
Die Umarmung im Tango – Attitüde oder Wunsch nach Nähe?
Diesen Artikel hatte ich bereits auf dem Blog von Thomas Kröter „Seid eng umschlungen Milongueres…“ in einer gekürzten Version veröffentlicht.
Die Umarmung im Tango – Attitüde oder Wunsch nach Nähe?
Warum wir uns öfter fragen sollten, welche Umarmung wir möchten (zu Zeiten von Corona vielleicht etwas fehl am Platz, aber für die Zukunft sicherlich interessant)
Meine Frage,…
…ob die enge Umarmung im Tango Attitüde ist oder einem Wunsch nach Nähe entspringt, ergibt sich aus Beobachtungen in Milongas in Europa und Buenos Aires, aus jahrelanger praktischer Beschäftigung mit diesem Thema im Tangounterricht sowie aus der eigenen Erfahrung beim Tanzen.
Viele Paartanzhaltungen (der Begriff „Umarmung“ ist insbesondere beim Tango geläufig) entstehen im Zusammenhang mit den Bewegungsformen und dem technischen Charakter eines Tanzes. Sie sind abhängig von gesellschaftlichen Normen und Gewohnheiten einer Gruppe, sind verbunden mit dem Grad der sexuellen Freizügigkeit und den Benimmregeln eines Kulturkreises.
Die Umarmung beim Tanzen war dabei lange die einzige gesellschaftlich geduldete körperliche Nähe zum anderen Geschlecht in der Öffentlichkeit, die sonst nur bei Ehepaaren akzeptiert wurde. Vielleicht hat gerade dieser Wunsch nach akzeptierter Nähe den Tango so beliebt gemacht.
Die Grundhaltung ist meist frontal gegenüberstehend mit den Armen in einer asymmetrischen Haltung, selten ist sie – und meistens nur bei großer Vertrautheit – eng umschlungen wie beim Tango.
Historie der Tanzhaltung
Aus tanzhistorischer Perspektive hat sich die tangotypische Umarmung aus vielen verschiedenen Tänzen entwickelt, zudem war sie immer wieder modischen Trends unterworfen und wurde an gesellschaftliche Normen und Bedürfnisse angepasst.
Eine Umarmung kann auch symmetrisch sein, wie beim französischen „Valse musette“, bei dem die Frau die Hände um den Hals des Mannes legt, während er die seinen um ihre Hüfte schmiegt (zu diesen typischen französischen Hafenwalzern mit Akkordeonklängen – Lydia Auvray lässt grüßen). Die Asymmetrie der Umarmung ist ein Relikt aus der Zeit, als der Mann seine Partnerin unter seinem linken Arm hindurchführte, so wie wir es heute noch vom Salsa, Lindy Hop und anderen offenen Paartänzen kennen. Da dies in geschlossenen Umarmungen oft nicht mehr stattfindet, ist die Asymmetrie eigentlich obsolet und wurde nur aus Gewohnheit aufrechterhalten (manchmal sehr aufrecht – ich erinnere an den bei manchen Tangotänzern beliebten „Fuchsschwanz-Arm“, der ähnlich wie die Manta-Antenne hochragt). Die Asymmetrie in der Tango-Umarmung führt jedoch bei den meisten Paaren zu einer Asymmetrie der Tanzschritte, denn bestimmte Schrittpositionen lassen sich auf diese Weise nur schwer ausführen, insbesondere wenn die Arme der offenen Seite verkrampft sind. So fällt ein großes Repertoire an Bewegungsmöglichkeiten weg, die zu der einen Seite leichtfallen, zur anderen Seite jedoch Schwierigkeiten bereiten.
Beim Tango ist die Umarmung auch noch Mittel zur Kommunikation, man geht auf Tuchfühlung, um die Bewegungen des Partners zu erspüren – damit ist die Umarmung geradezu Voraussetzung des Tanzes.
Die Attitüde
Attitüde (von französisch attitude:, Haltung, Verhalten, Gebaren, Einstellung) nennt man in der Kunst die Haltung, Stellung oder Lage menschlicher Figuren, eine Positur oder eine Gebärde (Wikipedia).
Wenn man nun versucht, aus – streng genommen – obsoleten Gewohnheiten eine Funktion für den Tanz abzuleiten, ergeben sich bald Schwierigkeiten. Denn hier droht die Umarmung zur bloßen Attitüde zu werden, die nicht mehr den Wunsch der jeweiligen Partner nach wirklicher Nähe, der Bewegungsdynamik oder der Musik entspricht. Die Form folgt hier nicht der Funktion oder dem Bedürfnis, sondern wird zum Selbstzweck.
Nach meinen Beobachtungen entspringt die zur Attitüde gewordene Umarmung oftmals dem Wunsch, sich einer Tanzbewegung oder Haltung optisch anzugleichen, ohne deren Nutzen oder Bequemlichkeit für sich überprüft zu haben. Das ist teilweise auch verständlich, wenn zum Beispiel ein Anfängerpaar eine Gruppe guter, erfahrener Tänzer sieht, die vorwiegend eng tanzen, möchte dieses Anfängerpaar natürlich auch genau so erfahren wirken und imitiert die beobachtete Umarmungsform, obwohl dieses schwierige Unterfangen noch nicht erlernt und tänzerisch verarbeitet wurde. Auch fortgeschrittene Paare unterliegen hin und wieder diesem Mechanismus.
Modische Trends? Ja!
Auch ist die Tangoumarmung modischen Trends unterworfen, die jeweiligen Epochen zeigen viele Variationen. Bei Beurteilungen in Tango-Wettbewerben scheint jedoch die Umarmung eine sehr große Rolle zu spielen, so scheint die Regel «¡nunca rompas el abrazo!» (Übers.= «zerstöre» niemals die Umarmung) ein unumstößlicher Grundsatz im «Tango de Salón» – also eine heilige Kuh – in der formalen Welt der «dos and don’ts“ – der Wettbewerbsregularien – zu sein.
Nähe als Intention
Als Beispiel einer möglichen Intention – hier der Wunsch nach Nähe – möchte ich die oft beobachtete enge Umarmung nehmen, bei der das Paar die Köpfe während des gesamten Tanzes besonders nah zusammensteckt, fast so, als würde man miteinander schmusen wollen. In Buenos Aires nannte man diese zärtliche Haltung auch in den 80er Jahren „carita“ („Gesichtchen“), im Englischen auch „cheek to cheek“ – Wange an Wange. Diese Umarmung, die ja im kompletten Kontrast zur offenen Standardhaltung des Ballroom-Dance steht, gilt gemeinhin als typisch für den Tango Argentino. Eigentlich sollte man bei dieser Umarmung den Wunsch nach zärtlicher Nähe erahnen, bei der man ruppige und ausladende Bewegungen verhindern möchte, um das traute Beisammensein nicht zu stören. Das heißt, Intention und Bewegung sind im Einklang.
Video: Cheek-to-cheek by Fred Astaire & Ginger Rogers
Warum ich ausgerechnet dieses tango-fremde Videopassage ausgesucht habe, begründet sich aus der deutlichen Demonstration, was „zärtliches Wange an Wange tanzen“ eigentlich ist: nämlich kein „Kopf-aneinander drücken“!
Ist die nach innengekehrte enge Umarmung beim Tango also wirklich immer der Wunsch nach wirklicher Nähe? Oder auch eine zur schau gestellte Attitüde, die Hingabe vortäuschen soll? Wenn man das immer wörtlich nehmen würde, würde doch ein auf das wesentliche reduzierte choreografische Gerüst eines zu meiner Teenagerzeit verbreiteten „Klammerblues“ (auf der Stelle von einem Bein aufs andere schaukeln) völlig ausreichen, weil diese enge, vertraute Umarmung die „Schmusecouch“ nur auf die Piste verlagerte. Es geht mir nicht um das ‚entweder – oder‘, sondern um die konsequente Äußerung der Intention. Denn die oft erstrebte Fähigkeit, eine innige Umarmung mit einer virtuosen Schrittzauberei zu verbinden, gelingt doch wohl nur den wirklichen Artisten in der Tangoszene, die meisten Durchschnittstänzer scheitern daran. Von der erstrebten Bequemlichkeit ganz zu schweigen. Aber eigentlich haben sich ja auch der Umarmung angepasste Tangostile entwickelt, die beides miteinander verbinden konnten, nur wird das oft vielen Tangoschülern nicht ausdrücklich gesagt und das führt halt zu diesen Missverständnissen, die man oft beobachten kann. Die Form folgt dann eben nicht der Funktion.
Beobachtungen
Oft beobachte ich in Milongas, dass sich Paare nicht adäquat zu ihrer persönlichen Motivation oder Intention – also zu ihrem Bedürfnis nach Nähe, zu ihrer Bewegungsvorstellung und dem musikalischem Background – bewegen. Oft stehen die Bewegungen im Tanz oft sogar im Widerspruch zur gewählten Umarmung, die Bewegungsdynamik entspricht nicht der gewählten Umarmung. Insgesamt wird die Umarmung nicht gewählt, sondern wird als verpflichtend vorausgesetzt. Die vielfältigen Motive der Tänzer – ausgelassen, zärtlich, schritt-vielfältig, gegeneinander gelehnt (sogenannter Milonguero-Stil), musikalisch-dynamisch oder verträumt zu tanzen – diese Intentionen und die damit korrespondierende Wahl der Umarmungsform spielt bei einem großen Teil der Paare nur eine untergeordnete Rolle.
Stattdessen wird eine obligatorische Standard-Attitüde als Umarmung bevorzugt, (mitunter auch dem Partner aufgezwungen), ohne sich die Zeit zu lassen, sich auf eine der Situation und Musik angeglichenen Tanzhaltung zu einigen.
Funktionalität und Effektivität
Als letztes möchte hier ich noch auf einen dritten Aspekt der Umarmung – der Funktionalität und Effektivität – eingehen.
Da oft in vielen Bereichen, ob nun in der Kampfkunst, in der Architektur, im Industriedesigns und der Natur, die Form der Funktion folgt, ist die Entscheidung für eine Umarmung im seltensten Fällen der Funktion untergeordnet; sie spielt oft sogar leider bei ihrer Auswahl zwar eine entscheidende, aber nicht bewußte Rolle und unterliegt dabei trotzdem oft nur rein ästhetischen, formellen Gesichtspunkten.
Als ästhetische und elegante Umarmung gilt im Tango-Milieu die effektivste, also diejenige ohne sichtbare Führungssignale.
Da die Führungssignale bei offener wie auch bei geschlossener Umarmung sehr unterschiedlich sein können, können viele Tänzer oft nicht zwischen diesen Möglichkeiten wählen, weil sie extra gelernt werden müssen. Daher ist die Umarmung auch oft nicht bewußt gewählt, weil der Tänzer ja auch nicht unter verschieden Umarmungen wählen kann; die gelernte Umarmung scheint oft als die einzig mögliche. Daraus kann den Tänzern kein Vorwurf gemacht werden.
Sondern den Lehrern. Denn diese entscheiden oft schon im Anfängerkurs, schon durch die eigene gewählte Umarmung des Lehrers bestimmt, welche Umarmung die Schüler lernen sollen, ohne deren tänzerische Intentionen überhaupt zu kennen. Für die Lehrer ist der Tango einfach so wie sie ihn selbst tanzen, basta!
In einer Umfrage in einer Facebookgruppe fragte ich die Mitglieder nach Vorlieben, Erfahrungen und Wünschen bei der Umarmung. Die Antworten waren geschlechterspezifisch sehr unterschiedlich. Die Frauen konnten fast ausnahmslos die Wünsche nach einer entspannten, Freiheit bietenden Umarmung äußern, während Männer oft pauschalisierende Postulate äußerten, etwa dass sie ihre jeweilige Partnerin über die gewünschte Tanznähe entscheiden ließen – ganz caballero. Dass sie vielleicht bei dieser Entscheidung auch einen Anteil haben könnten, wurde nicht einmal in Erwägung gezogen.
Auch andere Phänomene kann ich schwer nachvollziehen. So zum Beispiel, dass Frauen, die kleiner sind als der Mann (bei mir eher selten) sich mit dem linken Arm um den Hals des Partners hängen und ihr Gesicht in dessen Kragen vergraben. Zum anderen aber auch, dass Köpfe zusammengepresst werden, selbst wenn sich eine Person weit zurücklehnt. Interessanterweise ist diese Haltung sehr unbeliebt, wird aber trotzdem hartnäckig weiter praktiziert.
Es gibt sicherlich noch viele Unbequemlichkeiten, die sehr verbreitet sind, aber nie offen thematisiert werden, diese zu thematisieren, scheint seltsamerweise Tabu zu sein.
Hierzu fand ich ein interessantes und zutreffendes Zitat von Yannik Vanhove:“One of the single biggest problems that we see today in the world of Tango is leaders using the Milonguero-style embrace while they’re trying to lead figures from Traditional Tango. That’s murder on the dancefloor! The followers’ back muscles can’t handle the pressure of the arm blocking the back while being invited to dissociate.”
„Eines der größten Probleme, das wir heute in der Tango-Welt sehen, ist die Verwendung der sogenannten Milonguero-Umarmung, während versucht wird, Figuren aus dem traditionellen Tango zu führen. Das ist Mord auf der Tanzfläche! Die Rückenmuskulatur der Folgenden kann nicht mit dem Druck des Armes umgehen, der den Rücken blockiert, während sie aufgefordert wird, zu dissoziieren.“
Fazit:
Auch hierzu wünsche ich mir von vielen Tangolehrer*innen, dass sie das Thema Umarmung ihr mehr Zeit im Unterricht widmen. Bitte lasst Eure Schüler*innen mit diesem Thema nicht im Stich, geht mehr auf deren Schwierigkeiten mit der Umarmung ein. Weil sich doch alles nur um die Umarmung drehen soll (Naja, vermutlich müssen wir wohl leider noch etwas warten).
Liebe Grüße
Klaus Wendel
3 thoughts on “Die Umarmung im Tango – Attitüde oder Wunsch nach Nähe?”
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Sehr guter Artikel! Vor allem der historische Abriss ist interessant.
> ist die Entscheidung für eine Umarmung im seltensten Fällen der Funktion untergeordnet
Genauso wichtig finde ich aber auch das Verhältnis von Musik und Umarmung. Ich tanze doch „Oblivion“ anders als einen Gotan Project Kracher. Diese „abrazo“ Fixierung verhindert zuverlässig jeden Spaß an flotterer Musik, weil man einfach keinen Platz hat, um z.B. etwas größere Schritte zu machen. Daraus schließen die meisten Leute dann, dass sie halt zu energiereicher Musik nicht tanzen können und wollen nur noch das lätscherte Gedudel haben, mit dem sie zurecht kommen. Auf die Idee, mal die Umarmung zu verändern und zu öffnen, kommen sie leider nicht.
> gegeneinander gelehnt (sogenannter Milonguero-Stil)
Viel schlimmer finde ich noch den „Estilo Apilado“ (vgl. http://www.tango-bar.ch/verbindung–umarmung-im.html). Der schaut bei den meisten einfach nur besch***** aus. Die Frau hängt mit Hohlkreuz durch und der Mann watschelt mit Entenarsch durch die Gegend.
Ja, sehr gut aufgearbeitet, das Thema. Es kann ebenfalls nichts Rechtes werden, wenn im Gruppenunterricht „Milonguero“ geredet, „Salon“ vorgemacht und „Escenario“ demonstriert wird.
Nur: muss man als Lehrer die Anfänger im Gruppenunterricht nicht erstmal auf einen gemeinsamen „Mittelweg“ zwängen damit kein Chaos ausbricht? Und kann allenfalls anreißen, dass bei Einzelunterricht oder vielleicht später bei einem sorgfältig ausgesuchten Workshop auch Anderes möglich wäre?
Lieber Klaus, sehr scharfsichtig und differenziert beobachtet, generelle Denkverbote und Dogmen sind schwierig und schaden der Community, aber sprechen hilft ja eigentlich immer! Danke für dein beständiges Arbeiten am Diskurs.