
Gedanken über Tango-Unterricht | 34. Teil
Füße als Instrumente des Tanzes
Es gibt Tanztechniken, die viele nur oberflächlich behandeln oder einfach ignorieren. Eine davon ist die Fußarbeit – also die Art, wie man den Fuß beim Tanzen aufsetzt, abrollt und wieder entlastet. Wenn man auf der Piste genauer hinschaut, sieht man erstaunlich viel Geschlurfe und Gerutsche, als würden sich manche eher auf einer Eisfläche bewegen als auf Parkett. Dabei beeinflusst genau diese Technik fast alles: das Gleichgewicht, den musikalischen Ausdruck, das Rutschen oder Nicht-Rutschen und vor allem den Gewichtstransfer – also den Wechsel von einer Körperachse auf die andere.
Eigentlich müsste das jedem klar sein, aber ich sehe kaum Unterricht, in dem das Thema überhaupt mal ernsthaft behandelt wird. Viele beschäftigen sich lieber mit Figuren, Drehungen oder „neuen Kombinationen“. Dabei ist die Fußarbeit das, was einen Tango erst trägt. Ohne sie bleibt alles nur Dekoration.
Das, was für mich gute von schlechten Tänzern unterscheidet, ist also deren Fußtechnik. Gute Fußarbeit lässt Tänzerinnen und Tänzer sicher, bewusst und ausdrucksstark wirken. Leider ist mir die Wichtigkeit dieses Aspekts selbst erst spät aufgefallen. In meinen frühen Jahren als Lehrer habe ich über die Füße zwar gesprochen, aber nicht systematisch daran gearbeitet. Erst später wurde mir klar, wie entscheidend sie für alles andere sind – für Haltung, Musikalität, Verbindung und letztlich für das Gefühl im Tanz.
Ein Tango-Schritt ist keine Reaktion einer Körperbewegung im Raum
Ein häufiger Fehler vieler Tänzerinnen und Tänzer ist, dass sie ihre Bewegung nicht aus dem Kontakt zum Boden entstehen lassen, sondern sie „machen“. Sie bewegen den Körper durch den Raum – und der Fuß wird dann einfach als Reaktion gesetzt, nicht weil er zur Musik gesetzt wird, sondern weil der Körper schon unterwegs ist. So entsteht kein geführter Schritt, sondern ein Nachziehen. Der Körper läuft voraus, der Fuß versucht nur noch, irgendwie aufzuholen.
Dabei müsste es genau umgekehrt sein: Der Fuß initiiert, der Körper reagiert.
Der Schritt beginnt im Boden, nicht im Rumpf. Der Fuß tastet, führt, sucht den richtigen Moment – und erst dann folgt die Körperachse nach. Wenn der Fuß zuerst denkt, entsteht Balance, Kontrolle und Musikalität. Wenn der Körper vorausläuft, kippt das ganze System.
Ich bin mir bewusst, dass diese These viel Widerspruch auslösen wird – vor allem, weil viele genau das Gegenteil machen. Sie streben mit dem Brustkorb in Tanzrichtung, als müssten sie den Raum erobern, und verlieren dabei jede Kontrolle. Sie lassen sich treiben, statt zu führen. Dabei vergessen sie, dass die Füße der Musik dienen – und nicht die Körperachse. Der Fuß hört, nicht der Brustkorb. Wer das begreift, tanzt plötzlich leiser, aber klarer.
Die Bewegung im Raum ist also keine Absicht, sondern eine Konsequenz: Sie entsteht durch das bewusste Setzen der Füße – in alle Richtungen, je nach musikalischem Impuls. Nicht, weil man „irgendwo hin“ möchte, sondern weil der Fuß dorthin gehört. Der Raum folgt dem Fuß, nicht umgekehrt.
Diese Verwechslung sieht man ständig: Der Tänzer definiert seine Bewegung durch die Position des Körpers im Raum, nicht durch die Verbindung des Fußes zum Boden. Das führt zu einem „Fallen“ auf den Schritt – das Gewicht kippt nach vorn oder hinten, statt sich sanft zu verlagern.
Besonders bei Frauen kommt hinzu, dass die hohen Absätze das Gleichgewicht leicht nach vorn ziehen. Viele heben den Fuß beim Rückwärtsschritt leicht an – manchmal zwei Zentimeter oder mehr – und setzen ihn dann plötzlich auf den Ballen. Dadurch wirkt der Schritt unruhig und holperig. Der Führende spürt das sofort – wie kleine Stöße durch die Verbindung. Statt Ruhe und Kontrolle entsteht Hektik: „Wo muss ich hin?“ – statt: „Wo muss mein Fuß hin?“
Ein guter Schritt entsteht also nicht aus Aktion, sondern aus Vorbereitung. Der Körper folgt dem Fuß – nicht andersherum. Wer das verstanden hat, spürt plötzlich, dass der Tanz ruhiger, präziser und musikalischer wird. Bewegung entsteht dann nicht aus Kraft, sondern aus Bewusstsein.
Der Fuß als Sensor
Der Fuß ist kein Stempel, sondern ein hochsensibler Sensor. Er ist das, womit wir mit dem Boden kommunizieren. In ihm steckt mehr Intelligenz, als man denkt: über zweihunderttausend Nervenenden, dutzende Muskeln, Sehnen, kleine Knochen – alles fein aufeinander abgestimmt. Wenn man diesen Kontakt nicht nutzt, tanzt man im Grunde mit einem abgetrennten Teil des Körpers.
Viele wundern sich, warum sie instabil stehen oder ständig das Gleichgewicht verlieren. Der Grund liegt meist nicht oben, sondern unten: Die Füße „schlafen“. Sie melden nichts zurück. Ich sage meinen Schülern oft: „Wenn du nichts vom Boden hörst, kann er dir auch nicht antworten.“ Und genau das passiert häufig – der Tänzer schwebt über dem Parkett, statt mit ihm zu arbeiten.
Ein Beispiel für „nicht so gute“ Fußarbeit
Man möge mir verzeihen, dass ich ausgerechnet dieses Video zeige, aber es ist das einzige, was sich zur Demonstration schlechter Fußarbeit so eignet und ich bei YouTube finden konnte, zumal es ja auch nur die Füße zeigt. Jede Assoziation mit lebenden Personen ist rein zufällig und wirklich nicht beabsichtigt. Da der Urheber so stolz darauf ist, hat er doch bestimmt nichts dagegen, wenn ich es als Anschauungsmaterial verwende. Außerdem war er ja an meiner fachlichen Kritik interessiert, was ich jetzt nachholen möchte.
Abrollen statt Auftreten
Ein Schritt beginnt nicht mit dem Bein, sondern mit dem Moment, in dem das Standbein nachgibt und das Knie sich leicht beugt. Erst dadurch löst sich der Körper aus dem Gleichgewichtspunkt, und der freie Fuß kann sich auf den Weg machen. Er sucht dann den Boden – nicht, um ihn zu treffen, sondern um ihn zu finden.
Beim Vorwärtsschritt setzt man normalerweise zuerst die Ferse auf, dann Ballen und Zehen. Das ist die natürliche, körpergerechte Bewegungsfolge – wie beim Gehen. Manche Tänzer bevorzugen allerdings, zuerst mit dem Ballen aufzusetzen. Das ist kein Fehler, sondern eine bewusste stilistische Entscheidung, die den Schwerpunkt leicht verändert und den Schritt optisch weicher wirken lässt. Sie verlangt allerdings mehr Kontrolle im Knie, Becken und Gleichgewicht.
Beim Rückwärtsschritt gilt die sogenannte Drei-Punkt-Technik: Zuerst tastet die Spitze (Zehenbereich) den Boden, dann folgt der Ballen, und am Ende setzt sanft die Ferse auf. Dieses Abrollen verhindert ein abruptes „Fallen“ auf den Schritt und hält die Bewegung geschmeidig. Viele heben den Fuß dabei unbewusst leicht an und setzen ihn dann direkt auf den Ballen – das erzeugt einen holperigen, unruhigen Rhythmus und lässt die Bewegung hackelig wirken. Wenn der Fuß dagegen gleichmäßig über diese drei Punkte rollt, bleibt der Kontakt zum Boden konstant, der Körper stabil, und der Tanz fließt.
Klingt banal, ist aber entscheidend: Dieses Abrollen erzeugt Rhythmus im Körper. Wenn der Fuß richtig arbeitet, trägt er nicht nur das Gewicht, er leitet es weiter. Jeder Schritt ist eine kleine Übertragung – kein abruptes Hin und Her, sondern ein weicher Übergang. Genau in dem Moment, wo man das Gewicht gerade noch hält und gleich loslässt, entsteht Balance. Und mit ihr die Musikalität.
Viele Tänzer treten zu früh auf. Sie „landen“ auf dem Schritt, statt ihn entstehen zu lassen. Das ist, als würde man eine Melodie nicht spielen, sondern draufhauen. Ein sauberer, abrollender Fuß lässt die Bewegung singen.
Optik und Präsenz
Man sieht es sofort: Ein Tänzer mit wachen Füßen wirkt präsent. Selbst einfache Schritte bekommen Klarheit und Richtung. Schlaffe Füße dagegen lassen alles müde aussehen. Ich beobachte das oft bei erfahrenen Tänzern – oben perfekte Haltung, unten völlige Nachlässigkeit. Das Auge folgt aber immer der Bewegung am Boden. Wenn die Füße sauber arbeiten, sieht der ganze Körper besser aus. Im Grunde ist der Fuß die Bühne des Tangos – dort passiert das Wesentliche.
Phänomenal bei diesem Video ist die filigrane, musikalische Fußarbeit von Noelia Hurtado zum Pizzicato der Violine bei Minute 3:08
Ferse oder Ballen?
Das Vorwärts-Setzen des Fußes ist im Tango fast eine Glaubensfrage. Die einen schwören auf den Ballen – weich, federnd, musikalisch. Die anderen bleiben der Ferse treu – stabil, wie beim normalen Gehen. Ich finde, beides hat seinen Platz. Der Tango kennt kein Dogma. Wie man den Fuß setzt, hängt vom musikalischen Akzent, von der Figur, von der Richtung und sogar vom Boden ab.
Bei einer sacada führt der Ballen, weil der Kontakt präzise sein muss. Beim ruhigen Gehen darf die Ferse zuerst aufkommen, um den Körper zu stabilisieren. Und bei einer fließenden caminata rollt der Fuß sanft ab – erst Ferse, dann Ballen, dann Zehen. Dieses Abrollen bringt Geschmeidigkeit, wie man sie bei Di Sarli spürt. Ganz anders, wenn der Fuß in einem Stück aufgesetzt wird, also die ganze Sohle gleichzeitig Kontakt bekommt. Das wirkt stumpfer, rhythmischer, erdiger. Bei D’Arienzo kann das genau richtig sein.
Genauso wichtig ist die Rückwärts-Fußarbeit der Frauen. Auch hier sieht man oft, dass der Fuß vor dem Setzen leicht angehoben und dann plötzlich auf den Ballen „geworfen“ wird – manchmal zwei Zentimeter oder mehr. Dadurch verliert der Schritt jede Ruhe und wirkt holperig, fast zackig. Für den Führenden ist das deutlich spürbar – bis in die Haarspitzen. Diese kleinen Stöße stören die gemeinsame Balance und lassen den Tanz nervös wirken. Eine saubere Rückwärts-Fußarbeit folgt der sogenannten Drei-Punkt-Technik: Spitze – Ballen – Ferse. Der Fuß tastet also zuerst mit der Zehenspitze den Boden, rollt dann kontrolliert über den Ballen, bis schließlich die Ferse leicht den Boden berührt. Dieses weiche, gleitende Abrollen macht den Rückwärtsschritt ruhig, präzise und unglaublich angenehm zu führen. Man spürt als Partner sofort, ob jemand so tanzt – es fühlt sich verbunden und elegant an.
Aber auch die Männer sind davon nicht ausgenommen. Viele fallen beim Rückwärtsschritt direkt auf die flache Ferse, ohne zu rollen, und reißen damit das Gewicht abrupt nach hinten. Das fühlt sich für die Partnerin an, als würde sie in den Schritt hineingezogen. Statt einladend zu führen, entsteht ein Moment von Ungleichgewicht, der sie fast nach vorne „zieht“. Genau das Gegenteil von dem, was gute Führung sein sollte. Der Rückwärtsschritt des Mannes sollte immer leicht über den Ballen vorbereitet und weich in die Ferse abgerollt werden – nie hart gesetzt. Das hält die Bewegung fließend und lässt die Partnerin im Gleichgewicht bleiben.
Die richtige Fußarbeit – ob vorwärts oder rückwärts, bei Männern oder Frauen – ist also das Fundament für jeden Schritt. Sie entscheidet, ob der Tanz rund wirkt oder eckig, ob man geführt wird oder einfach nur läuft. Ein guter Tänzer hört den Unterschied – nicht mit dem Ohr, sondern über den Kontakt im ganzen Körper.
Wahrnehmung trainieren
Eine der besten Übungen ist barfuß zu tanzen – langsam, mit geschlossenen Augen, auf einer Linie. Die Fußsohle wirklich abrollen, die Zehen aktiv halten, den Druck über die ganze Fläche spüren. Danach das Gleiche mit Schuhen – und merken, was sich verändert. Auf einmal fühlt man, wie viel Kommunikation in einem Schritt steckt. Wenn man schlurft, hört man’s sofort. Wenn der Schritt weich rollt, klingt er ruhig und kontrolliert. Die Füße sind ehrlich – sie verraten jeden Fehler.
Vom Fuß in den Körper
Viele glauben, Rhythmus entstehe irgendwo oben – in den Schultern oder Armen. Tatsächlich beginnt er unten. Wenn der Fuß den Boden berührt, entsteht eine Gegenkraft, die sich über die Gelenke nach oben überträgt. Ein sauberer Druck in den Boden löst eine kleine Bewegungskette aus: Fuß – Knie – Becken – Wirbelsäule – Schultern. Wenn der Fuß sauber abrollt, rollt der Körper mit. Wenn er abrupt stoppt, friert die Bewegung ein. Das eine erzeugt Cadencia, das andere nur Takt. Wer wirklich führt, führt aus dem Boden. Der Impuls kommt von unten, nicht aus den Schultern. Wenn der Körper auf diese Bodenimpulse reagiert, entsteht dieses natürliche „Atmen“ im Tanz. Die Bewegung bekommt Leben.
Fußarbeit und Partnerkontakt
Die Verbindung zwischen zwei Tänzern entsteht nicht erst in der Umarmung, sondern schon unten – über den Boden. Der Fußkontakt ist die erste Information, die der Partner wahrnehmen kann, lange bevor sich etwas sichtbar bewegt. Ein leichter Druck, ein winziges Nachgeben oder eine Entlastung – das alles wandert über den Körper nach oben und wird spürbar. Je feiner diese Impulse sind, desto klarer wird die Kommunikation. Der Fuß spricht leiser als der Arm, aber deutlicher. Wenn beide ihren Bodenkontakt bewusst nutzen, entsteht ein stilles Gespräch über Gleichgewicht. Der Führende zeigt nicht, er verlagert Gewicht. Die Folgende reagiert nicht mit Bewegung, sondern mit Anpassung.
Leichtigkeit entsteht nicht durch weniger Kraft, sondern durch präzise Bodenarbeit. Zu viel Druck blockiert, zu wenig lässt den Partner ins Leere fallen. Eine gute Übung: zu zweit auf engem Raum nur Gewichtsverlagerungen machen, ohne Schritte. Nur stehen, spüren, atmen – und den Partner nicht verlieren. Danach weiß man, wie viel Kommunikation in einem Zentimeter Bodenarbeit steckt.
Der Klang des Schritts
Jeder Schritt ist wie ein Ton. So, als würde der Fuß Klang erzeugen, Rhythmus und Ausdruck. Manche stampfen, andere tanzen leise – beides sagt etwas aus. Ein lauter Schritt zeigt meist, dass jemand auf den Boden tritt, statt mit ihm zu arbeiten. Ein leiser Schritt dagegen ist kein Zeichen von Schwäche, sondern von Kontrolle. Er klingt wie ein Musiker, der sein Instrument beherrscht. Man hört quasi, ob der Fuß rollt oder fällt. Ein idealer Tangoschritt hat keinen festen Ton, sondern Charakter – weich, präzise, federnd oder akzentuiert, je nach Musik. Bei Di Sarlis darf er fließend abrollen, bei D’Arienzo darf er flach, mit der ganzen Sohle aufsetzen. So wird die Fußarbeit Teil der Interpretation. Der Tänzer „spielt“ mit dem Boden wie ein Musiker mit seinem Instrument. Wenn man das einmal begriffen hat, wird der Tango leiser, aber tiefer. Man tanzt dann nicht mehr nur zur Musik, sondern mit ihr – und der Fuß wird Teil des Orchesters.
Ein Wort zur Praxis
Viele fragen mich, wie man das im Unterricht vermittelt. Ich beginne selten mit Figuren, sondern mit Stehen. Wer nicht stehen kann, kann auch nicht führen. Wir arbeiten an Achse, Bodenkontakt, Timing. Erst wenn die Füße zuhören, darf der Rest sprechen. Kein Schritt im Takt, nur Gefühl im Boden. Nach zwei Minuten ändert sich alles – die Haltung, das Atmen, die Verbindung. Der Tango wird ruhiger, echter. Schritt- und Fußtechnik ist ein wesentlicher Bestandteil meines Unterrichts
Schlussgedanke
Wer den Boden nicht fühlt, kann auch den Partner nicht fühlen. Die Umarmung ist nur der Resonanzraum. Die eigentliche Kommunikation läuft über die Füße. Eine gute Umarmung beginnt unten – genau da, wo der Fuß den Boden sucht. Und wer gelernt hat, dort zuzuhören, tanzt plötzlich anders. Der Boden antwortet.