
Piazzollas Musik als Tanzmusik?
Diesen Beitrag habe ich am 11. Dezember 2018 auf dem Blog „Mylonga“ von Thomas Kroeter geschrieben (http://kroestango.de/aktuelles/tanz-den-piazzolla/), nachdem ausgiebig über die Tanzbarkeit der Musik von Astor Piazzolla diskutiert wurde. Wohlgemerkt: jede Musik von ihm und nicht nur manche Titel.
What makes me moving? Piazzola tanzbar?
Seit den 60er Jahren, seit Astor Piazzolla seine ersten Versuche machte, seinen Tango Nuevo zu etablieren, wurde diskutiert, ob er damit die Grenzen des Tangos überschreiten würde, weil man in frage stellte, ob Piazzollas Tangos tanzbar seien oder nicht. Astor Piazzolla trug ja zumindest in Berlin Anfang 1980 zur Wiederbelebung des Tangos bei, denn zu dieser Zeit war seine Musik ja in vielen Kneipen sozusagen als Hintergrundbeschallung zu hören. Seine Konzerte in der HdK und diversen Musikkneipen und ein Sternartikel über die aufkeimende Tango-Szene machten den Tango wieder zu dem Gesprächsthema in der Kulturszene in Berlin.
Piazzolla komponierte nach eigenen Aussagen seine Musik zumindest nicht zum Tanzen, die Tänzer waren ihm wahrscheinlich egal, weil diese – jetzt in der Minderheit – nicht mehr über Erfolg oder Misserfolg durch Kauf oder Kaufverweigerung entschieden. Das Hörerpublikum sollte angesprochen werden.
Piazzolla wollte endlich die kompositorische Freiheit, die ihm bis dahin durch das musikalische Diktat der „Tanzbarkeit“ versagt blieb.
Tanzbarkeit, was heißt das?
Die Unterscheidung „tanzbar – oder nicht“ ist irreführend oder zumindest zu radikal, denn eigentlich lässt sich jede Musik tanzen. Zumindest choreografisch! Der Begriff Tanzbarkeit bezog sich auf die in den 40-50er Jahren gebräuchliche analog sichtbare ad-hoc-Interpretation zur Musik der EdO.
Was bedeutet „Tanz“?
Wikipedia:
Tanz, in der Regel auf Musik ausgeführte Körperbewegungen,
Tanz (von altfranzösisch: danse, dessen weitere Herkunft umstritten ist) ist die Umsetzung von Inspiration (meist Musik und/oder Rhythmus) in Bewegung.
Die eigentliche Diskussion ist meiner Auffassung nach nicht durch die Frage entstanden, ob Piazzollas Musik tanzbar ist oder nicht, sondern deshalb weil es in der tango-tanzenden Gemeinde unterschiedliche Auffassungen darüber gibt, was Tanzen überhaupt bedeutet:
A*: ist es einfach nur Bewegung die durch Inspiration der Musik entsteht?
B:* ist es sich nach außen sichtbare Umsetzung des Gehörten in Bewegung?
(wer genau wissen möchte, was damit gemeint ist, sollte sich mal das Video (Gustavo Naveira & Giselle-Ann „Don Juan“ von Carlos Di Sarli, Link: https://youtu.be/s5FOjT959J0) anschauen. Hier sieht man eine Choreographie, die so ausgetüftelt ist, als wenn eine besondere Partitur speziell für die Tänzer geschrieben worden wäre.)
*im folgenden Text werden ich nur noch die Erläuterungen zu A oder B beziehen.
Bei A wäre der Tänzer völlig frei, ob mit Umarmung oder nicht, musikalisch oder nicht, man könnte die normalen stilistischen Mittel eines Tangos völlig weglassen. Die Inspiration zur Bewegung wäre ausschlaggebend. Es ist ähnlich der Bewegungsform im Discotanz, das uns völlige Freiheit (zum Kennenlernen eines Partners nur innerhalb des Nichtlächerlichen tauglich) läßt. Dadurch ist, glaube ich, die Ableitung des Wortes „freies Tanzen“ entstanden. Wenn wir dies nun in einer Umarmung tun, dann kommt etwa das heraus, das einigen der ersten Versuche einiger Tangostänzer Angang der 80er Jahre in Berlin ähnlich sehen würde. Ich habe die Bilder noch vor Augen.
Bei B wird es schon deutlich schwieriger. Denn um das Gehörte umzusetzen, brauche ich Musikkenntnisse über das jeweilige Stück, dessen Stimmung, Akzente, Rhythmus oder Melodie, ich (auch) sichtbar machen möchte. Entweder setze ich dann das Stück choreografisch um, nach einem starren Schema, oder ich improvisiere die Bewegungen aus dem Musik-Gedächtnis, bzw. aus einer Ahnung des Voraushörbaren heraus. Die Musik könnte aber auch so gestaltet sein, dass sie dem Tänzer einerseits voraushörbare Hilfe gibt, sei es durch einen durchgehenden Taktschlag, eingängige Melodien, wiederholte Phrasen.
Wie beim klassischen Tango der EdO. Diese Musik war aber außerdem als Tanzmusik einzigartig, weil Melodie und Rhythmus der Instrumente meist identisch und deshalb dem Tänzer auch noch zusätzlich Wahlmöglichkeiten gibt, unterschiedliche Instrumente zu interpretieren oder gar durch weglassen (Pausen) nur Akzente zu tanzen.
Piazzollas Musik dagegen ist oft sprunghaft, jazzig, klassisch, der Grundtakt ist oft nicht hörbar, jähe „breaks“, kurzum: nur schwer voraushörbar. Da ein Führender in einem Tanzpaar die Musikakzente innerhalb eines Paares zur Kommunikation zumindest in einem gewissen Rahmen vorausplanen muss, mindestens 1 Taktschlag, ist das bei den meisten Stücken Piazzollas sehr schwierig, oder zumindest für B Tänzer sehr stressig.
Es gibt aber auch sehr eingängige Stücke von Piazzolla, die durchgängig einen Grundtakt haben oder eingängige Melodien, die gut tanzbar sind.
Musik von Piazzolla für alle Tänzer?
Die Frage ist nun, ob die Umsetzung jeglicher Musik von Piazzolla mit den Stilmitteln des Tangos der 40er Jahre improvisatorisch auf niedrigem Tanzniveau im Gewühl einer vollen Tanzpiste möglich oder sogar genussvoll sein kann?
Und genau hier liegen die Wahrnehmungen der einzelnen Parteien sehr weit auseinander:
Gruppe A hat damit keine Probleme, solange sich die Bewegungen in der Umarmung harmonisch anfühlen.
Gruppe B hat große Schwierigkeiten damit, aus Gründen der technischen Praktikabilität oder Sensibilität, weil sie ein ungutes Gefühl damit verbinden, wenn das nicht gelingt. (Übrigens Zuschauer auch, zumindest die, die eine optische Umsetzung erwarten; aber nicht jeder Tanz ist auch unbedingt für Zuschauer gedacht.)
Oft wird ja auch das Argument herangezogen, dass auch Showpaare zu Piazzolla tanzen. Hierzu muss man allerdings sagen, dass dies ja eine Performance ist, in der entweder das Stück choreografiert wird oder so gut improvisiert wird, dass es für den Zuschauer als musikalisch getanzt empfunden wird. Sieht man sich z.B. Chicho Mariano Frumboli & Juana Sepulveda mit dem Stück „Ave Maria“ von Piazzolla an (https://youtu.be/fCH2n3v66Fo), sind die Bewegungen so an die Melodie angepasst, das es musikalisch getanzt erscheint, denn es fehlt in diesem Stück jeder betonte Taktschlag. Dieses Video verführte jedoch viele A-Tanzpaare dazu, einfach nur im Zeitlupentempo zu tanzen. (Zumindest ein Versuch der Musik gerecht zu werden.) Aber Vorsicht, in diesem Vortrag von Chicho & Juana stecken mehr musikalische Umsetzung und Raffinesse als einfach nur „Zeitlupe“.
Fazit:
Seien wir alle, auch wir Tango-Klassik-Taliban, einfach mal pragmatisch und gelassener mit diesem Thema – und ich meine damit auch mich selbst, denn ich bin einer der vehementesten Gegner der „Piazzolla-Tanzerei auf Tangopisten“ gewesen. Haben wir einfach Respekt vor jedem Tanzpaar, in dem wir seine Art die Musik zu interpretieren (oder nicht), respektieren und uns nicht als Wertungsrichter aufschwingen. Wenn ein Paar auf die Tanzfläche geht und sich zur (oder während der) Musik bewegt, egal wie, ist das Tanz! Nicht in jedermanns Auge, aber zumindest im Gefühl dieses Paares.
„Wir führen in unserem Alltag fast ausschließlich zweckmäßige Bewegungen aus. Die einzige scheinbar unzweckmäßige Bewegung, die nur unserem Gefühlsleben Ausdruck verleiht, ist der Tanz, egal zu welcher Musik. Deshalb tanzen wir so gern.“
Und noch etwas: Wenn es uns Europäern doch schon allein genetisch unmöglich sein soll, den wahren Tango Argentino zu tanzen, dann kann es uns und den Argentiniern doch egal sein, wie wir es tun.
Klaus Wendel