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Gedanken über Tango-Unterricht | 37. Teil

Gedanken über Tango-Unterricht | 37. Teil

Musikalität vor Repertoire-Vielfalt

Ich lese immer wieder, man solle sich als Führende oder Führender nicht allzu viele Gedanken über mangelndes Repertoire machen. Das ist grundsätzlich richtig – und doch nur die halbe Wahrheit. Hinter diesem gut gemeinten Rat steckt oft ein Missverständnis: Viele Tänzer glauben, bei ihrer Partnerin Eindruck zu schinden, indem sie ihr möglichst den gesamten „Werkzeugkasten“ vor die Füße kippen. Nach dem Motto: Schau mal, was ich alles kann.

Dass viele Folgende jedoch erst einmal ankommen wollen, den Partner „lesen lernen“ möchten, wird dabei gerne übersehen. Sensibilität wäre hier angesagt. Und ja: Musikalisches Tanzen kommt fast immer besser an als reine Figurenabfolge. Nicht, weil es spektakulärer wäre, sondern weil es seltener ist. Musikalität wird im Unterricht häufig vernachlässigt – nicht aus Bosheit, sondern weil sie das schwierigste Thema im Tango ist. Technik lässt sich zeigen, erklären, korrigieren. Musikalität dagegen ist sperrig, langsam, unerquicklich. Also entsteht der Eindruck, Technik sei wichtiger, weil ihr mehr Zeit gewidmet wird.

Repertoire-Zurückhaltung allein ist allerdings kein Ausweg. Wer glaubt, mit möglichst wenig Bewegungsmaterial automatisch musikalisch zu tanzen, irrt ebenso. Spätestens nach dem hundertdreißigsten Rebote merkt jede Partnerin, dass da nichts mehr kommt – weder tänzerisch noch musikalisch. Eintönigkeit bleibt Eintönigkeit, auch wenn sie vorsichtig ausgeführt wird.

Ich habe kürzlich in einer Milonga einen Tänzer beobachtet, der offenbar Probleme mit seiner Partnerin hatte und deshalb in den Sicherheitsmodus schaltete: abwesender, verträumter Blick, sanftes Schaukeln, eine endlose Ocho-Cortado-Dauerschleife. Umarmungs-Bubu. Man konnte ihm förmlich ansehen: Lieber Gott, lass diesen Tanz bald zu Ende gehen. Manche Tangos dauern gefühlt zwei Stunden. Ein kleines Wunder, dass seine Partnerin in der Musikpause so abrupt wieder ins Leben zurückfand.

Dabei hätte es wenig gebraucht: eine Pause, ein Atemholen, eine minimale musikalische Differenzierung. Kein neues Element, keine zusätzliche Figur – nur ein ernst genommenes Hinhören. Genau das hätte dem Tanz Würze verliehen.

Und hier liegt das eigentliche Dilemma des Musikalitätsunterrichts: Die Schulung des Gehörs, das Erkennen und Umsetzen von Nuancen, wird erst bei Tänzern mit viel Erfahrung wirklich fruchtbar. Anfänger sind damit schnell überfordert. Also motiviert man sie lieber mit einer Sacada als mit einem unscheinbaren synkopischen Detail. Kurzfristig wirkt das. Langfristig rächt es sich.

Musikalität ist kein Beiwerk und kein Luxus für Fortgeschrittene. Sie ist das, was Tango vor dem Absaufen im Repertoire rettet.

Warum Technik ohne Musik leer bleibt

Technik ist im Tango notwendig. Punkt. Ohne Technik kein Gleichgewicht, keine Umarmung, keine saubere Führung, keine Orientierung im Raum. Wer das bestreitet, romantisiert Unvermögen. Aber: Technik ist Mittel, nicht Inhalt. Sie ist das Alphabet – nicht der Text.

Im Unterricht wird Technik oft behandelt, als sei sie der Tanz selbst. Achsen, Schritte, Drehungen, Fußarbeit, Figurenabfolgen. Alles korrekt, alles erklärbar, alles überprüfbar. Technik ist dankbar: Man kann sie zeigen, korrigieren, benoten. Man sieht sofort, ob etwas „richtig“ oder „falsch“ aussieht. Das beruhigt Lehrer wie Schüler.

Musik dagegen entzieht sich dieser Klarheit. Sie lässt sich nicht abprüfen wie ein sauber gesetzter Schritt. Man kann hören – oder eben nicht. Man kann reagieren – oder ignorieren. Genau deshalb wird sie im Unterricht gerne an den Rand geschoben oder in wohlklingende Allgemeinplätze verpackt: „Hört auf die Musik“, „tanzt musikalisch“, „lasst euch tragen“. Das hilft niemandem.

Technik ohne Musik produziert einen leeren Tango. Bewegungen laufen dann unabhängig von dem, was gerade erklingt. Der Körper spult Programme ab, die irgendwann einmal gelernt wurden. Das Ergebnis ist korrekt, manchmal sogar elegant – aber innerlich tot. Die Musik wird zum Hintergrundgeräusch, zur Tapete, vor der sich Bewegung abspielt, ohne von ihr wirklich berührt zu werden.

Man erkennt diesen Zustand sofort:
Der Tanz verändert sich nicht, egal welches Orchester läuft.
Die Dynamik bleibt gleich, auch wenn die Musik Spannung aufbaut oder loslässt.
Phrasen werden ignoriert, Pausen übertänzelt, Akzente plattgewalzt.

Das ist kein individuelles Versagen, sondern ein strukturelles Ergebnis von Unterricht, der Technik priorisiert und Musikalität vertagt. Wer jahrelang lernt, was er tanzen kann, aber kaum wann und warum, wird genau das liefern: Bewegung ohne Bezug.

Besonders fatal ist, dass diese Leere oft mit „Sicherheit“ verwechselt wird. Viele Tänzer fühlen sich sicher, wenn sie wissen, was als Nächstes kommt. Musik hingegen ist unberechenbar. Sie verlangt Aufmerksamkeit, Präsenz, Entscheidung im Moment. Das macht unsicher – und genau deshalb wird sie gemieden.

Dabei entsteht musikalisches Tanzen nicht durch mehr Figuren, sondern durch weniger Automatismus. Durch das Zulassen von Lücken. Durch das Aushalten von Momenten, in denen man noch nicht weiß, was kommt. Technik kann dabei helfen – aber nur, wenn sie sich der Musik unterordnet.

Ein Tango, der technisch sauber und musikalisch leer ist, ist kein schlechter Tango. Aber er bleibt bedeutungslos. Austauschbar. Vergessbar. Man hat getanzt – und nichts erlebt.

Warum Musikalität im Unterricht systematisch zu kurz kommt

Dass Musikalität im Tango-Unterricht zu kurz kommt, ist kein individuelles Versäumnis einzelner Lehrer. Es ist ein strukturelles Problem. Und genau deshalb hält es sich so hartnäckig.

Der erste Grund ist banal: Musikalität lässt sich schlecht unterrichten. Zumindest schlecht im klassischen Sinne von vormachen – nachmachen – korrigieren. Man kann Schritte zählen, Achsen ausrichten, Fußwinkel korrigieren. Man kann sogar Drehgeschwindigkeiten vergleichen. Aber man kann niemandem das Hören abnehmen. Wahrnehmung ist nicht delegierbar.

Musikalität verlangt Zeit. Viel Zeit. Wiederholung. Langeweile. Rückschritte. Phasen, in denen scheinbar nichts passiert. Das steht im krassen Gegensatz zur Erwartungshaltung vieler Kursteilnehmer, die „etwas lernen“ wollen – im Sinne von: etwas Neues, etwas Sichtbares, etwas Vorzeigbares. Eine Sacada sieht man. Eine Pause hört man nur, wenn man gelernt hat zuzuhören.

Dazu kommt ein pädagogisches Dilemma: Musikalität funktioniert erst dann wirklich, wenn eine gewisse technische Sicherheit vorhanden ist. Wer noch damit beschäftigt ist, nicht zu stolpern, kann keine Nuancen hören. Also schiebt man das Thema nach hinten. Später. Für Fortgeschrittene. Für „irgendwann“. Das Problem: Dieses Irgendwann kommt oft nie. Stattdessen verfestigen sich Automatismen, die später nur mühsam wieder aufgebrochen werden können.

Ein weiterer Punkt ist die Rolle des Lehrers. Musikalität verlangt vom Lehrer eine klare eigene Haltung zur Musik. Nicht nur Wissen über Orchester, Phrasen und Strukturen, sondern eine persönliche Beziehung zur Musik. Das ist unbequem. Technik kann man sich aneignen, auch ohne sie wirklich zu fühlen. Musikalität dagegen entlarvt. Wer sie unterrichtet, zeigt sich. Und nicht jeder Lehrer möchte oder kann das.

Hinzu kommt die Gruppendynamik. In einer gemischten Gruppe hören manche mehr, andere weniger. Geht man auf musikalische Feinheiten ein, verlieren sich viele. Der Unterricht zerfasert. Also nivelliert man. Man spricht allgemein, bleibt oberflächlich, reduziert Musik auf Zählzeiten oder Schlagworte. Hauptsache, alle kommen mit.

Und schließlich gibt es einen wirtschaftlichen Aspekt, über den ungern gesprochen wird: Musikalität verkauft sich schlecht. Sie lässt sich nicht in Wochenend-Workshops verpacken, nicht in klaren Lernzielen formulieren, nicht in schnellen Erfolgsmeldungen ausdrücken. „Heute gelernt: Sacada X“ ist greifbar. „Heute gelernt: eine Pause auszuhalten“ wirkt wie ein schlechter Witz.

Das Ergebnis ist ein Unterricht, der Bewegung produziert, aber kein Tanzen. Tänzer, die funktionieren, aber nicht reagieren. Und eine Szene, die sich wundert, warum Milongas trotz hoher technischer Kompetenz oft erstaunlich gleichförmig aussehen.

Was man auch Anfängern musikalisch zumuten kann

Der häufigste Irrtum im Tango-Unterricht lautet: Anfänger können noch nicht musikalisch tanzen.
Das stimmt so nicht. Richtig ist nur: Anfänger können noch nicht komplex musikalisch tanzen. Aber elementare musikalische Wahrnehmung ist von Anfang an möglich – wenn man sie ernst nimmt und nicht mit Technik erschlägt.

Was Anfängern fehlt, ist nicht das Gehör, sondern die Aufmerksamkeit. Sie sind beschäftigt: mit Balance, Richtung, Nähe, Schritten, Orientierung. Genau deshalb muss musikalische Arbeit einfach, klar und begrenzt sein. Nicht viel – aber bewusst.

Das Einfachste, was man Anfängern zumuten kann, ist das Ende von Phrasen zu respektieren. Nicht analysieren, nicht benennen, nicht erklären. Sondern: aufhören. Still werden. Einen Moment nichts tun. Für viele ist das bereits eine Zumutung. Bewegung fühlt sich sicherer an als Stille. Aber genau hier beginnt musikalisches Tanzen.

Ein zweiter Ansatz ist Gleichförmigkeit vermeiden. Nicht durch neue Figuren, sondern durch bewusste Variation derselben Bewegung. Ein Schritt langsamer. Einer kürzer. Einer mit Gewicht, einer fast ohne. Die Musik liefert die Vorlage – der Körper lernt zu antworten. Das funktioniert auch mit Gehen. Gerade mit Gehen.

Sehr wirksam ist auch, Musik zu trennen von Bewegung. Erst hören. Stehen. Wie lange dauert das Intro? Wann passiert etwas? Wann nicht? Anfänger sind oft erstaunt, wie viel in der Musik passiert, wenn sie nicht gleichzeitig versuchen, irgendetwas richtig zu machen. Dieses Staunen ist pädagogisch Gold wert.

Was man Anfängern nicht zumuten sollte, sind theoretische Erklärungen. Synkopen, Phrasenmodelle, Orchestervergleiche – das ist Ballast. Hören kommt vor Verstehen. Wer etwas gespürt hat, kann es später benennen. Umgekehrt funktioniert es nicht.

Ein weiterer Punkt: Musikalität darf nicht als Zusatzaufgabe daherkommen. Sobald sie formuliert wird als „Achtet jetzt auch noch auf die Musik“, ist sie verloren. Sie muss Bestandteil der Aufgabe sein. Zum Beispiel: „Geht nur so lange, wie es sich richtig anfühlt.“ Oder: „Hört auf, wenn ihr glaubt, die Musik hört auf.“ Falschliegen ist erlaubt. Korrigieren kann man später.

Entscheidend ist die Haltung des Lehrers. Wenn Musikalität als Nebensache behandelt wird, lernen die Schüler genau das. Wenn sie hingegen von Anfang an spüren, dass Musik der Maßstab ist – nicht die Figur –, entsteht ein anderes Lernen. Langsamer. Unbequemer. Nachhaltiger.

Anfänger müssen nicht viel musikalisch tanzen. Aber sie müssen lernen, dass Musik zählt. Alles andere ist Aufschub – und Aufschub wird im Tango schnell zur Gewohnheit.

Repertoire als Gewürz – nicht als Hauptgericht

Repertoire ist im Tango unvermeidlich. Wer tanzt, bewegt sich – und Bewegung braucht Formen. Das Problem ist nicht das Repertoire selbst, sondern seine Funktion. Sobald Figuren zum Selbstzweck werden, kippt der Tanz. Dann tanzt nicht mehr die Musik, sondern der Speicher.

Viele Tänzer sammeln Repertoire wie andere Briefmarken. Jede neue Figur wird als Fortschritt verbucht, unabhängig davon, ob sie musikalisch eingebettet werden kann oder nicht. Hauptsache neu. Hauptsache anders. Dass dabei oft immer dasselbe Timing, dieselbe Dynamik und dieselbe innere Haltung reproduziert werden, fällt kaum auf – solange genug Bewegung im Spiel ist.

Repertoire wird dann zur Beruhigung: Ich weiß, was ich kann.
Und genau darin liegt die Gefahr. Wer sich auf sein Repertoire verlässt, hört weniger zu. Er greift auf Bekanntes zurück, sobald Unsicherheit entsteht. Musik wird zur Kulisse, nicht zum Impulsgeber.

Sinnvoll eingesetzt, funktioniert Repertoire anders. Es ist kein Baukasten, aus dem man beliebig Teile zusammensetzt, sondern ein Vorrat an Möglichkeiten, aus denen man wenige bewusst auswählt. Gute Tänzer zeichnen sich nicht durch Vielfalt aus, sondern durch Reduktion. Sie können viel – zeigen aber wenig. Und genau deshalb wirkt das Gezeigte.

Ein Element gewinnt erst dann Bedeutung, wenn es nicht ständig benutzt wird. Ein Rebote, eine Sacada, eine Drehung – alles verliert seine Wirkung, wenn es inflationär eingesetzt wird. Wie Gewürze in der Küche: Zu viel davon macht das Gericht ungenießbar. Man schmeckt nichts mehr außer Schärfe oder Süße.

Für den Unterricht heißt das: Repertoire darf nicht als Belohnung verkauft werden. „Jetzt machen wir noch etwas Schönes.“ Diese Logik ist fatal. Sie suggeriert, dass Musikalität, Gehen, Pausen oder einfache Strukturen nur Vorstufen seien – etwas, das man hinter sich lassen muss, um „richtig“ zu tanzen.

Besser ist das Gegenteil: Repertoire als Werkzeug zur musikalischen Differenzierung. Eine Figur nicht lehren, um sie zu können, sondern um mit ihr etwas Bestimmtes auszudrücken. Warum gerade jetzt? Warum hier? Warum nicht später – oder gar nicht?

Wer so unterrichtet, wird weniger zeigen. Aber mehr bewirken. Die Schüler werden nicht schneller spektakulär – aber sie werden hörender. Und damit letztlich interessanter Tanzpartner.

Repertoire ist kein Beweis von Können. Es ist nur dann sinnvoll, wenn es der Musik dient. Alles andere ist Bewegungsrauschen.

Epilog: Was auf Milongas davon übrig bleibt

Was vom Unterricht auf Milongas übrig bleibt, ist gnadenlos ehrlich. Keine Korrekturen, keine Erklärungen, keine wohlwollenden Blicke. Nur Musik, Raum, andere Paare – und die eigene Wahrheit.

Man sieht dort sofort, wer gelernt hat zuzuhören und wer nur gelernt hat, sich zu bewegen. Der eine tanzt mit der Musik, der andere trotz der Musik. Der Unterschied ist nicht spektakulär, aber unübersehbar. Er zeigt sich in Pausen, im Umgang mit Dichte, im Respekt vor dem Ende eines Stücks. Und vor allem darin, ob ein Tanz nach drei Minuten vorbei ist – oder gefühlt nach einer Ewigkeit.

Milongas entlarven Repertoire-Fixierung schneller als jeder Unterricht. Figuren, die im Kurs noch Eindruck machen, werden im sozialen Tanzen monoton. Sicherheit schlägt um in Langeweile. Bewegungsfluss wird zu Bewegungsbrei. Niemand kann erklären, warum es nicht berührt – aber alle spüren es.

Musikalität dagegen fällt nicht auf. Sie drängt sich nicht auf. Sie reklamiert nichts. Und genau deshalb wird sie gesucht. Man tanzt ein paar Tandas – und weiß hinterher oft nicht mehr genau, was getanzt wurde. Aber man weiß sehr genau, wiees sich angefühlt hat. Das ist kein Zufall.

Auf Milongas zählt nicht, was man kann, sondern was man weglässt. Nicht, wie viel man tanzt, sondern wann man es nicht tut. Wer das gelernt hat, braucht kein großes Repertoire. Wer es nicht gelernt hat, wird auch mit hundert Figuren nichts sagen.

Die Musik hört immer zu.

11 thoughts on “Gedanken über Tango-Unterricht | 37. Teil

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      Sehr guter und wichtiger Beitrag. Einem Punkt muss ich aber vehement widersprechen: Musikalität muss keineswegs geführt werden. Jede(r) Folgende kann und sollte ihre eigene Musikalität mit- und einbringen. Guter (Musikalitäts-) Unterricht vermittelt den Folgenden, wie dies gelingt. Tanz ist ein Dialog.

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        Danke für den Einwurf – und für die Zustimmung im Grundsatz.
        Beim Punkt „Musikalität muss nicht geführt werden“ lohnt sich allerdings eine saubere Differenzierung.
        Natürlich ist Tanz ein Dialog. Und selbstverständlich bringen Folgende ihre eigene musikalische Wahrnehmung, ihren Körper, ihre Dynamik mit ein. Das bestreitet niemand, der länger als ein paar Monate Tango tanzt.
        Worauf ich hinauswill, ist etwas anderes: Im sozialen Tango wird musikalische Entscheidung zunächst initiiert.
        Nicht als Machtausübung, sondern als Angebot. Tempo, Struktur, Pausen, Richtungswechsel – all das muss jemand setzen, damit daraus überhaupt ein gemeinsamer musikalischer Raum entsteht. Ohne diesen Impuls bleibt Musikalität individuell, aber nicht gemeinsam.
        Dass Folgende darauf reagieren, variieren, verstärken, manchmal auch konterkarieren, ist Teil des Dialogs – aber erst nachdem etwas angeboten wurde. Zwei Menschen können nicht gleichzeitig unabhängig entscheiden und dennoch zusammen tanzen. Irgendjemand beginnt.
        Didaktisch wird das oft verwischt. Man spricht vom Dialog, übersieht aber, dass Dialog Struktur braucht. Ein gutes Gespräch lebt nicht davon, dass beide gleichzeitig reden, sondern davon, dass einer etwas sagt und der andere darauf antwortet – und umgekehrt.
        Guter Musikalitätsunterricht für Folgende bedeutet deshalb nicht, „einfach mitzutanzen“, sondern zu lernen, musikalische Angebote zu erkennen, anzunehmen, zu färben oder auch bewusst nicht anzunehmen. Das ist anspruchsvoll – und weit mehr als passives Folgen.
        Kurz gesagt:
        Musikalität ist dialogisch.
        Aber sie entsteht nicht im luftleeren Raum.
        Wenn du willst, kann man daraus sogar eine eigene Unterrichtsfrage machen: Wer entscheidet musikalisch – und wann wechselt diese Rolle?

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          Meiner Meinung nach ist die Antwort auf diese Frage nicht immer eindeutig und von außen ist es nicht unbedingt wahrnehmbar. Aktives Folgen bedeutet, die eigene Musikalität einzubringen und jedem Schritt eine eigene Qualität zu geben. Folgende können lernen, an welchen Stellen sie Einfluss auf das Tempo nehmen, eine Pause setzen oder ein eigenes Angebot/Impuls einbringen können. Im besten Fall gelingt es dann sogar, Repertoire-fixierte Führende aus ihrer Komfortzone zu locken und zum Hinhören einzuladen.
          In jedem Fall ist Musikalität für beide Rollen eine sehr komplexe Thematik, die im Rahmen eines Workshops nur oberflächlich angerissen werden kann. Die Erfahrungen und Beobachtungen auf Milongas lassen vermuten, dass Musikalität leider viel zu selten im Unterricht thematisiert wird. Hoffen wir also, dass Dein Beitrag die eine oder den anderen dazu motiviert, Musikalität im Unterricht mehr Raum zu geben.

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      Könnte das die Kurzfassung ihres Artikels sein?

      Wenn beim „ Bauhaus“ „Form follows function“ gilt,
      dann sollte beim Tango: „ Schritte (Figuren) folgen der Musik“ gelten,
      leider……

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        Warum leider? Die Kunst, auch aufwändige Figuren musikalisch zu tanzen, muss doch nicht „tänzerische Nüchternheit“ reduziert werden. Es geht doch nur darum, bewusst zu machen, dass langatmige „sanguichitos“ nicht zu D’Arienzo und wiederholte Rebotes nicht zu Di’Sarli passen. Wenn sich das rumsprechen würde, dann wären wir schon viel weiter.

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      Hervorragender Artikel – meine Hochachtung Herr Wendel!

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      Zwei kleine Ergänzungen. A) Du schreibst über den Unterschied zwischen Unterricht und Milonga. Das zentrale Merkmal, in Kursen dennoch selten adressiert, ist dabei: Platzmanagement. Im Unterricht ist in der Regel immer Platz, und auch Stehenbleiben kein Problem, die anderen können drumrum tanzen, wenn ein Paar mal stehenbleibt. Aus Milongas ist das vollkommen anders. Tanzfluß – und erst recht musikalisch passender Tanzfluß – wird, das sieht man dann eben in Milongas, viel zu selten trainiert.
      B) Musikalität ist skalierbar, sie beginnt nicht erst mit dem Einbau von kleinen Goodies. Ich erinnere mich an eine Einheit, in der wir anfangs nur im einfachen Tempo laufen durften, keine Pausen, kein halbes Tempo, keine Beschleunigungen oder Verzögerungen, keine Verdopplungen. Zu Pugliese. Dann ein Block mit nur doppeltem Tempo, einer mit nur Drehungen, und so weiter. Nicht nur ein Musikstück lang, sondern so lange, bis der Körper und der Kopf wirklich etwas verstanden haben. Damit erlebt man, was eine Bewegung mit der Musik macht. Als wir dann wieder „alles“ durften, hatte sich was verändert.

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        Zu A) Platzmanagement / Ronda
        Ich weiß nicht, wie das in vielen Kursen gehandhabt wird – in meinen ist räumliches Tanzen von Anfang an Thema. Schon im Beginnerkurs geht es um Tanzrichtung, Spurhalten und Orientierung im Raum. Stehenbleiben ist bei mir keine bequeme Standardlösung, sondern – wenn überhaupt – eine bewusste musikalische Entscheidung.
        In einem früheren Artikel zur ad-hoc-Improvisation im Tango-(Anfänger)unterricht habe ich genau darauf hingewiesen: Improvisation ist für mich immer auch räumlich gedacht. Alle Übungssequenzen stehen im Bezug zur Ronda. Der Unterschied zur Milonga liegt weniger im Prinzip als in der Dichte.
        Aber ja: Wenn man den Normalzustand vieler Kurse zugrunde legt, hast du vermutlich recht – Platzmanagement wird dort oft vernachlässigt, weil Platz vorhanden ist. Und das rächt sich später.
        Zu B) Musikalität als Erfahrung
        Was du beschreibst, ist Unterricht auf Erfahrungsebene: gezielte Einschränkungen, um Wahrnehmung zu schärfen und Unterschiede körperlich spürbar zu machen. Das kann starke Aha-Erlebnisse erzeugen, keine Frage – besonders in Workshops.
        Mein Einwand richtet sich nicht gegen diese Methode, sondern gegen den verbreiteten Trugschluss, solche Erfahrungen würden sich automatisch nachhaltig im Körpergedächtnis verankern. Tun sie nicht. Musikalische Reaktionen, Timing und Differenzierung brauchen lange Übungszeiten, Wiederholung, Rückfälle und erneute Korrektur. Das ist wenig glamourös, aber unvermeidlich.
        Und genau darum geht es mir in diesem Artikel:
        um das didaktische Kunststück, Musikalität im laufenden Unterricht präsent zu halten – nicht als Highlight, nicht als Workshop-Effekt, sondern als kontinuierliches Lernfeld. Anregend, fordernd, aber nicht ermüdend.
        Nicht als einmaliges Erlebnis, sondern als wiederkehrende Aufgabe, die den Unterricht strukturiert, statt ihn zu unterbrechen.
        Erleben ist wichtig.
        Aber erst Wiederholung macht daraus Fähigkeit.

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          Definitiv. Einmal oder zweimal kurz antippen reicht nicht. Man muß in den Bereich kommen, in dem Belohnung stattfindet. Es braucht gar nicht viel davon, gerade soviel, um den Prozess der Selbstverstärkung in Gang zu setzen.

          • Author gravatar

            Bei manchen reicht das, aber nicht bei allen. Das Sicherheitsgefühl ist doch schon sehr verbunden mit „strong wire“, zumal Musikalität auch geführt werden muss, was auch nicht bei jeder Partnerin gelingt.

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