
Gedanken über Tango Unterricht | 26. Teil
Wiederholung und Entdeckung – über das Lebendige in der Übung
Es gibt diese Momente im Unterricht, in denen alles ordentlich aussieht. Die Schüler arbeiten konzentriert, der Raum ist ruhig, die Bewegung klar. Von außen wirkt das nach Lernen. Doch manchmal spürt man: Die Aufmerksamkeit ist da, aber das Interesse fehlt. Die Übung läuft, aber sie lebt nicht mehr. Das passiert, wenn Wiederholung nicht mehr mit Entdeckung verbunden ist.
Warum Wiederholung nötig – und riskant – ist
Ohne Wiederholung geht es nicht. Der Körper lernt durch Wiederholung: Er braucht sie, um Bewegungsabläufe zu verankern, Koordination zu entwickeln und Vertrauen in sich selbst zu gewinnen. Aber Wiederholung ist kein Selbstzweck. Sie kann leicht zu einer Routine werden, bei der das Spüren durch Funktionieren ersetzt wird. Das geschieht nicht, weil Schüler unaufmerksam wären, sondern weil die Struktur des Unterrichts es oft unabsichtlich fördert. Wenn eine Übung zu eng definiert ist, bleibt nur „richtig oder falsch“ – dann verschwindet der Raum für Wahrnehmung. Der entscheidende Punkt ist also nicht, wie oft etwas wiederholt wird, sondern wie offen die Wiederholung gestaltet ist.
Wiederholung braucht Vergleich
Lernen entsteht nicht durch bloßes Wiederholen, sondern durch die Erfahrung von Unterschied. Man begreift etwas erst dann wirklich, wenn man Varianten erlebt und sie miteinander vergleichen kann. Darum ist es hilfreicher, Schülern konkrete Alternativen anzubieten, statt sie zu abstrakten Selbstbeobachtungen einzuladen. Fragen wie „Was nimmst du wahr?“ sind meist zu allgemein und überfordern eher, als dass sie helfen. Effektiver ist es, gezielte Bewegungsvarianten vorzugeben, zwischen denen die Schüler wechseln können, zum Beispiel: „Mach den Schritt einmal mit mehr Druck in den Boden – und einmal mit weniger.“ Oder: „Verlagere dein Gewicht etwas früher – und dann später.“ Oder auch: „Halte die Achse straffer – und dann etwas flexibler.“
So entsteht Differenzierung über den Körper, nicht über Sprache. Die Schüler erfahren Unterschiede direkt, können sie vergleichen und sich entscheiden. Diese Entscheidung – nicht das Wiederholen an sich – ist der Moment des Lernens.
Die Rolle des Lehrers: Wahrnehmung leiten
Ein Lehrer muss dabei kein Animateur sein, sondern Beobachter und Strukturgeber. Er erkennt, wann eine Übung beginnt, mechanisch zu werden, und schafft neue Anreize, ohne das Thema zu wechseln. Das kann bedeuten, den Fokus leicht zu verschieben – vom Fuß zur Atmung, von der Balance zur Verbindung, vom äußeren Ergebnis zum inneren Ablauf. So bleibt die Wiederholung frisch, weil sie immer wieder eine andere Frage stellt.
Gute Lehrer entwickeln dafür ein Gespür. Sie hören auf die Qualität der Aufmerksamkeit im Raum – ob jemand wirklich forscht oder nur ausführt. Wenn Letzteres der Fall ist, genügt oft eine kleine Veränderung in der Aufgabe, um die Wahrnehmung wieder zu aktivieren.
Routine als stille Gefahr
Routine hat einen schlechten Ruf, dabei ist sie zunächst neutral. Sie schafft Stabilität, Verlässlichkeit, Ruhe. Aber sobald sie unbewusst bleibt, ersetzt sie Lebendigkeit durch Sicherheit. Und Sicherheit ist selten ein guter Lehrer. Man kann den gleichen Schritt hundertmal machen und trotzdem immer etwas Neues entdecken – wenn man lernt, Unterschiede wahrzunehmen. Doch sobald man glaubt, ihn „zu können“, beginnt der Prozess zu stagnieren.
Viele Schüler sind überrascht, wenn ich sage: „Mach es noch einmal – aber diesmal nicht, um es richtig zu machen, sondern um herauszufinden, was sich verändert.“ Dieser Satz allein verändert oft den ganzen Zugang, weil er das Ziel vom Ergebnis zur Wahrnehmung verschiebt.
Erfolg als Stillstand
Der vielleicht gefährlichste Moment im Lernprozess ist der, in dem etwas „funktioniert“. In diesem Augenblick entsteht das Bedürfnis, das Gelungene festzuhalten. Doch Lernen bedeutet, Veränderung zuzulassen – nicht, etwas zu sichern. Im Tango ist jede Situation neu: jeder Partner, jeder Raum, jede Musik. Was eben noch perfekt war, passt im nächsten Moment nicht mehr. Darum ist „es können“ oft der Beginn des Nicht-mehr-Lernens. Lehrer, die das wissen, helfen ihren Schülern, den Zustand des Suchens zu bewahren – nicht, indem sie Fehler betonen, sondern indem sie Neugier wachhalten.
Wiederholung als Rhythmus
Im Unterricht braucht Wiederholung Rhythmus. Ein zu langer Fokus auf dasselbe Thema führt zu Ermüdung, zu häufige Themenwechsel verhindern Tiefe. Guter Unterricht bewegt sich zwischen diesen Polen: Intensität, Entlastung, Variation und Rückkehr. Man könnte sagen, Wiederholung ist dann lebendig, wenn sie musikalisch gedacht ist – nicht als Schleife, sondern als Struktur mit Pausen, Dynamik und Veränderung. So wie ein Refrain in der Musik keine exakte Kopie ist, sondern eine Wiederkehr unter neuen Bedingungen.
Wiederholung als Beziehung
Wiederholung geschieht nie allein. Auch im Partnerunterricht ist sie eine Form von Kommunikation. Man übt nicht nur Bewegungen, sondern auch den Umgang mit Reaktion, Gewicht, Nähe und Tempo. Jede Wiederholung zeigt, wie aufmerksam man den anderen wirklich wahrnimmt. Eine mechanische Wiederholung isoliert – man tanzt nebeneinander. Eine bewusste Wiederholung verbindet – man reagiert, passt sich an, erforscht gemeinsam. In diesem Sinne ist Wiederholung nicht bloß eine Lernform, sondern auch ein soziales Training: Sie lehrt, im Gleichmaß aufmerksam zu bleiben.
Der Lehrer als Lernender
Auch Lehrer wiederholen. Sie wiederholen ihre Erklärungen, Beispiele, Bilder. Wenn diese Wiederholung unbewusst wird, verliert der Unterricht an Präsenz – egal, wie gut der Inhalt ist. Darum ist auch für Lehrende entscheidend, die eigene Routine zu beobachten. Ein Satz, der sich früher frisch anfühlte, kann irgendwann leer klingen. Dann lohnt es sich, ihn zu verändern oder ganz zu lassen.
Lebendigkeit im Unterricht entsteht, wenn auch der Lehrer im Moment bleibt, statt nur ein bekanntes Muster abzurufen. Lehren ist kein Abspielen, sondern eine ständige Reaktion auf das, was gerade geschieht.
Lernen als Bewegung, nicht als Ziel
Lernen im Tango ist kein Weg von A nach B, sondern eine fortlaufende Bewegung. Man kommt immer wieder an denselben Punkt – aber jedes Mal mit einer anderen Wahrnehmung. Das ist kein Rückschritt, sondern Vertiefung. Man könnte sagen: Wiederholung ist nicht der Versuch, das Alte zu sichern, sondern die Gelegenheit, es neu zu sehen. Das ist die Form von Wiederholung, die Entwicklung ermöglicht.
Fazit
Wiederholung ist ein Werkzeug. Sie kann Klarheit schaffen oder Aufmerksamkeit zerstören. Sie kann den Körper bilden oder den Geist einschläfern. Ob sie lebendig bleibt, hängt von der Art ab, wie sie gestaltet wird: mit konkreten Alternativen, mit Vergleich statt Kontrolle und mit Offenheit für Veränderung. Wenn Schüler die Freiheit haben, Unterschiede zu erleben, und Lehrer ihnen Strukturen bieten, in denen das möglich ist, entsteht ein Unterricht, der nicht nur vermittelt, sondern Bewegung im Denken erzeugt.
Wiederholung ist nicht das Gegenteil von Entdeckung. Sie ist ihr Werkzeug.
3 thoughts on “Gedanken über Tango Unterricht | 26. Teil”
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Toller Text, Tango ist so viel mehr als nur ein Tanz..
Sehr guter Text, auf den Punkt.
Danke, Wolfgang, dieses Thema lag mir auch sehr am Herzen.