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Monokultur in der öffentlichen Tanzwelt

Monokultur in der öffentlichen Tanzwelt

In der Tango-Szene prallt man erstaunlich oft auf eine merkwürdige Abwehrhaltung gegenüber anderen Tänzen – und auf dieses Bedürfnis, dem eigenen Tango-Dasein ein kleines Elite-Abzeichen anzupappen. Das Muster ist alt: Der eigene Stil wird hochgehoben, der Rest abgewertet. Und das passiert nicht nur im Tango. Auch in Salsa-, Swing- oder Caribic-Szenen herrscht eine ähnliche Allergie gegen alles, was nicht ins eigene Klangbild passt.

Früher war zwar nicht alles besser, aber zumindest konnte ein normale/r Tänzer/in mehrere Tänze – heute beherrschen die meisten nur noch ihren einen Stil und vielleicht ein paar nahe Verwandte wie Tango-Vals, Milonga oder Chachachá. Die Ablehnung anderer Musikrichtungen hat dabei oft denselben Grund: Man versteht die Bewegung nicht, also versteht man den Spaß nicht. Und was man nicht versteht, wird gerne als „nicht meins“ abgestempelt.

Kurios ist, dass die Tango-Szene ausgerechnet die Chacarera ohne Murren akzeptiert – vermutlich, weil man als Tango-Tourist in Buenos Aires gemerkt hat, dass viele Südamerikaner ein Grundrepertoire an verschiedenen Tänzen haben und man das deshalb als „zum Tango gehörig“ durchwinkt. Cumbia oder Salsa, die genauso selbstverständlich dazugehören, werden dagegen oft abgelehnt. Die Logik? Fehlanzeige.

Dieser Beitrag ist ein Plädoyer für mehr tänzerische Vielfalt – und ein kleiner Hinweis darauf, wie engstirnig bestimmte Szenen geworden sind. Vielfalt schadet nicht. Arroganz schon.

Tango als elitäres Emblem – ein Beispiel

Was mich schon länger nervt, ist dieser Versuch, den Tango öffentlich aufzuwerten, als wäre er eine Art moralisches Gütesiegel. Ein typisches Beispiel dafür war der Verein ProTango e.V., ursprünglich gegründet, um während der Corona-Zeit die wirtschaftlich angeschlagenen Tanzschulen zu unterstützen. Ihre Petitionsversuche sind sind aufgrund einer gewissen Selbstüberschätzung bereits gescheitert – darüber habe ich im Kapitel „Cambalache“ ausführlich geschrieben.

Worüber ich hier sprechen will, ist eine spätere Aktion: Als sich bundesweit eine breite Menge gegen Rechtsextremismus formierte und Menschen aus allen Bereichen – Handwerk, Verwaltung, Gastronomie, Pflege, Kunst – Seite an Seite demonstrierten. Die Kraft lag in der Masse, nicht in der Selbstdarstellung einzelner Gruppen. Niemand musste sich dort als „Berufsgruppe X gegen rechts“ selbst ins Rampenlicht schieben.

Nur der Tango-Verein kochte sein eigenes Süppchen und brachte Plakate mit „Tango gegen rechts“ unters Volk – als müsste ausgerechnet der Tango noch einmal gesondert betonen, wie moralisch überlegen er ist. Andere Tanz- und Gesundheits-Berufsgruppen wären nicht im Traum darauf gekommen, sich mit „Cha-Cha-Cha gegen rechts“ oder „Physiotherapeuten gegen Rechts“ abzugrenzen. Die haben einfach mitdemonstriert – ohne ihren Tanzstil und Berufs-Merkmal als politisches Markenlogo vor sich herzutragen.

Ich habe mich diesem Unsinn damals nicht angeschlossen und bin anonym in der Menge mitgelaufen. Als ich diese Aktion öffentlich auf Facebook als Profilierungsversuch kritisierte, wurde ich vom damaligen Vereinsvorstand Jörg Buntenbach prompt als „unverschämt“ bezeichnet.

Es war nur ein Beispiel – mehr muss ich hier gar nicht aufführen.

Abwertungen anderer Tanzrichtungen

Die Abwertung anderer Tanzrichtungen – allen voran der Standardtänze – ist ein Klassiker in der Tango-Szene. Ja, im Turniertanz gibt es skurrile Auswüchse, über die nicht nur hartgesottene Tango-Menschen, sondern sogar Wertungsrichter nur den Kopf schütteln können. Diese extrem nach hinten gebogenen Damenrücken, bei denen der Kopf irgendwo auf Taillenhöhe im Raum schwebt – ich finde das auch seltsam. Aber es gehört nun mal zu einer ganz anderen Ästhetik, zu anderen Prioritäten. Wenn man diese nicht versteht, ist es billig, darüber herzuziehen. Es ist schlicht dumm.

Und trotzdem beneide ich die Standard-Leute um etwas, das im Tango oft fehlt: rhythmische Vielfalt.
Klar, wir älteren Semester wurden jahrzehntelang in TV-Turnieren mit Hugo Strassers seidenweichen Saxophon-Teppichen zugedröhnt – rhythmisch korrekt, aber klanglich eine Zumutung. Vielfalt war da Mangelware.

Aber in einer normalen Tanzschule lernt man eben mindestens sechs Tänze. Nicht einen. Nicht zwei Varianten des gleichen Stils. Sondern ein ganzes Paket. Und genau da zeigt sich, wie begrenzt eine Szene wird, wenn sie sich freiwillig auf ein einziges musikalisches Korsett reduziert.
Und was Intoleranz anderer Musik-Stile angeht, hat es auch damit zutun, dass allgemein immer noch nicht zwischen Hör- und guter Tanzmusik unterschieden wird. Salsa klingt monoton und nervig, aber nur wenn man nicht dazu tanzt. Das gilt Tango-EdO-Konserve ebenso: für viele Salsa-Tänzer tranig und trocken, aber für Tango-Tänzer/innen geradezu ekstatisch. 
Fazit: Erst der Bewegungskontext als  Tanz verschafft Toleranz. 

Veränderung von Tanzgewohnheiten in öffentlichen Events

Wie drastisch sich öffentliche Tanzveranstaltungen seit den 1950er Jahren verändert haben, sieht man vor allem in Europa – und besonders in Deutschland. Dass man einen kompletten Abend mit nur drei Tänzen übersteht, wäre früher lächerlich gewesen. Wer damals etwas auf sich hielt, beherrschte fünf bis sechs Tänze: Rock ’n’ Roll, Walzer, Foxtrott, dazu die jeweils aktuellen Modetänze. Tanzvielfalt war Standard, nicht Ausnahme.

Heute sitzt man in vielen Milongas fest wie auf einer eintönigen Klanginsel – immer dasselbe Repertoire aus der EdO-Epoche. Statt neue Tänze zu lernen, sucht man nur noch andere Musik, auf die man dieselben Tango-Bewegungen kleben kann. Es ist einseitig, aber irgendwo logisch: Tango braucht Zeit. Viel Zeit. Und wer jahrelang an einem Stil schraubt, drückt sich davor, einen zweiten anzufangen.

Kurios wird es bei der Logik dahinter:
Dass man mit Salsa-Schritten problemlos einen D’Arienzo tanzen könnte – auf diese Idee kommt kaum jemand. Wäre sofort „Stilbruch“. Aber tango­fremde Musik mit Tango-Schritten zu verarbeiten, das findet man dann wieder völlig legitim. Diese Doppelmoral ist grotesk.

Jeder Tanz hat seine eigene musikalische Entsprechung. Sonst wäre er gar nicht entstanden – man hätte einfach irgendeinen bestehenden Stil übernommen. Genau deshalb ist die Reduktion auf einen einzigen Tanzstil bei gleichzeitiger „musikalischer Dehnung“ so absurd. Es ist die umgekehrte Welt: Man akzeptiert alles, solange die Schritte gleich bleiben. Und wundert sich dann, dass die Abende immer uniformer werden.

Tango oder Milonga als Universal-Tools für alle Musikrichtungen

Wie absurd diese tänzerische Doppelmoral werden kann, habe ich einmal in Köln erlebt.

Vorweg: Ich bin froh, mehrere Tänze gelernt zu haben. Diese Vielfalt schärft den Blick, erweitert das Bewegungsrepertoire – und macht den Tango am Ende sogar intensiver. Monokultur macht blind, vor allem für die eigene Blase, in der man sich so gemütlich einrichtet.

Zur Szene: Die Tanzfläche war voll, es lief „Bésame Mucho“ – aber nicht die übliche Schmalzversion, sondern die Aufnahme von Oscar Alemán, klarer Django-Reinhardt-Sound, also hundertprozentig Swing. Ich habe mit meiner Partnerin genau das getan, was zur Musik passte: Swing.

Alle anderen? Milonga. Ging irgendwie, klanglich zwar daneben, aber man kann ja auf alles Milonga tanzen, wenn man nur fest daran glaubt. Das Problem: Milonga braucht Platz, Swing nicht. Swing bleibt auf der Stelle – Milonga will laufen. Und plötzlich war ich das „Hindernis“, obwohl ich eigentlich der Einzige war, der die Musik ernst genommen hat. Die Strafe kam prompt: Messerblicke, Gemurmel, und schließlich wurde ich als „Pistensau“ tituliert.

Aha. So funktioniert also die Logik:
Wer als Swingtänzer Swing tanzt – zu Swing – wird bestraft.
Aber wer Tango oder Milonga auf alles drüberstülpt, was irgendwie im Viervierteltakt daherkommt, ist fein raus.

Genau diese Absurdität zeigt, wie sehr manche in ihrer Monokultur gefangen sind – und wie wenig es mit „musikalischem Verständnis“ zu tun hat, sondern mit purer Gewohnheit.

Chacarera als Diversitätsmerkmal?

Ich habe bereits einen ganzen Artikel über die Chacarera geschrieben und meine Meinung dazu offengelegt. Zur Erinnerung: Ich mag Chacarera durchaus – aber die argentinische Zamba liegt mir näher. Und grundsätzlich begrüße ich jeden Tanz, der etwas Bewegung in den eintönigen Tango-Alltag bringt. Was ich allerdings bis heute nicht verstehe: Warum ausgerechnet die Chacarera?

Chacarera ist Folklore – ein Tanz „del campo“, nicht urban, nicht improvisiert. Sie hat eine klare, feste Choreografie. Und genau das wird im Tango sonst ständig verteufelt: Man wehrt sich gegen Muster, gegen Formate, gegen Vorgaben. Improvisation sei schließlich das Herz des Tangos. Nur bei der Chacarera scheint das plötzlich egal zu sein. Da werden die klaren Schritte und festen Abfolgen völlig kritiklos geschluckt.

Dabei braucht es für eine halbwegs authentische Chacarera durchaus Übung, Haltung, Ausdruck. Und seien wir ehrlich: Oft erinnert das Gewusel auf der Tanzfläche eher an eine Herde aufgescheuchter Hühner als an Stolz und Grazie. Das „wo muss ich jetzt hin?“-Chaos wirkt oft wie eine Mischung aus Gruppenchoreografie und Reise-nach-Jerusalem. Obwohl sich in Richtung Qualität schon einiges getan hat. Dass viele Tangotänzer diese Minuten als unfreiwillige Pause nutzten, wundert mich nicht. Inzwischen hat das Ganze zum Glück etwas nachgelassen.

Und da stellt sich mir die Frage:
Warum nicht einfach Cumbia?
Unkompliziert, locker, für alle Paare leicht zugänglich – und vor allem: Sie funktioniert. Eine echte Abwechslung, ohne den Anspruch, „Folklorekompetenz“ vorspielen zu müssen.

Fazit

Ich plädiere seit Jahren für mehr Tanzvielfalt. Doch in vielen Szenen wird Vielfalt fälschlich auf „mehr Musik“ reduziert – ohne die passenden Bewegungen dazuzulernen. Wer Salsa, Swing oder Tango wirklich lebendig halten will, kommt um eines nicht herum: sich auf mehrere Tänze einzulassen oder sich zumindest innerlich aus der eigenen Ein-Tanz-Blase zu bewegen.

Sonst zerfällt auch die Tanzwelt irgendwann in kleine monokulturelle Inseln, die einander anbellen, statt miteinander zu tanzen.

6 thoughts on “Monokultur in der öffentlichen Tanzwelt

    • Author gravatar

      Nichts für ungut, aber das Swing-Beispiel ist etwas unglücklich gewählt. Eine Tango-Ronda hat nun mal auch eine Vorwärtsbewegung (jedenfalls ist es schön, wenn es sie gibt), und wenn Swing keine passenden Bewegungs-Bausteine hat, dann gehört es nicht dorthin, und andere Tänzer sind zu Recht genervt.

      Ich erinnere mich an den Tanzstunden-Abschlußball meiner Tochter vor ein paar Jahren. Ich dachte, mit Tango-Vals (damals war ich tangomäßig ungefähr ein Jahr alt) sei ich ausreichend aufgestellt, um die obligatorische Walzer-Runde zu meistern. Falsch gedacht. Zumindest damals habe ich „nur drehen“ einfach nicht gebacken bekommen. Nicht sicher, ob es heute funktionieren würde, aber in jedem Fall würde ich nicht auf die Idee kommen, die anderen Tänzer dafür verantwortlich zu machen und von ihnen zu verlangen, mir den nötigen Platz zu verschaffen.

      Was mich selbst angeht: Ich werte andere Tanzrichtungen nicht ab, sie interessieren mich nur schlicht nicht. Erstmal, Tango deckt alle meine Bedürfnisse ab; ich habe keine Salsa- Rock’n’Roll- oder sonstwie-förmige Lücken in meinem Leben. Und es ist natürlich eine Investitionsentscheidung. Ich würde es mit Sprachen vergleichen. Vielleicht lerne ich die zweite schneller als die erste, ich muß aber trotzdem zusätzliche Arbeit und Zeit reinstecken. Es ist einfach eine Frage des bestmöglichen Aufwands/Nutzen-Verhältnisses (wobei beim Tanzen „Nutzen“ für Genuß steht).

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        Hallo Yokoito,
        ich greife mal ein paar Punkte auf, denn aus meiner Sicht verrutscht da gerade etwas Grundsätzliches.
        Zunächst: Wenn wir anfangen, „zur Not“ jede Musik nur noch mit Tango- oder Milonga-Schritten zu bespielen, weil die Ronda fließen soll, können wir uns andere Tänze eigentlich sparen. Dann bräuchte niemand mehr Chacarera, Niemand mehr Cumbia, keinen Swing, keine Zamba – warum auch, wenn das Universalwerkzeug „Tango-Schritte“ angeblich überall passen?
        So funktioniert Tanz aber nicht.
        Tänze haben sich entwickelt, weil Musik sie hervorgebracht hat.
        Nicht umgekehrt. Die musikalische Struktur bestimmt, welche Bewegung organisch ist. Das gilt für Swing ebenso wie für Cumbia oder Walzer. Wenn man diese natürliche Verbindung einfach ignoriert, reduziert man Tanz auf eine Art Bewegungsfitness – nett, aber kulturell leer.
        Zum Swing-Beispiel: Ich habe damals einfach das getan, was die Musik verlangte: Swing. Dass ich dann feststellen musste, dass alle Milonga dazu tanzten, war ja genau der Punkt. Ich war der Einzige, der stilistisch korrekt zur Musik tanzte – und wurde dafür angepampt, obwohl ich extra in die Mitte ausgewichen bin. Dass mich die Ronda dann zur „Pistensau“ erklärt, weil sie Milonga-Schritte auf Django-Sound „anwenden“ will, zeigt nur eines: die Monokultur im Kopf. Und genau die kritisiere ich.
        Du bestätigst diese Denkweise sogar unfreiwillig:
        Wenn ein Stil für dich „nicht passt“, dann ist er automatisch störend.
        Aber warum passt er nicht?
        Weil du ihn nicht gelernt hast.
        Nicht, weil er zur Musik nicht passen würde.
        Das ist der Unterschied zwischen Komfortzone und Kompatibilität.
        Die Ronda regelt den Verkehr, nicht die kulturelle Deutungshoheit. Sie sagt nicht: „Hier darf nur Tango passieren“, sondern: „Bitte bewegt euch sinnvoll im Raum.“ Mehr nicht.
        Dein Walzer-Vergleich zeigt im Grunde genau das, was ich sage: Musik verlangt das passende Bewegungsvokabular. Wenn du Walzer nicht gelernt hast, überfordert der Walzer dich. Das ist normal. Deshalb existieren unterschiedliche Tänze.
        Es ist keine Schande, einen Tanz nicht zu können. Eine Schande ist nur, anderen dafür die Schuld zu geben.
        Was mich aber am meisten stört, ist dein Satz „Diese Tänze interessieren mich nicht.“
        Das ist genau der Kern der Monokultur, über die ich schreibe.
        Monokultur heißt nicht, dass man andere Stile aktiv abwertet – Desinteresse reicht völlig.
        Desinteresse an anderen Bewegungsformen, Kulturen, Sprachen, Musiktraditionen.
        Alles wird auf das persönliche Aufwand/Nutzen-Verhältnis zusammengestaucht. Aber Kultur entsteht nicht aus Effizienz. Wenn wir Kunst, Tanz und Musik nur noch an „Effizienz“ messen, können wir auch den Konzertflügel aus dem Fenster werfen und ein Kinderkeyboard behalten. Bringt denselben „Nutzen“.
        Kultur ist nie effizient.
        Sie ist aufwändig.
        Mühsam.
        Und genau deshalb wertvoll.
        Dass Tango allein für dich „alle Bedürfnisse abdeckt“, ist völlig legitim – privat.
        Aber es ist kein kulturtheoretisches Argument. Ein Salsa-Tänzer sagt exakt dasselbe über Salsa. Ein Swing-Tänzer über Swing. Ein Rock’n’Roller über Rock’n’Roll. Der Unterschied ist: Gute Tänzer wissen, dass die Welt größer ist als ihr eigener Stil.
        Wenn ich Tanz auf eine einzige Bewegungsform reduziere, die ich dann auf alle Musik lege, verliere ich am Ende beides: das Bewusstsein für Musik und das Bewusstsein für Tanz. Das Ergebnis ist die kulturelle Blase, die ich im Artikel beschrieben habe.
        Und um es ganz klar zu sagen:
        Ich verlange nicht, dass jeder alle Tänze können muss.
        Ich verlange nur, dass man versteht, dass unterschiedliche Musik unterschiedliche Logik hat – und dass es in einer Tanzwelt, die kulturell nicht verarmen will, normal wäre, mehrere Tänze zu kennen. So wie es früher übrigens üblich war.
        Insofern danke ich dir für deinen Beitrag – er zeigt wunderbar, wie tief Monokultur in allen Szenen sitzt, nicht nur im Tango.
        Wenn wir Tanz auf Kosten-Nutzen-Rechnungen reduzieren, dann können wir uns den ganzen kulturellen Überbau auch sparen. Dann wird aus Tanz ein Hobby wie Bauklötze stapeln.
        Mir persönlich ist das zu wenig.

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          Mal langsam. „Störend“ ist ein Stil genau dann, wenn er eigenen Spaß zu Lasten anderer maximiert. Das hat erstmal gar nichts mit verschiedenen Tanzsprachen zu tun. Von mir aus kann jemand in einer Tango-Ronda Menuett oder schottische Volkstänze hinlegen, solange er anderen dabei nicht auf die Nerven geht. Das gilt auch für Bewegungen innerhalb des Tango-Rahmens selbst. Ein verträumter Platzdreher, der den Tassenkarussell-Rondafluß blockiert, eine „loose cannon“, der unvorhersehbar zwischen zwei Rondaspuren wechselt, you name it.

          Ansonsten, falls Du da irgendeine Logik-Kette, eine Herleitung aufbauen willst, die irgendwo bei „jeder sollte mehrere Tänze können“ – das funktioniert nicht, weil das Fundament schon eine falsche Annahme ist. Tanz ist nicht die logische Konsequenz aus dem Vorhandensein von Musik, sondern nur eine der Möglichkeiten, Musik zu genießen. Tanz ist primär ein sinnliches, körperliches Erlebnis, und da entscheidet jeder selbst über das Wie und Wieviel. Manche mögen 10 verschiedene Tanzsprachen kennen, andere nur eine – wieviel Genuß sie dabei haben, korreliert damit erstmal nicht. Wenn Du Dich über Abwerten beschwerst, dann fang mal bei Sätzen an, die das Wort „Monokultur“ oder sonstige wertende Begriffe enthalten.

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            Langsam? Gerne. Dann aber bitte mit sauberer Argumentation. Du schiebst das Thema jetzt so hin, als ginge es nur darum, den eigenen Spaß nicht auf Kosten anderer zu maximieren. (Mal davon abgesehen, das ich mich während des Swing-Tanzens vom Rand der Tanzfläche in die Mitte bewegt habe, also Rücksicht auf die Ronda genommen habe. Genervt hat mich die Ignoranz der Leute, die rücksichtslos durch die Gegend rennen, sich nicht unter Kontrolle haben und dann beschweren, dass andere im Weg stehen. Denn andere Tänzer stehen immer auf voller Piste im Wege.)
            Darum geht es aber überhaupt nicht. Es geht um musikalische Passung, tänzerische Logik und kulturelle Kohärenz – und darum, wie leichtfertig diese Zusammenhänge in vielen Szenen ignoriert oder auf reine „Verkehrsordnung“ reduziert werden. Wenn du sagst, jemand könne von dir aus Menuett oder schottische Volkstänze in der Ronda tanzen, solange er nicht stört, dann bestätigst du ja gerade das Problem: Hauptsache, der Verkehr fließt – egal, ob die Bewegung etwas mit der Musik zu tun hat. Die Ronda wird zur obersten Instanz, nicht die Musik. Das hat nichts mit Offenheit zu tun, sondern zeigt nur, dass Tanz für dich offenbar vor allem eine Frage des Raumverhaltens ist, nicht der musikalischen Entsprechung.
            Du behauptest dann, ich würde aus einer falschen Annahme heraus argumentieren und eine Logikkette konstruieren, nach der jeder mehrere Tänze können müsse. Das ist aber nicht meine Aussage. Ich sage lediglich, dass bestimmte Tänze aus bestimmten Musikformen entstanden sind. Das ist keine Ideologie, sondern historische Banalität: Ohne Clave keine Salsa, ohne Offbeat keinen Swing, ohne die typische marcato-Struktur keinen Tango. Natürlich kann jeder tanzen, wie er möchte, aber das ändert nichts an der Tatsache, dass Tanzformen bestimmte musikalische Grundlagen haben, die man nicht beliebig austauschen kann, ohne die kulturelle Struktur auszuhebeln. Wenn du sagst, Tanz sei nur eine von vielen Möglichkeiten, Musik zu genießen, ist das völlig in Ordnung – als persönliche Einstellung. Es ist aber kein Argument gegen die Existenz oder den Wert unterschiedlicher Tänze und deren musikalische Logik.
            Wenn du dann noch sagst, manche hätten Genuss aus nur einem Stil, andere aus zehn, und das korreliere nicht mit Können, dann stimmt das zwar individuell, trägt aber rein gar nichts zur Frage bei, wie Tanzkulturen funktionieren. Mit der gleichen Logik könnte man sagen: „Ich brauche nur ein einziges Gericht, wozu eine ganze Küche?“ oder: „Warum mehrere Sprachen sprechen, wenn mir eine reicht?“ Das kann man so leben, aber es ist ein klassischer Tunnelblick – und erklärt nicht, warum ganze Szenen beginnen, jede Musik als Unterlage für ihre Lieblingsschritte zu behandeln, während sie passende Schritte für passende Musik als Stilbruch abtun.
            Du wirfst mir dann „wertende Begriffe“ wie Monokultur vor. Das ist ein Missverständnis: Ich bewerte nicht Personen, sondern beschreibe ein strukturelles Phänomen. Du hingegen moralisiert: Wer anders tanzt, „maximiert seinen Spaß auf Kosten anderer“. Ich spreche über Strukturen, du über Charakter. Das ist ein fundamentaler Unterschied.
            Und damit sind wir beim eigentlichen Punkt. Auf die zentrale Frage gehst du nämlich nicht ein: Warum akzeptieren so viele Tangoleute jede beliebige Musik für Tango-Schritte – aber nicht die passenden Tänze für die passende Musik? Warum ist Milonga auf Django-Reinhardt „okay“, Swing auf Django-Reinhardt aber „störend“? Warum darf man Bewegungen beliebig über die Musik stülpen, aber nicht Musik über Bewegungen? So lange diese Frage unbeantwortet bleibt, reden wir aneinander vorbei.
            Ich diskutiere gern weiter, aber dann bitte nicht über generelle Verkehrserziehung auf dem Parkett oder über persönliche Nutzenkalkulationen, sondern über die zentrale Sache: Was passiert, wenn eine Tanzszene aufhört, die Musik ernst zu nehmen – und stattdessen nur noch ihre eigene Bewegungsblase? Das ist die eigentliche Frage. Und die ist größer als jede Ronda.

            Und noch eine kleine Geschichte zum Abschluss, weil ich diese Diskussion schon einmal exakt so auf Facebook geführt habe: Ein Bekannter erzählte mir begeistert von einer Milonga in Buenos Aires, die „so wunderbar vielfältig“ gewesen sei. Es wäre jede mögliche Musik gelaufen: Salsa, Cumbia, Chacarera, Paso Doble, Tango – ein ganzer Nachmittag in San Telmo. Seine Schlussfolgerung war natürlich, dass die Argentinier viel toleranter seien, während in Deutschland nur „monotoner EdO-Brei“ gespielt werde (seine Worte, er war überzeugter Neo-Befürworter). Sein Argument war: mehr Toleranz gegenüber Musik. Da gehe ich völlig mit.
            Nur: Auf die Frage, warum diese musikalische Vielfalt dort funktionierte, musste er zugeben, dass die Leute alle in der Lage waren, die Musik in den jeweils passenden Tänzen umzusetzen. Und weil sich so viele Tango-Anhänger hierzulande gern auf argentinische Sitten und Gebräuche berufen, möchte ich etwas klarstellen: Ich habe in Buenos Aires noch nie gesehen, dass jemand Salsa mit Milonga-Schritten vertanzt. Sie respektieren die Tänze in ihrer Form.
            Dass sich dagegen in Deutschland ganze Tanzflächen zu Swing im Milonga-Stil durch die Ronda schieben, ist kein Zeichen von Flexibilität, sondern schlicht ein Symptom mangelnder tänzerischer Bildung. Den Leuten mache ich keinen Vorwurf – sie tanzen eben das, was sie können. Aber es ist ein deutsches Phänomen. In Südamerika gehören mehrere Tänze selbstverständlich zur Lebenskultur, deshalb entstehen dort keine solchen kulturellen Kurzschlüsse.
            Und eines noch: Natürlich wird in Buenos Aires die Ronda beachtet – respektvoll, wie es sein soll. Nur nicht mit dieser katechetischen Beharrlichkeit, diesem dogmatischen Zeigefinger, den man hier so oft erlebt. Dort ist die Ronda Verkehrserziehung. Hier wird sie zur Ersatzreligion.

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      Gans einfach: Klau’s!

      Wirr, die wo Neotango tun, können auch alles andere tanzen. Z.B. Vor-, Sait- und am liebsten Rück wehrt’s!
      Und drehen können tun wir! Wie ne Drehnasche!

      Tja, deshalb können wirr ebend alles andere halt auch! All so Lipsi, Kiss-Oma, Bachalatta, Schakarira, Rambo und auch West-Kotz-Swing.
      Aber weil ich und Aale NeoTangueros alles können, beneiden unz alle anderen, die wo nur TradiTango können.

      Und wenn da Sohn alter Kasper klaubt, er wehre an der Westkiste und der Nuhr auf der Stehle vor mir rumhopst, und Kain er soll vorbei, dann wird er umgerannt.
      Unter kriegt nen Schwinger von unz. Nen rechten West-kotz- Schwinger. Und dann noch nen Linken, Weiler so wollt, hehe.

      Da siehstes, Klau’s!
      Wir NeoTangueros haben Kain Berührungsangst!! Sondern der Hampler lernt von unz die ersten Schritte. Vom Dampfwalzer! Umsonst!
      Das isst die Potsdamer Pädagockelig!
      Am besten würzte da auchmal drüber schreiben. Da staunen dann Ahle!

      Dein College

      Kevin

      (Kevin Seidel, El Che Nie, Profesor del Tango,
      Potsdam – Tangohauptstadt)

      P.S. Vorgestern happig ne Mieze vom Salsa abgeschleppt und Sack dem Dj , er soll mal den „Tango del Pecado“ auflegen. Da sackte er ab, Weiler Tango blöd fänd und seine Läute wärn ja wegen Salsa da. Tja. Genauso unflexibel wie die Tradis.
      Halt von vorgestern.

      • Author gravatar

        Wohlan, edler Kevin,

        dein Schreiben vernahm ich, und wundersam dünkt mich’s, wie du der Dinge Kunde gibest. Viel Geschwätz führst du von deiner Neotänzer-Zunft, als wäret ihr ein Geschlecht der Alleskönner, das mit jedwedem Schritte, Wend’ und Sprunge geboren sei. Ja, gar als ob der Herrgott selbst euch mit überströmender Gnadenfülle bedacht hätt’, auf daß ihr die Tanzbühnen dieser Welt bezwinget wie ein Heer von kreiselnden Landsknechten.

        Doch merke wohl: Viel rühmen ist ein leichter Handel, doch mitnichten ein Beweis der Tugend. Mancher, der laut im Markte plärrt, hat im Saale wenig zu vermelden.

        Da schreibest du ferner von allerlei Tänzen, die ihr meisterlich erhabet: Lipsi, Zamba, Bachattenwerk, Schakarira und gar den Westkotz-Schwung. Bei Gott, es klänge wie ein Heldenlied, wär’s nicht der rauhe Klang der hochmütigen Zunge, der es entblößt.

        Und daß du dich rühmest, die rechtschaffenen Tänzer niederzuringen, die auf der Ronda ihre Bahn halten – o weh, welch Ritterlichkeit! Ein praller Schwinger hier, ein kruder Stoß dort – das Gebaren eines Hofnarren, nicht eines Könners.

        Auch prangst du mit eurer Unerschrockenheit, als wäret ihr Titanen, die selbst den Dampfwalzer mit mildem Lächeln zu lehren wüssten. Und dies gar für umme! Ei freilich, jeder Marktschreier verschenkt gern, was ihm nicht teuer ist.

        Doch höre dies, guter Kevin:

        Nicht laut Geschrei macht einen Tänzer edel, noch Grobheit den Meister. Wohlordnung, Sinn, Gehör und Maß – dies sind die Tugenden, die ein jeder auf der Tanzstatt zu achten hat. Und wer dieselben mißachtet, hat keinen Rang, er sei nun Neo, Tradi oder sonst Einhergehender.

        Drum merk’ dir fürderhin:

        Wer sich selbst allzu hoch erhebt, kann leicht mit dem eigenen Schatten zu Boden fallen.

        Dieweil verbleibe ich in Ruh’ und Klarheit,
        und wünsche dir weniger Lärmen und mehr Tanzen.

        PS:Und, dass es in der Salsa-Szene genauso ist, habe ich ja geschrieben, also jede Szene hält die eigene Richtung für die beste.

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