
Gedanken über Tango Unterricht | 19. Teil
Über Adorno-Unterricht und was meistens fehlt
Natürlich weiß ich, dass ich mich mit dem Thema „rund um Adornos“ auf ein gewagtes Feld begebe. Seit Jahren ist es ein Schwachpunkt in meinem Unterricht, und obwohl ich eine Unterrichtspartnerin habe, widme ich mich diesem Bereich zu wenig, weshalb auch dieser Artikel über dieses Thema recht kurz ausfallen wird. Meine Erfahrungen damit sind gemischt – es gab gute und schlechte Momente. Was ich jedoch sicher sagen kann: Es gibt Frauen, die von Beginn an motiviert sind, Verzierungen zu tanzen und zu lernen. Andere entdecken dieses Interesse erst später, wenn sie die Voraussetzung eines guten Gleichgewichts mitbringen. Wer Adornos aktiv und selbstständig übt und einsetzt, wird darin Fortschritte machen – wer passiv bleibt, eher nicht. Ich möchte hier in diesem Artikel nur auf die Führung eingehen, die gute Adornos der Partnerin erst ermöglicht.
Der „Adorno-Solo-Unterricht“ – auch Frauentechnik genannt
Dass Workshops für „Frauentechnik“ in der Tango-Szene beliebt sind, steht außer Frage. Obwohl sich dieses Wort an sich schon etwas wie „Frauenkram“ anfühlt. Ist es aber nicht, denn hier sind die Männer genauso gefragt.
Denn der sichtbare Effekt im Tanz bleibt jedoch oft gering – und das hat Gründe. Führende lassen den Folgenden selten Raum für Verzierungen. Sie haben Pausen nicht in ihr Repertoire integriert und „übertanzen“ ihre Partnerinnen. Frauen lernen also in Workshops komplexe Verzierungen, die auf hohen, dünnen Absätzen ohnehin anspruchsvoll sind. Wenn sie diese ausprobieren wollen, fehlt im Tanz mit den Partnern die Zeit und der Platz dafür. Wozu also das Ganze, wenn die Umsetzung fehlt? Ganz einfach: Frauen müssen Verzierungen zunächst solo beherrschen und in ihr Bewegungs-Gedächtnis einprägen, wenn sie sie im Tanz einsetzen wollen. Von Ihnen wird also erwartet, dass sie dieses Adornos erst mühsam alleine üben, während sie jedoch die Männer endlos ihre stümperhaften „sacadas“ an sich selbst üben lassen und Blessuren in Kauf nehmen müssen.
Man kann dieses Video nicht oft genug zeigen, weil es die Kunstfertigkeit dieser meist älteren Damen mit filigranen Adornos auf Grund jahrelanger Erfahrung demonstriert. Diese Ruhe, Genauigkeit, Eleganz und unglaubliche Fußfertigkeit – ohne Effekthascherei.
Guter Adorno-Unterricht nur mit guter Führung möglich
Darum reicht reiner Frauen-Solo-Unterricht nicht aus – Verzierungen sollten gemeinsam mit den Partnern geübt werden. Dabei wird einmal die Geduld der Männer gefordert, so wie sonst die Frauen bei den Führungsübungen der Männer geduldig mitmachen. Die ersten „Adornos“ für Folgende sind ohnehin die Schritte selbst: Eleganz in jeder Schrittsituation sollte selbstverständlich sein. Doch leider lässt sie oft zu wünschen übrig – sowohl durch schlechte Führung als auch durch die Vernachlässigung der „Tanztechnik für Frauen“. Dass Führende ihre Partnerinnen nicht ziehen, drücken oder überrennen sollten, hat sich noch nicht überall herumgesprochen. Das Dilemma beginnt genau hier: Wenn Männer nicht auf den Vorwärtsschritt der Partnerin warten, sondern schon weiterziehen, bleibt keine Gelegenheit für Adornos. Gute Adornos beginnen also bei guter Führungstechnik.
Das führt zu der Annahme: Wirklich schöne Adornos entstehen nur dann, wenn man der Partnerin Raum dafür gibt – und das macht manche Frauen zu Recht verärgert, wenn es nicht passiert. Deshalb sollte man bereits im Anfängerunterricht bestimmte Grundsätze deutlich machen: dass Tango nur im Miteinander entsteht und dass Führung nichts mit Herrschen zu tun hat.
Rein schritttechnisch betrachtet entstehen Optionen für Adornos in allen Momenten, in denen sich die Folgende rückwärts, also vom Führenden weg, bewegt. Selbst dort kann sie zwischen den Schritten kleine punteos setzen – dafür muss der Führende nicht einmal warten, denn diese passieren im Zwischentaktschlag.
„Der unterschätzte Rückwärtsschritt“
Besonders kritisieren möchte ich hier die Rückwärtsschritte der Führenden, die zu 90 % – und das ist keine Übertreibung – äußerst schlecht getanzt werden. Ich kann es Tag für Tag beobachten: Das, was die Führenden von ihren Partnerinnen erwarten, nämlich ein sauberes Rückwärtsprojizieren ohne gleichzeitig mit der Achse auf den Schritt zu „plumpsen“, setzen viele selbst nicht um. Gerade in geschlossener Umarmung, wenn die Partnerin kaum Raum hat, ist es entscheidend, den Schritt zu öffnen und nicht zu ziehen. Eigentlich sollten die Führenden ihrer Partnerin für jeden Vorwärtsschritt Zeit und Raum geben, sie mit einer geöffneten Bewegung dazu einladen und sich selbst erst dann mit der Rückenachse in Bewegung setzen, wenn die Partnerin den Fuß bereits gesetzt hat. Erst dieses bewusste Warten auf ihren Schritt eröffnet ihr die Möglichkeit für Adornos.
Leider beobachte ich selbst bei absoluten Profis, dass sie im bekannten Eröffnungsschritt der base ihre Partnerinnen in einen gewaltigen Rückschritt ziehen und dabei tief eintauchen. Da dies offenbar zur Mode geworden ist, bedenken diese Herren nicht, wie sich das für die Partnerin anfühlt. Ich habe dieses Thema sogar schon mit erstklassigen Tänzern besprochen – und sie sehen es genauso.
Hier eine Demonstration dessen, was ich meine:
Auch Meister machen nicht alles perfekt: Obwohl Edwin Espinosa während der meisten Tanzphasen rückwärts sehr gut projiziert, verfällt er gelegentlich in diesen Mode-Schritt – dieses „rückwärts-in-den-Schritt-hineinfallen“ – das leider inzwischen oft auch bei Spitzen-Paaren zu beobachten ist. Obwohl es hier noch etwas gemäßigter aussieht, denn hier schafft es Edwin wenigstens, seine Partnerin Alexa Yepes mit in den Schritt hinein zu nehmen, was oft, schlecht imitiert, nicht der Fall ist.
Vorschläge für Unterricht, der Adornos wirklich fördert
Mal ganz ehrlich, Männer: Wärt Ihr bereit einen ganzen Kurs nur den Verzierungen Eurer Partnerin zu widmen? Aber wenn es um gut getanzte Pausen gehen würde, doch schon eher, oder? Also wäre das doch ein guter Kompromiss, diese Themen zu verbinden, liebe Tango-Lehrer/innen!
1. Technische Basis – für beide Rollen
- Rückwärtsschritte analysieren – Führende üben den eigenen Rückwärtsschritt bewusst mit Projektion, ohne das Gewicht zu früh zu setzen, um den Raum zu öffnen.
- Balance- und Achsenarbeit – Folgende üben, wie sie im Rückwärtsschritt stabil bleiben, um zwischen den Schritten punteos oder kleine Adornos setzen zu können.
- Langsame Wiederholungen – Bewegungsfolgen in Zeitlupe üben, um das Gefühl für den exakten Moment eines möglichen Adornos zu schärfen.
2. Partnerarbeit – Raum geben und nutzen
- Führung für Pausen – Führende lernen, gezielt kleine musikalische Pausen zu setzen, in denen die Partnerin selbstständig eine Verzierung einsetzen kann.
- Feedback-Runden im Paar – Nach jeder Sequenz kurz Rückmeldung geben: „Hatte ich Platz für einen Adorno?“ / „Hast du ihn gespürt?“
- Rollentausch-Übungen – Führende erleben selbst als Folgende, wie sich zu frühes Ziehen oder Drücken anfühlt. Das schärft das Bewusstsein für Raum und Zeit.
3. Musikalische Integration
- Zwischentaktschläge hören – Spezielle Musikübungen, um den Moment zwischen zwei Schritten bewusst wahrzunehmen.
- Musikalische Gestaltung mit Adornos – Gemeinsames Erarbeiten, an welchen musikalischen Stellen ein Adorno Sinn ergibt (z. B. Synkopen, Phrasenende, Staccato-Passagen).
- Dialog statt Dekoration – Verdeutlichen, dass ein Adorno nicht nur „schön aussehen“ soll, sondern eine Antwort auf die Musik und die Führung ist.o
Fazit:
Gute Adornos entstehen nicht durch Zufall und auch nicht allein durch Solo-Üben. Sie sind das Ergebnis von sauberer Technik, bewusstem Raumgeben und einer gemeinsamen musikalischen Gestaltung. Wenn beide Rollen verstehen, wie und wann ein Adorno möglich ist, wird er zu mehr als nur einer Verzierung – er wird Teil des Dialogs im Tanz.
Aber leider kommt der gemeinsame Adorno-Unterricht oft zu kurz, weil er nicht den üblichen, sichtbaren Bedürfnis der Führenden entspricht, sich längere Zeit mit „Frauen-Technik“ zu befassen. Dabei geht es doch um den Raum, den der Führende seiner Partnerin lässt.
2 thoughts on “Gedanken über Tango Unterricht | 19. Teil”
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Lieber Klaus Wendel,
Vielen Dank für Deine Sicht der Dinge.
Zu dem Punkt
„Wenn Männer nicht auf den Vorwärtsschritt der Partnerin warten, sondern schon weiterziehen, bleibt keine Gelegenheit für Adornos.“
möchte ich noch kurz anmerken, dass hier nicht nur der viel gescholtene Anfänger solche Fehler macht, sondern es auch auf der Gegenseite entsprechendes Verhalten gibt: Die Partnerin, die schnell ihre Verzierungen platziert und ihn (entweder um ihm auf die Sprünge zu helfen, oder in bester Absicht seine Bewegung antizipierend) weiterzieht.
Damit möchte ich für Geduld in dieser Lernphase für -beide- Partner werben.
Beste Grüsse aus dem 1. Bezirk
Tangovifzack
P.S: Schön, dass Du das schöne Cumparsita-Video mit vielen alten Freunden (r.i.p) nochmals eingestellt hast.
Lieber Tango Vifzack,
natürlich könnte ich auch dieses von Dir beschriebene „Feature“ (weiß nicht wie ich dies ironisch anders beschreiben könnte) der Gegenseite bestätigen.
Danke für Deine Ergänzung!
Liebe Grüße von Klaus Wendel