
Gedanken über Tango Unterricht | 29. Teil
Ein persönlicher Blick auf Musikalität und Selbstüberschätzung.
Vorwort
Ich kenn das selbst – als Tango-Lehrer steht man dauernd zwischen zwei Welten: Technik und Tanz. Und oft verliert man dabei das Wichtigste aus den Augen – den Tango als Musik.
Ich ertappe mich immer wieder dabei, zu sehr an Haltung, Schrittlänge oder Achse zu feilen, statt mich zu fragen: Hilft das meinen Schülern, die Musik besser zu hören? Oder hilft es ihnen nur, „sauberer“ auszusehen?
Viele hören nämlich gar nicht die Musik, sondern nur den Takt. Eins-zwei-drei-vier. Das ist okay für den Anfang, aber Tango ist so viel mehr. Es geht darum, die Stimmung, die Phrasen, den Atem der Musik zu spüren – und sie mit Bewegung zu beantworten.
Das ist schwer. Man müsste in jeder Figur, in jedem Moment, gleichzeitig technisch sauber und musikalisch bewusst sein. Das ist fast unmenschlich viel. Manche sind schon froh, wenn sie halbwegs im Takt bleiben. Und trotzdem – genau da beginnt die Kunst: wenn Bewegung und Musik eins werden.
Wenn der Tango zu schön zum Tanzen wird
In den letzten Jahren tauchen immer wieder Playlists auf mit Aufnahmen aus der späten, konzertanten Zeit des Tangos – also nach der goldenen Ära, als man in Buenos Aires kaum noch tanzen konnte.
Damals waren die Milongas fast alle dicht. Die Musiker hatten plötzlich Freiheit – sie konnten spielen, wie sie wollten. Keine Tänzer, keine Tanzrhythmen, keine Grenzen. Das Ergebnis war oft großartig – aber eben zum Zuhören, nicht zum Tanzen.
Das bekannteste Beispiel ist wohl das Sexteto Mayor mit José Libertella und Luis Stazo. Die spielten in Paris im Trottoirs de Buenos Aires für ein argentinisches Exilpublikum. Sie interpretierten auch alte Tanzklassiker – wie Milongueando en el Cuarenta oder Danzarín –, aber auf ihre ganz eigene, konzertante Art, obwohl genau diese beiden Stücke ja noch zu den gut tanzbaren gehören.
Diese Aufnahmen sind wunderschön – voller Ausdruck, modern aufgenommen, perfekt gespielt. Nur: Sie sind nicht tanzbar im klassischen Sinn.
Trotzdem werden sie heute in Neo-Milongas gespielt und als „tanzbar“ verkauft. Manche Tänzer schwärmen dann, wie „musikalisch“ sie dazu tanzen können. Aber oft sieht man auf der Tanzfläche nur Bewegungen, die irgendwie zur Musik passen sollen – aber nicht aus ihr kommen.
Wenn Technik die Musik übertönt
Viele Tänzer tanzen, ohne wirklich mit der Musik verbunden zu sein. Sie hören die Schläge, aber nicht den Fluss. Sie tanzen Figuren, aber keine Phrasen.
Das ist kein Vorwurf – so wird Tango halt oft unterrichtet. Die meisten Lehrer konzentrieren sich auf Technik: auf Haltung, Gleichgewicht, Verbindung, Drehungen. Alles wichtig, keine Frage. Aber wenn das Musikalische fehlt, wird der Tanz schnell leer. Dann sieht es aus wie Tango, aber es fühlt sich nicht so an.
Ich bin überzeugt: Musikalität muss von Anfang an Teil des Unterrichts sein.
Nicht als Zusatz, wenn man schon „fortgeschritten“ ist, sondern von der ersten Stunde an.
Denn wer gleich lernt, Musik zu hören, versteht Bewegung anders. Dann wird Tanzen nicht zur Abfolge von Schritten, sondern zu einer Antwort auf das, was man hört.
Wenn man die Möglichkeiten echter musikalischer Interpretation – einmal abgesehen von Tanztechnik – bei wirklichen Könnern betrachtet, wird einem schnell bewusst, wo die eigenen musikalischen Grenzen liegen.
Denn guten Tänzern zuzusehen, kann das Bewusstsein für musikalische Interpretation schärfen.
Und manchmal fragt man sich: Könnten das eigentlich alle lernen?
Ehrlich gesagt, manchmal kommen mir Zweifel. Ich sehe viele Tänzer*innen, die seit Jahren tanzen – aber eigentlich nur den Takt hören. Keine Dynamik, keine Phrasen, keine Spannung. Nur Schrittfolgen.
Da frage ich mich: Ist der Tango in seiner Tiefe überhaupt massentauglich?
Vielleicht ist das genau der Punkt, an dem der Tango sich spaltet: zwischen dem, was er sein kann, und dem, was die meisten daraus machen. Zwischen tänzerischem Ausdruck und mechanischem Ablauf.
Und das ist okay. Nicht jeder muss Musik zerlegen können wie ein Musiker. Aber Lehrer*innen sollten sich dieser Spannung bewusst sein. Es geht nicht darum, Perfektion zu verlangen – sondern den Weg zur Musikalität zu öffnen.
Warum die Tangos der goldenen Ära so genial für uns „Normaltänzer:Innen“ sind
Die Musik der Época de Oro ist ein Geschenk. Sie ist so gebaut, dass wirklich jeder etwas damit anfangen kann – vom blutigen Anfänger bis zum/r musikalischen Feinschmecker:in.
Man kann sie auf drei Ebenen erleben:
1. Der Grundtakt
Wer einfach nur im Rhythmus geht, wird getragen. Die Orchester der 30er und 40er haben so klar gespielt, dass selbst Anfänger*innen sofort „mitlaufen“ können.2. Die rhythmische Spielwiese
Viele Tänzer hören mehr als nur den Takt, aber nicht unbedingt die ganze Phrase. Sie tanzen dann viel Dynamik, Rebotes, Ocho Cortados – auch wenn’s manchmal nicht ganz passt. Trotzdem: Es funktioniert, weil die Musik es verzeiht.3. Die echte Interpretation
Und dann gibt’s die wenigen, die wirklich Musik tanzen. Die mit Synkopen spielen, Pausen aushalten, Orchestercharaktere verkörpern – Biagi mit Witz, D’Arienzo mit Energie, Di Sarli mit Eleganz, Pugliese mit Drama.
Das ist das Geniale an dieser Musik: Sie funktioniert für alle.
Sie ist tief – aber nicht elitär. Jeder kann da einsteigen, wo er steht.
Wenn Selbstbild und Wirklichkeit auseinandergehen
Was in der Szene aber immer wieder passiert, ist eine charmante, aber gefährliche Täuschung: Viele Tänzer überschätzen sich musikalisch völlig – und merken es gar nicht.
Das ist kein Zeichen von Dummheit, sondern einfach von fehlendem Wissen. Wer nie gesehen oder gespürt hat, was musikalischer Ausdruck im Tango bedeutet, kann nicht wissen, was ihm fehlt.
Neulich hab ich einen Blog gelesen, in dem jemand von seiner „Wohnzimmer-Milonga“ schwärmte. Überschrift: Musik aus dem (Hintertupfinger) Wohnzimmer.
Er schrieb, seine Frau und eine Freundin „beherrschten beide Rollen“. Das klang stolz – aber auch ein bisschen selbstgefällig. Zumal selbst Top-Tanzpaare das kaum von sich behaupten würden.
Im gleichen Artikel empfahl er das Stück „Casino Tango Noir“ aus der gleichnamigen CD der Gruppe „Las Sombras“ – ein unglaublich komplexes Stück mit abrupten Pausen, wechselnden Tempi und tiefen Spannungsbögen. Musik, bei der selbst erfahrene Profis ins Schwitzen kommen.
Und genau hier möchte ich ihn mal fragen, warum sich wohl hochqualifizierte Show-Paare nicht für diese Musik interessieren, wenn sie doch so eine tänzerische Herausforderung sein soll? Diese Leute schauen sich doch auch nach geeigneter Musik um. Aber sie greifen meistens für Auftritte auf Klassiker zurück.
Und er meinte, das dieses Stück sei ideal zum Tanzen!
Das zeigt, wie groß die Kluft zwischen Hören und Verstehen sein kann. Nur weil man zu einer Musik tanzt, heißt das noch lange nicht, dass man sie tanzen kann. Ein tänzerischer Laie greift auf zu komplexe Musik zurück und die Profis, die sie wirklich tanzen könnten, meiden sie, obwohl diese Musik doch so“schön“ ist.
Aber wie man sich hier leider eingestehen muss: Zwischen Bewegung im Takt und musikalischer Interpretation liegt eine ganze Welt – eine Welt aus Bewusstsein, Erfahrung und innerer Ruhe.
Und das Tragische (oder vielleicht Tröstliche) ist: Je mehr man versteht, desto deutlicher merkt man, wie wenig man eigentlich versteht. Das verstehen aber leider nur wahre Könner.
- Und was heißt das für uns Lehrer*innen?
Wir Lehrer*innen tragen da eine ziemliche Verantwortung. Wir prägen, wie unsere Schüler Tango erleben – ob sie nur Schritte lernen oder Musik tanzen.
Und ehrlich: Wir könnten viel öfter den Mut haben, Musik in den Mittelpunkt zu stellen.
Ein paar Ideen:
Fangt früh damit an. Schon im Anfängerunterricht kann man Phrasen hörbar machen. Einfach gehen, auf Musik atmen, Pausen aushalten.
Vergleicht Orchester. Lasst die Schüler dieselbe Figur zu Biagi, D’Arienzo, Di Sarli und Pugliese tanzen – sie werden merken, dass sich jede Bewegung anders anfühlt.
Gebt Hörübungen mit. Einfach mal ein Stück anhören, ohne zu tanzen. Was passiert da? Wo spannt sich was auf? Wo fällt es ab?
Redet über Musik. Nicht nur über Technik. Über Melodie, Rhythmus, Energie, über das, was man spürt.
Bildet euch selbst weiter. Hört bewusst, fragt Musiker, besucht Konzerte. Musikalität kann man nicht lehren, wenn man sie nicht selbst lebt.
Könnte man im Unterricht nicht einfach auf die eine oder andere weitere überflüssige Sequenz verzichten und stattdessen auf die Musik eingehen?
Musikalität ist keine Kür – sie ist das Herz des Tangos. Und sie beginnt nicht in den Füßen, sondern im Ohr.
Schlussgedanke
Tango ist kein Bewegungskatalog.
Wenn wir nur noch so tanzen, dass es aussieht wie Tango, aber nichts mehr mit Musik zu tun hat, dann bleibt nur noch Bewegung – kein Dialog, kein Gefühl, kein Herz.
Und dem gewissen Blogger aus Hintertupfingen möchte ich mal einen Musikalitäts-Workshop ans Herz legen, damit er endlich mal versteht, warum die Mehrheit der Tango-Szene lieber zu Musik der EdO-Zeit tanzt als zu Susana Rinaldi.
6 thoughts on “Gedanken über Tango Unterricht | 29. Teil”
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Lieber Klaus,
ich bin wieder zu 100% bei Dir, möchte aber trotzdem noch einen Punkt ergänzen. Du schreibst:
„Lasst die Schüler dieselbe Figur zu Biagi, D’Arienzo, Di Sarli und Pugliese tanzen – sie werden merken, dass sich jede Bewegung anders anfühlt.“
Im Prinzip ja. Aber dazu muss man erst einmal in der Lage sein, unterschiedlich tanzen zu können. Die meisten Tänzer gehen halt so, wie sie nunmal gehen. Es erfordert ein gerüttelt Maß technischer Grundlagenarbeit, um unterschiedlich gehen zu können, von melodisch bis rhythmisch bis dramatisch, vom fließenden Vals bis zum Stakkato der Milonga. Und wenn man die unterschiedlichen Arten zu gehen verstanden hat, dann kann man sich als nächstes ein paar Monate lang mit den unterschiedlichen Dynamiken der verschiedenen Varianten des Kreuzes beschäftigen…
Soll heißen: Ich würde ich die Technik nicht ganz so geringschätzen wie Du. Wobei: Es ist eine andere Art von Technik, die wenig mit Figuren und sehr viel mit Grundlagen zu tun hat, angefangen mit der Frage, wie man überhaupt einen bewussten, kontrollierten Schritt setzt.
Das ist auch eine Herausforderung für den Unterricht, weil der Schüler nichts Neues lernt. Keine ausgefallenen Figuren, keine komplexen Schrittfolgen, nichts. Sehr ungewohnt für die meisten, die es gewohnt sind, im Unterricht jede Woche eine neue Figur zu lernen. Und die dementsprechend auch annehmen, dass man für die unterschiedlichen Musikstile vor allem auch ein möglichst großes Repertoire an unterschiedlichen Figuren braucht. (Hierzu habe ich früher selbst gehört.)
Erst auf der Milonga sieht der Schüler dann an den leuchtenden Augen seiner Tanzpartnerinnen, dass diese neue Fähigkeit zu unterschiedlicher Musik unterschiedlich gehen zu können einen gewaltigen, positiven Unterschied macht.
Liebe Grüße,
Helge
Lieber Helge,
also wenn Du wirklich glaubst, dass ich Technik geringschätzen würde, hast Du Dich wohl in der Tür geirrt 🙂 . Als ich vorschlug, einmal zu unterschiedlicher Musik zu gehen, war damit keineswegs gemeint, dass Variationen oder Technik damit überflüssig würden – ganz im Gegenteil. Nämlich, dass man zu unterschiedlicher Musik, auch ohne technische Variation des Ganges, ein anderes Gefühl zur Bewegung bekommt: „Only the Music makes me feel different.“
Und ganz ehrlich: Wenn es hier im Ruhrgebiet einen Tango-Lehrer gibt, der so viele Basics vermittelt wie ich, würde mich das sehr wundern.
Denn niemand sonst hier hat einen so umfangreichen Basic-Übungsbaukasten.
Lg. Klaus
Hallo Klaus,
OK, wunderbar. Dann gehst Du in deiner Beschreibung davon aus, dass Deine Schüler die notwendige Technik beherrschen. Mein Hinweis ist, dass das im allgemeinen nicht gilt. Ganz im Gegenteil: Ich sehe auf den Milongas, die ich besuche, sehr viele (insbesondere auch sehr viele erfahrene) Tänzer, die ihre Schritte nicht an den Character der Musik anpassen.
Und genau deswegen plädiere ich auch dafür, diesen Aspekt im Tango Unterricht deutlich häufiger und intensiver zu behandeln, als es allgemein üblich ist.
Liebe Grüße,
Helge
Hallo Helge,
Irgendwie bekomme ich langsam das Gefühl, dass Du mehr in meine Texte hineininterpretierst, als wirklich drinsteht oder Dinge ausblendest, die ich bereits geschrieben habe:
1. Ich kann doch nicht verallgemeinernd sagen, dass alle Level meiner „Tango-Lern-Gruppen“ etwas so komplexes „beherrschen“, sondern bei mir lernen sollen. Insofern kann man aus meiner letzten Antwort auch nicht darauf schließen. Und Übrigens: Tangoschüler besuchen doch nicht Tanzschulen, wenn sie bereits etwas beherrschen, denn musikalisches Tanzen zeugt von einem hohen Level und viel Erfahrung! Zumindest bekommen sie sehr früh mit, wo die Reise hingeht und das bereits in Beginnerkursen.
2 Habe ich ja auch im Artikel geschrieben, dass „Viele Tänzer tanzen, ohne wirklich mit der Musik verbunden zu sein. Sie hören die Schläge, aber nicht den Fluss. Sie tanzen Figuren, aber keine Phrasen.“ Also habe ich die selbe Beobachtung gemacht.
3. Und genau deshalb wird dieser Aspekt bei mir auch öfter behandelt als üblich.
Steht aber alles in meinen Artikeln.
Liebe Grüße
Klaus
Kaum war mein Artikel über Musikalität online, ist der Mann aus Hintertupfingen wieder explodiert, was beweist: Er liest meinen Blog öfter als ich selbst. Matomo führt ihn längst als Dauergast – Stichwort „Klette“, die zufällig genau das Gegenteil behauptet.
Sein „Widerlegen“ besteht wie üblich aus Rechtschreibnörgelei, Wikipedia-Satzbausteinen und hanebüchenen Unterstellungen. Inhalt? Fehlanzeige. Statt über Musikalität redet er über Tippfehler. Das sagt eigentlich alles.
Dann sein großer „Triumph“: Das Sexteto Mayor existiert noch! Ja, als Name – aber nicht mehr in der Besetzung, um die es ging. Libertella tot, Stazo längst ausgestiegen, historische Aufnahmen klar datiert. Für ihn offenbar zu kompliziert, weil bei Wikipedia „1973–present“ steht. Vergangenheits- und Gegenwartsvermischung als neue Kunstform.
Das CD-Cover? Auch so ein Höhepunkt der Fremdscham. Das Urheberrecht hat der Grafiker oder die Gruppe. Nicht Herr Hintertupfingen. Ihn geht’s schlicht nichts an.
Am Ende bleibt: Ich schreibe über musikalische Interpretation. Er schreibt über Kommas, Namen und Wikipedia. Ein Mann reagiert nur so, wenn er merkt, dass die Kritik sitzt – aber bloß nicht zugeben will, wo’s weh tut.
Kurzfassung: Ich rede über Tango. Er redet über mich. So leicht kann man sich selbst entlarven.
Und obendrein beleidigt er noch meine Leser, die er als Fans bezeichnet: „Solches Rumgeschlampe ist bei Wendel leider notorisch – okay, seine Fans wird’s nicht stören. Die wissen es wohl auch nicht besser!“
Ich habe in er gesamten Zeit meiner Beschäftigung mit seinem Blog noch nie so einen oberflächlichen, verfälschenden, absurden Artikel von ihm gelesen. Das könnte bedeuten, dass er ihn mit Schaum vorm Mund geschrieben haben muss.
Wieder mal gut auf den Punkt gebracht. Die Kombination „nicht unter Puglieses aller Geschmackrichtungen“ mit „keine Musikalität“ gibt es in meiner Region auch, gerne noch in Verbindung mit „keine Rondadisziplin (als Ergebnis mangelnder Selbstwahrnehmung und Situationsbewußtheit)“. Wobei ich sagen muß, daß sich das auf einen sehr kleinen Prozentsatz der ansässigen Lehrer zurückverfolgen läßt, die allermeisten produzieren schon „gescheite“ Tänzer.