare Musikaspekte diskutiert werden (z. B. EdO-Spielqualität, Klangqualität, Rhythmus), wird die emotionale Bedeutung der Musik und deren Verknüpfung mit persönlichen Erinnerungen selten ausdrücklich thematisiert – obwohl genau diese Faktoren erklären können, warum bestimmte Orchester oder Aufnahmen eine besonders starke Festigung des Musikgeschmacks bewirken oder umgekehrt aufbrechen können.

Heranführen an komplexe Musik

Ich möchte nicht behaupten, dass allein die emotionale Bindung ausschlaggebend ist.
Musikgeschmack kann sich auch entwickeln – wenn man Musik erklärt, analysiert und so ein Verständnis aufbaut.

Ein Beispiel aus meinem Leben:
Als Kind habe ich Oper gehasst. Mein Vater hörte sie regelmäßig, und wenn Anneliese Rothenberger oder Anna Moffo bei Kuhlenkamps EWG auftraten, war der Fernsehabend für mich verdorben.
Heute bin ich leidenschaftlicher Opernfan – weil ich gelernt habe, diese Musik zu verstehen.

Jochen Lüders kritisiert:
Gerade weil ihr Musikgeschmack permanent in Frage gestellt wird („Wie kann man so ein Geschrammel mögen?“), stehen EdOlogen unter ständigem Rechtfertigungsdruck und können sich nur durch Ablehnung und Abwertung anderer Geschmacksäußerungen selber aufwerten. Sie postulieren eine „ästhetische Überlegenheit“: Wer die EdO Musik nicht schätzt, ist musikalisch nicht gebildet genug, um ihre Qualitäten zu würdigen.

(Ich würde erstmal sagen:
„…na klar, bei so einer dreisten Frage, käme ich auch in Rechtfertigungsdruck, denn „Geschrammel“ ist schon ein heftiger, abwertender Ausdruck für Musik, die ich mag.“)

Übertragen auf den Tango:
Wenn „EdOlogen“ die Vielschichtigkeit und Phrasierungen älterer Tangos loben, kann das zwar  Nachplapperei sein – aber auch das Ergebnis intensiver Beschäftigung.
Ich selbst habe Tango-Vorlieben nicht nur durch Tanzerlebnisse, sondern auch durch Zuhören und Analyse entwickelt.
Man hört mit „anderen Ohren“, wenn man die Feinheiten erkennt und tänzerisch umsetzen kann. 

Jochen Lüders beobachtet eben genau das nicht: 

Dass die Selbstinszenierung als EdO Musikkenner reine Fiktion und Selbsttäuschung ist, erkennt man darüberhinaus auch an der Tatsache, dass die meisten Paare sich komplett neben der Musik / dem Takt bewegen und eher zufällig mal einen betonten Taktschlag „treffen“. Es ist lächerlich, wenn Leute, die behaupten „feinste Phrasierungen“ herauszuhören und zu goutieren, nicht mal den primitiven Grundschlag / „Puls“ von gewöhnlichen Tangos hören bzw. ihn nicht in Bewegung umsetzen können.

Es mag sein, dass die besondere, oft gelobte  Raffinesse der EdO-Tangos nicht tänzerisch umgesetzt wird, aber, dass die meisten sich komplett nur zufällig auf dem Taktschlag bewegen oder ihn treffen, kann ich ihn den Milongas, die ich betrete, nicht bestätigen. 

Meine eigene Geschichte

Anfang der 80er Jahre lebte ich in Berlin, als sich gerade die erste Tangoszene entwickelte.
In einigen Kiez-Kneipen, bei mir war es die „Kastanie“ in der Charlottenburger Schloßstraße, lief als Hintergrundmusik Musik von Astor Piazzolla oder Juan José Mosalini.
Piazzolla war damals en vogue, gab Konzerte in der HDK und in Musikkneipen – ein echter Insider-Tipp.

Die Musik war ansprechend, doch die Tanzversuche einiger Selbstüberschätzer verdarben mir das Hörvergnügen.
Das war meine erste Prägung: Piazzolla-Tänzer können meist nicht tanzen – ein Eindruck, den ich bis heute oft bestätigt finde.

Für mich war diese Musik nicht tanzbar – düster, melancholisch, jazzig, komplex und ohne erkennbaren gemeinsamen Rhythmus.

Erst bei Juan D. Lange lernte ich Tango zu EdO-Musik kennen – und da war das Eis gebrochen. Bewegungen ergaben Sinn, Ästhetik und Rhythmus fügten sich zusammen. Meine Tango-Leidenschaft begann – mit traditioneller Tangomusik.

Aber es gibt auch gewisse Tango-Titel, die bei mir auf Grund schlechter Erlebnisse, die ich mit ihnen verbinde, schlechte Gefühle verursachen, denn ich habe dann sofort bestimmte Bilder aus meiner Erinnerung vor mir. So wie eine besonderer Geruch Kindheitserlebnissen hervorrufen kann.  

Der Einfluss der Tangoschulen und öffentlichen Tango-Events

Ein Kritiker schrieb mir:

„Natürlich erfüllen viele der historischen Orchester der EdO die Kriterien guter Tanzbarkeit – wenn auch mit klanglichen Einschränkungen. Aber auch zahlreiche zeitgenössische Ensembles erfüllen diese Kriterien. Nur hören Lernende sie so gut wie nie, und dadurch wird eine zeitgemäße musikalische Entwicklung der tanzbaren Tangomusik stark erschwert.“

Das ist nicht von der Hand zu weisen.
Wenn Tänzer:innen & Lernende fast ausschließlich historische EdO-Aufnahmen hören, entsteht eine einseitige Prägung. Selbst wenn moderne Aufnahmen ebenso tanzbar sind, fehlt ihnen oft der emotionale Bezug aus der eigenen Tanzpraxis.

Ich habe das selbst erlebt: In meiner Anfangszeit tanzte ich fast nur zu traditioneller Musik und entwickelte eine starke Bindung an diese Klänge. Zeitgenössische Aufnahmen habe ich erst viel später bewusst einbezogen – und merkte, wie schwer es war, denselben Zugang zu finden.

Aber warum spricht uns unbekannte Musik manchmal an – und manchmal nicht?

Warum uns unbekannte Musik manchmal sofort anspricht und manchmal nicht, hat mehrere Ursachen, die in der Forschung gut belegt sind. Ein zentraler Faktor ist der sogenannte Mere‑Exposure‑Effekt: Je häufiger wir ein Musikstück hören, desto vertrauter wird es uns, und desto eher empfinden wir es als angenehm. Diese Wirkung hat jedoch Grenzen, denn nach einer bestimmten Zahl von Wiederholungen kann das Interesse wieder abnehmen. Neben der reinen Gewöhnung spielt auch die Struktur der Musik eine wichtige Rolle. Unser Gehirn reagiert besonders positiv, wenn Musik Erwartungen weckt, Spannung erzeugt und diese auflöst. Solche Muster aktivieren das Belohnungssystem und führen dazu, dass wir komplexere oder ungewohnte Stücke, deren Aufbau wir einmal verstanden haben, als besonders reizvoll empfinden.

Ein weiterer Einflussfaktor ist die kulturelle Prägung: Musik aus dem eigenen kulturellen Umfeld wirkt oft zugänglicher und emotional bedeutsamer, während fremde Musik zunächst distanziert wirken kann. Durch gezielte und wiederholte Begegnungen, eingebettet in einen passenden Kontext, lässt sich diese Barriere jedoch abbauen. Auch persönliche Eigenschaften spielen eine Rolle. Menschen mit hoher Offenheit für Erfahrungen, ausgeprägter Neugier oder Empathie lassen sich meist schneller auf unbekannte Musik ein, während andere mehr Zeit benötigen – unabhängig von objektiver Qualität oder Tanzbarkeit. Schließlich ist auch das soziale Umfeld entscheidend. Wer in einem Kreis tanzt, in dem neue Musik geschätzt und regelmäßig eingebunden wird, entwickelt eher Interesse daran. Umgekehrt kann ein Umfeld, das ausschließlich vertraute Klänge bevorzugt, die Entdeckung neuer Musikstile unbewusst bremsen.

Für den Tango bedeutet das: Ob uns ein unbekanntes Stück erreicht, hängt nicht nur von seinen musikalischen Eigenschaften ab, sondern ebenso davon, wie oft und in welchem sozialen und emotionalen Rahmen wir ihm begegnen.

Eigentlich lande ich jetzt argumentativ in einem Plädoyer für neue Tango-Musik-Stile, obwohl ich mir das umgekehrt vorgestellt hatte, denn rein gefühlsmäßig hänge ich noch sehr an EdO-Tangos: Taste Freezing! Aber ich betrachte mein Plädoyer als Lernfähigkeit.

Fazit – Musik ist mehr als Klang

Ob EdO, zeitgenössische Ensembles oder Neo-Tango – entscheidend ist nicht allein, was wir hören, sondern wie wir es erleben.
Musik im Tango ist immer ein Gesamtpaket aus Klang, Bewegung, sozialem Kontext und persönlicher Erinnerung.
Diese Faktoren wirken oft stärker als objektive Kriterien wie Aufnahmetechnik oder musikalische „Qualität“.

Für Lehrende und DJs bedeutet das:
Wer den Einfluss von Musikprägung versteht, kann Brücken schlagen – zwischen Tradition und Moderne, zwischen persönlicher Vorliebe und dem, was Lernende neu entdecken können.
So entsteht Vielfalt statt Einseitigkeit, und die eigene Musikauswahl wird nicht zum Gefängnis, sondern zur Einladung, den Horizont zu erweitern.

Für Streithähne über die „richtige“ Tanzmusik heißt das: 
Reflektiert mal, welche Erfahrungen und Assoziationen Euren Musikgeschmack geprägt haben?
Oder: Habt Ihr Euch eure Lieblings-Tangos (auch) wirklich durch guten Musikalität-Unterricht oder durch intensives Zuhören und Analyse erschlossen?

8 thoughts on “Über das Musikerlebnis als entscheidenden Faktor bei der Priorisierung von Tangomusik

    • Author gravatar

      Hallo Klaus,
      danke für diesen sehr guten Artikel und auch für Deinen reflektierten Umgang mit dem Thema und den kritischen, im Ton nicht immer lieblichen Kommentatoren. (Das gelingt nicht jedem, auch mir nicht immer;-) Auf diesem sachlichen Level Argumente auszutauschen, sich mit den Meinungen der Anderen fundiert auseinanderzusetzten, öffnet unseren Blick und Horizont.
      Beneidenswert welche von den großen Tangomusikern du noch erleben durftest. Ich war zu dieser Zeit ein riesengroßer Fan von Barockmusik, gespielt in historisch informierter Aufführungspraxis, wie man es heute nennt. Diese Art des Musizierens hat sich in zufälliger Weise ungefähr in den gleichen Jahren entwickelt, wie auch der Tango hier wiederentdeckt wurde. Die Musiker haben logischerweise überhaupt keine klanglichen Überlieferungen als Vorlagen. Mir haben immer die Ensembles besser gefallen, deren Arrangements musikantischer und mit einer eigenen Handschrift gestaltet waren. Ähnlich geht es mir bei den zeitgenössischen Aufnahmen der Tangoensembles. Da mag ich die mit kreativem Können arrangierten Stücke deutlich mehr, wenn ich dabei trotzdem eine respektvolle Auseinandersetzung mit den Werken der alten Meister wahrnehme, die dann meist in einer eigenen, wieder erkennbaren Handschrift münden.
      Als ein Beispiel dafür möchte ich das `Orquesta Silbando` nennen. Sie spielen neben historisch eher genauen Stücken und trotzdem mit einer ganz leicht eigenen Note (ich glaube sie wollen da zeigen, dass sie das locker drauf haben) d`Arienzo und Pugliese , wie z.B. „Rie Payaso“, „Yapeyu“ , „Loca“ ,“Zum“ auch deutlich hörbar eigene Arrangements, von Pugliese inspiriert. Für mich ganz großes Kino. Beim Chemnitzer Tangofestival 2025 konnte ich tatsächlich eine d´Arienzo und eine Pugliese Tanda mit Pepa Palazon zu Silbando tanzen, unglaublich wie sie als Folgende die musikalische Führung übernehmen kann ohne aus der Verbindung zu gehen. Und natürlich nimmt sie noch musikalische Akzente war, die ich da schon mal übertanzt hätte. Der Bezug zum Thema ist, dass Pepa ihren Musikalitätsunterricht nur zu den Aufnahmen der klassischen Orquesta´s der EdO gibt, aber mit großem Genuss und Spaß bei diesem zeitgenössischen Ensemble getanzt hat.
      Sehr gefreut habe ich mich, das Du als Bild für diesen Beitrag, eines von Marisol Martinez verwendet hast. Sie ist für mich tatsächlich die beste Tangosängerin unserer Zeit mit ihrer tiefen, nuancenreichen Stimme, die ich gern mit einem schweren komplexen Rotwein vergleiche. Großartigst: „Yo no sé que me han hecho tus ojos“ mit dem ´El Cachivache Quinteto´ und natürlich vieles, vieles mehr.
      Grüße, Leo

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      Der emotionale, sinnliche Genuß ist aus meiner Sicht primäres Ziel und Maßstab für Musik, erst recht von Tanzmusik. Die Kopfstärke eines Orchesters bringt Vorteile, realisiert werden sie aber erst, wenn auch die passende Mentalität – Dienstleister für Tänzer – dazukommt. Was wir heute an EdO-Musik nutzen, ist das Resultat des damaligen Evolutionsdrucks. Auch bei den besten Zeitgenossen ist zwischen den musikalischen Zeilen noch das Musiker-Ego wahrnehmbar, das um Gestreicheltwerden bittet. Aber wer weiß: die Zeitgenossen könnten sich weiterentwickeln, oder vielleicht werden sie auch von KI-generierten Combos überholt, die mit di Sarli & Co. trainiert wurden.

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      Lieber Klaus,
      danke für diesen Text.
      Dagegen ist die Satire von Herr Riedl nur heiße Luft.

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        Hallo Peter,
        ein bißchen differenzierter würde es mir auch helfen. Denn so hört es sich an, dass ich mit dem Beitrag nur „satirischer“ wäre, weil Riedl überhaupt nicht satirisch ist. Und dann wäre dein „Lob“ auch nur eine bittere Pille.
        Lg. Klaus

    • Author gravatar

      Der OTRA Sound ist wirklich klasse, da ist Leben in der Bude.
      Aber auch ohne großes Orchester macht das Cuarteto Rotterdam großartige Musik, die sich vor dem Original nicht verstecken muss: https://www.youtube.com/watch?v=uImudiYvPwM

    • Author gravatar

      Ausgezeichneter Artikel, habe einiges dazugelernt!

      > „Brücken schlagen – zwischen Tradition und Moderne, zwischen persönlicher Vorliebe und dem, was Lernende neu entdecken können.“

      Ja genau, darum sollte es gehen: Musikalische „Vielfalt statt Einseitigkeit“!

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