Kritik an der Kritik – und warum ich heute anders denke

Als ich vor ein paar Tagen meinen Blog wieder öffnete, las ich mir meine älteren Artikel durch und ich traute meinen Augen nicht: Das alles habe ich mal geschrieben? Es wird Zeit das mal thematisch neu zu behandeln, aber soweit kam ich erst garnicht. Da war zuerst das Thema „Gerhard Riedl“, das mich sehr beschäftigte. Nun haben mich die Ereignisse überholt:
Gerhard Riedl hat in seinem Blog auf einen alten Text von mir verwiesen – „Bäume und Wälder“ –, in dem ich mich recht unverblümt über Encuentros ausgelassen habe.
Er hat den Artikel genau gelesen. Und er hat Recht: Der Text ist hart. Kritisch. Mitunter spitz. Und ja – in Teilen auch unfair.

Damals dachte ich:
Ich äußere mich über eine Strömung im Tango, über eine bestimmte Tanzhaltung, eine musikalische Monokultur – nicht über Menschen.
Heute weiß ich: Man kann das kaum trennen.

Denn wer das, was Menschen tun – und lieben – öffentlich kritisiert, trifft sie damit auch persönlich. Und das ist ein Punkt, den ich lange unterschätzt habe.

Ich habe noch einige andere Themen in petto, die mein damaliges Denken revidieren. Die werde ich in zukünftigen Artikeln behandeln. Zum Beispiel der von mit kritisierte Tanzstil auf Encuentros und gefüllten Milongas, wenn man genauer hinsieht und differenziert, sieht man oberflächlich betrachtete Dinge plötzlich ganz anders.


Ja, ich war Teil dessen, was ich heute kritisiere

Ich war kein bisschen besser.
Ich habe mich auch für den klügeren Kritiker gehalten, habe mir erlaubt, über Dinge zu schreiben, an denen ich nicht selbst teilgenommen habe.
Ich habe über Encuentros geurteilt, ohne je einen erlebt zu haben. Ich habe mich auf Hörensagen, Gespräche, E-Mail-Zitate gestützt – und daraus meine Schlüsse gezogen.

Heute würde ich das so nicht mehr tun.
Nicht, weil ich plötzlich ein Fan dieser Veranstaltungen geworden bin.
Sondern weil ich verstanden habe:
Was ich für eine nüchterne Analyse hielt, war aus Sicht der anderen oft einfach ein Angriff.
Und weil mir klar wurde, dass ich die Tiefe eines Themas nicht allein aus der Ferne erfassen kann.


Menschen tanzen nicht aus Prinzip – sondern aus Sehnsucht

Noch letzten Freitag hatte ich ein langes Gespräch mit einem befreundeten Tanzpaar, das regelmäßig auf Encuentros geht.
Sie haben mir nicht mit Ideologie geantwortet, nicht mit Abwehr – sondern mit guten Gründen.
Mit Wärme, mit Überzeugung.
Und ich konnte zum ersten Mal verstehen, warum Menschen sich diesen Rahmen wünschen: Musik, Verlässlichkeit, gemeinsame Codes, ein vertrautes Setting.

Ob das mein Weg ist? Vielleicht nicht.
Aber wer bin ich, darüber zu richten?

Ein anderes Beispiel fällt mir dazu ein:
Vor zwei oder drei Jahren habe ich auf Facebook recht deutlich kritisiert, dass viele lernende Tanzpaare Workshops bei Gastlehrern besuchen – konkret vor einem Workshop eines sehr renommierten Tanzpaares im Ruhrgebiet.
Meine Beobachtung als Tangolehrer: Der Unterricht ist oft zu kurz, der Stoff zu dicht, das Gelernte verpufft. Spätestens montags im Alltag ist vieles vergessen. Das war meine ehrliche, über Jahre gewachsene Erfahrung – und ich hielt sie für übertragbar.

Was ich damals nicht bedacht habe:
Meine Kritik traf nicht nur ein Prinzip, sondern eine konkrete Veranstaltung. Und damit auch die Veranstalter – und die Teilnehmer:innen.
Ich habe später erkannt, dass Menschen Workshops nicht nur besuchen, um „Effizienz“ zu erreichen. Vielleicht geht es auch darum, das Paar tanzen zu sehen, Inspiration zu spüren, sich emotional zu verbinden – oder einfach in einer besonderen Atmosphäre gemeinsam Tango zu erleben.
Seitdem habe ich nie wieder öffentlich das Tun von Tänzer:innen kritisiert. Aus gutem Grund.
Denn mit Erfahrung kommt nicht nur Einsicht – sondern manchmal auch die Entscheidung, etwas bewusst nicht mehr zu sagen.


Ich lasse den alten Artikel online – und gerade deshalb stehe ich dazu

Ich habe den Beitrag von damals bewusst nicht gelöscht.
Nicht, weil ich ihn heute noch genau so schreiben würde.
Sondern weil er zeigt, wo ich damals stand – und wie sich Denken verändern kann.

Natürlich hätte ich ihn überarbeiten oder „entschärfen“ können.
Aber das wäre Fälschung gewesen.
Ich stehe zu meinen damaligen Worten – und ich stehe auch zu meinem heutigen Zweifel daran.
Das ist der Unterschied.


Urteile revidieren – das kann man üben

Es gibt einen feinen, aber entscheidenden Unterschied zwischen dem, was ich damals gemacht habe – und dem, was mich heute bei manchen stört:
Ich kann mein Urteil hinterfragen.
Ich lerne dazu.
Ich verzichte inzwischen darauf, andere öffentlich abzuwerten, nur weil mir ihr Zugang zum Tango nicht entspricht.

Ich glaube: Das ist nicht Schwäche. Das ist Entwicklung.


Lieber mitdenken als nachtreten

Dass Gerhard Riedl ausgerechnet diesen alten Text ausgräbt, passt ins Bild.
Es ist ein guter Schachzug – und ein berechtigter Hinweis.
Und dennoch bleibt ein Unterschied: Ich schreibe diesen Beitrag nicht, um mich zu verteidigen. Sondern, weil ich das Thema heute anders sehe.

Nicht aus Kalkül. Sondern aus Erkenntnis.
Ich muss niemandem beweisen, dass ich klüger bin als vor vier Jahren.
Aber ich kann zeigen, dass ich mich nicht davor fürchte, das auch zuzugeben.

Denn der Tango lebt nicht von Rechthaberei – sondern vom Zuhören, Verstehen, Spüren.
Und das gilt auch außerhalb der Ronda.


Klaus Wendel
April 2025

8 thoughts on “Kritik an der Kritik – und warum ich heute anders denke

    • Author gravatar

      Ich habe ja nun auch an diesem ganzen „Ding“ teilgenommen, mit zwei Seelen in meiner Brust.
      Nichts gegen pointierte Standpunkte – ich war da ja früher auch kein Chorknabe, und bin es gelegentlich immer noch nicht. Da gibt es aber Unterschiede – die liegen für mich im Unterschied zwischen „alles runtermachen“ und „eine bestimmte Position vertreten“. Vor allem habe ich inzwischen verstanden, daß die Tangowelt nicht der Ort für Nullsummenspiele ist.

      Daß Gerhard nun nach all den Provokationen mal an den Falschen geraten ist, war vorhersehbar, Rumheulen nutzt da auch nichts, und alberne Versuche, das irgendwie doch noch zu drehen, sind einfach nur peinlich. Ernsthaft – ich mochte ihn mal und finde immer noch, daß er Talent hat. Momentan sehe ich es aber leider so, daß er versucht, eine unhaltbare Position doch noch zu retten und sich dabei immer weiter verrennt. Das ist traurig. Ich hoffe, daß er doch noch die Kurve kriegt, bin aber ehrlich gesagt nicht sehr zuversichtlich.

      Einerseits wäre es sinnvoll, weiteres Kläffen aus der Pörnbacher Ecke einfach zu ignorieren – das Ganze folgt einem sehr leicht durchschaubaren Muster, und dazu gehört auch, Relevanz zu erbetteln, indem man versucht, andere Leute zu provozieren. Andererseits denke ich aber auch, daß da Zurechtweisung pädagogisch angebracht ist, weil solche Selbstdarstellungen ja eben nicht im Privaten, sondern im öffentlichen Raum stattfinden. Ich glaube zwar nicht, daß Gerhard über seine Fan-Bubble hinaus großen Einfluß hat, aber auch wenn er nur eine Handvoll Leute vergiftet, sind das immer noch zu viele.

      Für mich sieht die Lösung so aus: Ich kombiniere beides. Wenn Gerhard oberhalb einer gewissen Schwelle übergriffig wird, bekommt er eins drüber, das bekomme ich mit geringem Ressourcenaufwand hin. Unterhalb dieser Schwelle ignoriere ich ihn.

    • Author gravatar

      Und da wird die eigene Legende und die Agenda passend weiter gestrickt … (verzweifelndes Schulterzucken) (Facepalm) > 🤷‍♂️🤦🏼‍♂️

    • Author gravatar

      Lieber Klaus,

      ich habe gerade versucht, nachzulesen und zu verstehen, was da in den vergangenen Tagen passiert ist – gar nicht so leicht. Wenn ich es richtig verstanden habe, dann wollte Gerhard Riedl gegen eine großzügige Einladung von Christian Beyreuther anschreiben und hat sich den Unmut einiger Zeitgenossen zugezogen. Ich denke, man darf Gerhard Riedls Verhalten wohl als „narzisstische Färbung“ seines Grundcharakters interpretieren. Das habe auch ich mehrmals zu spüren bekommen. Es ist ihm schlicht unmöglich, die Faszination vom Tango (so wie er auf Encuentros getanzt wird) nachzuvollziehen. Es geht schlicht nicht. Da muss er sofort die Verbalkeule herausholen und dann geht es los. Kritisiert man dieses Verhalten, geht er sofort auf die Barrikaden und schreibt weiter dagegen an. Schlau finde ich seine Frau Karin, die durchaus Interesse an dem Unterricht hat und dieses bekundet. (Ich würde nicht eine Stunde bei Irgendwem – auch nicht bei einem Tangoweltmeister buchen, aber hilfreich ist es bestimmt.)
      Um die ganze Angelegenheit weniger paternalistisch klingen zu lassen, versuche ich, Gerhard Riedl zu verstehen und seine Ablehnung nachzuvollziehen. Da ist zunächst der Umstand des Wenigerwerdens, mit dem sich auch GR befassen muss. Zum anderen geht es um die Haltung, sich auf Mitmenschen im Tango einzulassen. Ich erinnere mich gut an einen Artikel in meinem Blog zu den Ideen des deutschen Soziologen Hartmut Rosa. Seine Ideen veranlassten mich zu einem Artikel: Resonanz und Stabilität – zwei Begriffe aus der Soziologie im Tango. Sofort wurden meine Gedanken von Gerhard Riedl kritisiert (Resonanz auf dem Ponyhof). Auch hier konnte man schon damals (2017) die Strategie von Gerhard Riedl gut erkennen. Er griff sich die akademische Definition von Resonanz heraus und veriss meinen Artikel – ohne sich im Kern mit der Idee auseinanderzusetzen.
      Wenn bei mir ein Artikel nicht rund wurde, dann habe ich ihn nicht veröffentlicht. So gab es beispielsweise ein Interview, was ich inhaltlich nicht gut fand. Um zu vermeiden, dass ich hätte deutlich werden müssen, habe ich es lieber nicht veröffentlicht.
      Ich denke, Gerhard wird sich nicht mehr mit den Ideen des sozialen Tangos auseinandersetzen können – dazu steht ihm sein Ego zu sehr im Weg. (Ob man dann allerdings jeden Gedanken im eigenen Blog in die Öffentlichkeit hinausblasen muss, steht auf einem anderen Blatt – aber diese Frage scheint seine Kritiker umzutreiben, Stichwort: Satire).
      Auch wir beide haben damals scharf anlässlich deines Artikels diskutieren müssen. Gerade frage ich mich, ob das notwendig war.
      Ich denke, Gerhard kann nicht mit der Meinung anderer Menschen umgehen – es ist ihm schlicht unmöglich. Sein absurdes Zensurverhalten online, seine apodiktischen Urteile und das Ausweichen auf Nebenschauplätze (Anzahl der Milongas, Anzahl der Artikel, Anzahl der Kommentare usw.) machen es ihm unmöglich.
      Was bleibt, ist die Hoffnung, dass neue Mitmenschen im Tango seine Ansichten nicht übernehmen, aber ich denke, da können wir entspannt sein – der Tango entwickelt sich vergleichsweise prima.
      Ich plädiere für eine größere Gelassenheit (auch wenn ich damit aus der paternalistischen Haltung Gerhard gegenüber nicht hinausfinde).
      Ich wünsche Dir noch schöne Ostertage …
      cassiel

      • Author gravatar

        „Empörung wird zur akzeptierten Norm. Das hat dann wiederum Auswirkungen auf gesellschaftliche und politische Debatten – und das alles wegen eines Nudelsalats im Waschbecken. Da weder Plattformen noch Politik etwas dagegen tun, bleibt für ­Use­r*in­nen nur eins: Don’t feed the troll. Denn: Stell dir vor, jemand macht Toiletteneier – und keiner kommentiert.”

        Passend zum Thema gab es heute einen Artikel in der Taz: Reichweite geht durch den Magen

        Darum scheint es Gerhard Riedl zu gehen: Aufgrund abstruser Argumentationen genügend Nebelkerzen zu werfen. Auch ein Weg, „Toiletteneier“ zu machen. Aber das angesprochene „Don’t feed the trolls“ scheint der richtige Weg zu sein. Schönen Abend!

        • Author gravatar

          Du meinst also, dass Riedl „Rage­bait“ betreibt und nur die Medien, in diesem Fall andere Blogger, wie wir, für die von ihm gepriesenen Zugriffsszahlen sorgen? Dieses Gerücht steht oft im Raum, aber man kann nicht alle Artikel von ihm als Toiletteneier bezeichnen, aber Riedl ist sehr gut darin zu triggern, indem er direkt Personen auf’s Korn nimmt. Ansonsten Dank für den Hinweis.

          • Author gravatar

            Ja, ich denke tatsächlich: Darum („Toiletteneier“) geht es Gerhard Riedl – da ist er dem derzeitgen amerikanischen Präsidenten nicht unähnlich. Vielleicht ist es ihm in seinem Pörnbacher Setting bislang verschlossen geblieben, aber es ist wohl so. Don’t feed the trolls! Wohl der einzige Weg, sich dieses anstrengenden Zeigenossens zu entledigen.

        • Author gravatar

          Ich sehe es lieber wie Thomas Kröter, der früher ein Tango-Blog betrieb. Dort schrieb er:
          „Gerhard R. hat in seinem Blog ein ziemlich schlichtes, aber umso wirkmächtigeres Prinzip entwickelt und perfektioniert. Mit einem Bild aus der Welt des Boxens: Er schlägt präzise knapp über die Gürtellinie. Dorthin, wo es weh tut. Auf diese Weise provoziert er Menschen, die weniger cool und kampferprobt sind,  zu Regelverletzungen. Postwendend und mit Unschuldsmiene prangert er dann deren Unfairness an.“
          (vgl. http://kroestango.de/aktuelles/gerhard-r-der-pluvianus-bavarius-der-tangoszene, 1.11.2019, Abrufdatum 21.4.2025)

          Dieses Wirkprinzip überschneidet sich durchaus mit dem Streben nach Reichweite. G.R. ist zu Recht stolz auf die Zugriffszahlen auf sein Blog. Und ich schätze mal, dass er gerade eben wieder traumhafte Peaks erreicht, dank der großen Empöreritis.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..

Diese Seite verwendet Cookies, um die Nutzerfreundlichkeit zu verbessern. Mit der weiteren Verwendung stimmst du dem zu.

Datenschutzerklärung