
Authentizität, Imitation und die verlorene Eigenständigkeit
Vorbemerkung
In der Tango-Szene wird aus Gründen der tänzerischen Kompatibilität immer wieder auf dieselben Tanzmuster zurückgegriffen. Viele Tänzerinnen und Tänzer – ob auf Milongas oder Encuentros – tanzen deshalb sehr ähnliche, oft eintönige Abläufe.
Nun stellt sich die Frage:
Ist es notwendig, ständig Neues zu kreieren, oder sollte man – wie bei den Gesellschaftstänzen – der Norm den Vorrang geben?
Was ich kritisiere, ist, dass sich viele in diesen Gruppen einbilden, authentisch zu tanzen, was aber gar nicht der Fall ist.
Worum geht es also wirklich:
um möglichst reibungsfreien Tanz mit bekannten Mustern, oder um Kreativität, die man dann leider vermisst?
Und noch zwei berechtigte Fragen:
Haben normale Paare überhaupt die Zeit und das Wissen, neue Schritte oder Kombinationen zu entwickeln?
Und kann man Kreativität und Improvisation eigentlich unterrichten?
Diese letzten beiden Fragen kann man leider generell nicht beantworten.
Einleitung
In einem kürzlich gelesenen Artikel über den sogenannten „authentischen Tango“ wird wieder deutlich, wie schwer sich die Szene damit tut, zwischen Tradition und Imitation zu unterscheiden. Früher suchte man das „Authentische“ – heute sucht man das „Traditionelle“. Aber was ist eigentlich der Unterschied? Und was bedeutet das für unseren eigenen Tanz, für das, was wir selbst als „guten Tango“ empfinden?
Seit Jahren wird in Europa vor allem reproduziert, was in Buenos Aires entwickelt wird. Unterrichtet wird, was andere erfunden haben. Getanzt wird, was man schon tausendmal gesehen hat. Wir sind – bei aller Begeisterung – Imitatoren, keine Entdecker.
Wenn ich über „guten Tango“ spreche, dann nicht, weil ich glaube, zu wissen, wie er sein muss. Ich beschreibe, wie ich ihn verstehe – aus Erfahrung, Beobachtung und eigenem Forschen am Körper. Mehr nicht. Es ist meine Sicht. Sie darf sich verändern, sie soll sich verändern.
Und natürlich darf man auch kritisieren. Wenn ich beispielsweise die Tanzweise eines gewissen Bloggers bespreche, dann nicht, weil ich ihn persönlich angreifen will, sondern weil sie für mich exemplarisch steht für eine Haltung, die im heutigen Tango weit verbreitet ist: eine Orientierung an der Form, aber nicht am Stil. Denn was dieser Herr persönlichen Stil nennen möchte, ist nur der Versuch, unverstandene Muster optisch zu reproduzieren.
Form ist nicht Stil
Form heißt: Schritte, Figuren, Wiedererkennbarkeit.
Stil heißt: Zusammenhang, Energie, Musikalität, Eigenheit.
Form kann man lernen. Stil muss man entwickeln.
In den Interviews des Buches „Así bailaban el TANGO“ von Gabriela Hanna erzählen Carmen Calderón, Jorge Márquez, „Petroleo“ Estévez und Pepito Avellaneda und viele andere, dass jeder seinen eigenen Tango hatte. Dass es nicht um Nachahmung, sondern um Erfindung ging.
Márquez sagte:
„Ich will, dass sich etwas entfaltet und irgendetwas macht.“
Und Petroleo:
„Ich erfand die besonderen Dinge im Tango. Das war tatsächlich sensationell. Ich löste den Sex aus dem Tanz heraus.“
Diese Sätze stehen für eine Haltung: Der Tango war ein schöpferischer Prozess. Kreativität war keine Option, sondern Bedingung.
Vom „authentischen“ zum „traditionellen“ Tango
Um die Jahrtausendwende sprach niemand vom „traditionellen Tango“.
Man suchte den authentischen – dieses geheimnisvolle, schwer fassbare Wesen, das angeblich nur erschien, wenn ein Argentinier tanzte.
Alles sollte improvisiert sein, alles geführt, „die Folgenden müssen nichts können“, hieß es damals. Es ging um Gefühl, nicht um Form.
Doch mit YouTube kam die Ernüchterung:
Man sah, dass alle unterschiedlich tanzten. Keine einheitliche Technik, keine einheitliche Umarmung, kein einheitlicher Stil.
Und so geschah eine stille Verschiebung:
Authentisch wurde ersetzt durch traditionell.
Tradition lässt sich lehren, prüfen, normieren – sie gibt Sicherheit, wo Vielfalt verunsichert.
Aber sie macht den Tango auch berechenbar, glatt, leblos.
Ein gewisser Blogger und die Frage nach dem Stil
Oft hört man, wenn man eine Tanzweise kritisiert:
„Aber das ist eben sein Stil.“
Damit soll jede Kritik erledigt sein, als wäre „Stil“ eine Art diplomatische Immunität.
Nur: Ein Stil ist keine Entschuldigung für handwerkliche Schwäche.
Er entsteht nicht durch Zufall oder Mangel, sondern durch bewusstes Können.
Ein Tänzer, der sauber auf der Achse steht, die Musik versteht und weiß, wie Energie durch den Körper fließt, kann von dieser Basis aus bewusst abweichen – und dadurch etwas Eigenes erschaffen.
Das ist Stil.
Wer aber einfach unsensibel zur Musik, technisch unsauber oder motorisch unbeholfen tanzt, entwickelt keinen Stil, sondern zeigt nur seine Defizite.
Ein gewisser Blogger beruft sich gern darauf, „eben anders“ zu tanzen – als Ausdruck seiner Individualität. Doch Individualität beginnt dort, wo man die Regeln kennt und sie bewusst bricht, nicht dort, wo man sie nie verstanden hat.
Man kann also durchaus sagen: „So sollte man nicht tanzen“,
wenn man das mit fachlichen Kriterien begründet – biomechanisch, rhythmisch, ästhetisch, didaktisch.
Dann ist es keine Geschmacksfrage, sondern eine Frage von Funktionalität und Qualität.
Denn sonst würde der Begriff „Stil“ bedeutungslos.
Eigenwilligkeit ohne Kompetenz ist keine Kunst, sondern Zufall.
Und Tango war nie Zufall – sondern gelebte Bewusstheit in Bewegung.
Darf man Tänzer/innen kritisieren, die das alles nicht erfüllen? Selbstverständlich. Jeder darf kritisieren. Aber es ist nicht höflich.
Sollte man ihnen absprechen, dass sie Tango tanzen? Nein!
Wenn sich aber jemand aus dem Fenster hängt und anderen erklärt was Tangolehrer besser machen könnten, dann ja!
Auch mich darf jeder kritisieren.
Tango als Werkstatt, nicht als Museum
Die alten Tänzer beschrieben den Tango als offenes System, als Labor, als Experimentierfeld.
Heute ist er oft ein Museum, in dem man ehrfürchtig die Exponate abstaubt.
Wir sollten uns daran erinnern, dass Tango immer eine Werkstatt war:
Improvisiert. Sinnlich. Widersprüchlich.
Ein Ort, an dem man Neues wagt, scheitert, wieder aufsteht und daraus lernt.
So verstanden, ist auch Kritik kein Angriff, sondern Teil dieses Werkstattgedankens.
Wenn man bestimmte Formen oder Lehrer hinterfragt, geschieht das nicht aus Arroganz, sondern aus Verantwortung gegenüber einem Tanz, der nur lebt, solange er sich verändert.
Gedanke zum Schluss
Der „authentische Tango“ war nie ein Zustand, sondern eine Haltung.
Er lebt nicht von Treue zur Vergangenheit, sondern von Mut zur Gegenwart.
Vielleicht ist das die eigentliche Form von Authentizität:
nicht Nachahmung, sondern Wahrhaftigkeit.
Nicht Bewahren, sondern Weiterdenken.
Nicht das Zitieren alter Formen, sondern das Erfinden neuer Wege.
Tango war nie etwas Festgelegtes.
Er war immer die Suche selbst.
Nachtrag
In vielen europäischen Tangoschulen hat sich eine Reproduktionskette etabliert:
Lehrer übernehmen meistens das, was sie irgendwo gesehen oder in Workshops gelernt haben, geben es weiter, leicht verändert, aber im Kern manchmal unverstanden.
So entstehen keine neuen Ideen, sondern immer feinere Kopien der Kopien.
Dabei liegt gerade in Europa ein enormes kreatives Potenzial – tänzerisch, musikalisch, pädagogisch.
Wir könnten längst eigene Ausdrucksformen entwickelt haben, eigene Ansätze zur Technik, eigene Wege, Musik zu interpretieren. Stattdessen hängen wir an Vorbildern, die vor Jahrzehnten oder erst in letzter Zeit in Buenos Aires etwas erfunden haben, und das persönliche Repertoire der Kreierenden sind.
Doch Nachahmung ist nicht per se falsch. Entscheidend ist der Zweck der Nachahmung. Im Unterricht geht es nicht darum, Bewegungen optisch zu kopieren, sondern ihre Funktionalität zu begreifen:
Wie eine Bewegung geführt werden kann, wie sie sich im Bewegungsfluss auflöst, wie sie aus dem Geschehen heraus entsteht – spontan, nachvollziehbar, lebendig.
Wenn Schüler lernen, Bewegungen in diesem Sinn zu imitieren – also, um ihr Prinzip zu verstehen –, dann ist das keine bloße Nachahmung, sondern ein Schritt zur Selbstständigkeit.
Dann entsteht das, was früher selbstverständlich war:
Tango als schöpferischer Prozess, nicht als bloßes Zitieren fremder Formen.
Der Tango, den wir lieben, ist ein globaler Tanz geworden.
Wenn wir ihm treu bleiben wollen, müssen wir ihn nicht konservieren, sondern neu denken – mit dem gleichen Mut, den Márquez, Petroleo oder Avellaneda einst hatten.
Tango war nie Argentinien allein.
Er war immer dort lebendig, wo Menschen ihn erfanden.
Und das dürfen – nein, müssen – wir heute auch.
1 thought on “Authentizität, Imitation und die verlorene Eigenständigkeit”
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