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Das Phänomen Nicole Nau – Ein Medien-Profi (bearbeitet)

Das Phänomen Nicole Nau – Ein Medien-Profi (bearbeitet)

Wenn ich jetzt über dieses Thema schreibe, höre ich schon die Rufe: Jetzt kommt die persönliche Abrechnung. Ich muss aber alle enttäuschen: Es wird keine, zumindest keine persönliche.

Denn ich will hier nicht auf persönliche Geschichten eingehen, sondern auf ihre Werbestrategie, auf ihre Fähigkeit, alle Felder des Tango zu bedienen. Darin ist sie schlicht genial – solange man nicht hinter die Fassaden schaut. Denn was äußerlich wie eine perfekte Inszenierung wirkt, ist in Wirklichkeit eine unfreiwillige Selbstdemontage. Ich bewundere ihren Aufstieg und ihren Fleiß, aber nicht ihren Tango.

(Ich habe in einer späteren Bearbeitung dieses Artikels einen Nachtrag an das Ende gesetzt.)

Mystifizierung und Mythenbildung

Was mich interessiert, ist, wie sie Klischees verbreitet, die ihren Tanzstil und die Geschichte ihres Partners verklären. Sie macht daraus ein Geheimnis, das eigentlich keines ist.

Die Mystifizierung des Tangos als „Klang der Erde“, zu dem angeblich nur die „Urvölker“ Zugang haben sollen, beschreibt sie so: „Die Musikstruktur des Tango Argentino ist aus argentinischen Folkloretänzen entstanden, aus Volkstänzen. Sie pulsiert nach unten.“

Ich will das nicht direkt in Abrede stellen – ich bin kein Musikwissenschaftler. Aber dass sie dabei die Mitwirkung der Einwanderer – Italiener, Polen, Spanier usw. – sowie vieler Musiker mit urbanen Instrumenten (Bandoneón, Violine, Klavier, nicht nur Flöten oder Gitarren) außen vor lässt, ist auffällig.

Mag sein, dass da ein paar „oummmm-pa“s in der rhythmischen Klangwelt der Folklore verborgen sind – aber das ist kein Geheimnis. Jeder Musiker oder musikversierte Zuhörer kann diese Muster nach kurzer Zeit entschlüsseln.

Die Frage ist nur: Spiegelt sich das wirklich im Tango von Nicole & Luis wider, oder dient es lediglich einer Verklärung auf der Meta-Ebene, die Nicole meisterhaft bedient? Ihr Vokabular ist gespickt mit Analogien aus der Tanzpraxis, Beobachtungen der deutschen Szene, Tango-Weisheiten – Dinge, die sich kaum überprüfen lassen, weil sie als „Geheimnisse“ dargestellt werden, die ein Europäer sowieso nicht verstehen könne.

Person und Selbstinszenierung

Nicole Nau (*1963 in Düsseldorf) lebt seit 1989 in Argentinien, tanzt Tango und Folklore. 

Der Wikipedia-Artikel über sie ist auffällig detailliert – 41,5 % der Bearbeitungen stammen von ihr selbst. Offenkundig legt hier jemand Wert auf die eigene Darstellung. Quellennachweise ganz unten…

Werbung oder Täuschung?

Zunächst die Frage: Muss Werbung überhaupt ehrlich sein?

    • Wenn es um Konzertplakate geht: nein. Da geht es um Meinungen, nicht um Fakten. Niemand erwartet vom Veranstalter, die Künstler nüchtern auf „Rang 189 der Weltrangliste“ zu deklarieren. Er will ein volles Haus. Ob das Publikum danach enttäuscht ist, zeigt sich in den Ticketverkäufen.
    • Wenn es jedoch um Interviews geht, in denen angeblich biografisch überprüfbare Aussagen fallen: ja. Dann reden wir sonst von Täuschung.

Beispiel: „Mit fünf Jahren hat der argentinische Tango-Weltstar Luis Pereyra angefangen zu tanzen, mit zehn Jahren stand er zum ersten Mal auf der Bühne.“

Begriffe wie „Weltstar“ oder „weltbestes Tangopaar“ tauchen in vielen Texten über Nicole und Luis auf – und werden von Journalist:innen oft unkritisch übernommen. Warum eigentlich? Ist man schon froh, überhaupt ein Interview bekommen zu haben? Oder will man sich das Vertrauen der Gesprächspartner sichern?

Die Wahrheit: Luis Pereyra ist selbst in Argentiniens Tango-Szene kaum bekannt. In Deutschland kennt ihn ein Teil des Publikums, das ihre Show El Sonido de la Tierra gesehen hat oder Workshops bei ihm besuchte. Im europäischen Ausland, in den USA, in Südamerika außerhalb Argentiniens, in Asien oder Russland: unbekannt. Weltstar? Nada.

„Weltbestes Tango-Paar“? Jeder kann sich selbst überzeugen – und sich wundern, warum dieser Superlativ gewählt wurde.

Das Prinzip der gegenseitig referierenden Referenzen

Dieser Werbetrick ist verbreitet:
Ein Künstler darf nicht direkt über sich selbst Superlative verbreiten – das wäre Eigenlob, und Eigenlob stinkt. Also setzt man das Gerücht in die Welt, eine berühmte Persönlichkeit habe gesagt, man sei „der Beste“. Nicole hat mir mal erzählt, der damalige argentinische Präsident Menem hätte sie (damals noch mit Ricardo Klapwijk) als weltbestes Tanzpaar bezeichnet. Aber was ist das für eine Expertise? Das ist in etwas so, als hätte Helmut Kohl damals behauptet, Helmut Zacharias sei der beste Geiger der Welt.

Aber eine Zeitung übernimmt das ungeprüft, es steht schwarz auf weiß im Artikel, wird von anderen abgeschrieben – und schon ist aus einem selbst in Umlauf gesetzten Gerücht ein festes Urteil geworden, das niemand mehr überprüft.

Nicole Nau nutzt dieses Prinzip konsequent.

Standort als Verkaufsargument: Buenos Aires

Ein weiteres Element ihrer Strategie war der Standort. (Jetzt nachvollziehbar)

Nicole, die früher mit Ricardo Klapwijk tanzte (und mit ihm verheiratet war), zog mit ihm nach Buenos Aires. Zunächst wollten beide dort Unterricht nehmen – Ricardo war zu dieser Zeit noch kein besonders guter Tänzer.

Dennoch kamen nach viel, Unterricht, Training und tänzerischen Fortschritten erste Engagements, etwa in der „Casa del Vino“. Von dort setzte sich eine Kette von Erfolgen in Gang. Ein Glücksfall war der Auftritt auf einer argentinischen Briefmarke.

Diese Episode erwähnt Nicole immer wieder – allerdings ohne Ricardo, der ebenfalls auf der Marke abgebildet war. Das passt ins Muster: selektives Erinnern und Weglassen, je nach der gerade erzählten Geschichte.

Die Geschichte über die berüchtigte Briefmarke hier im Detail.

In Deutschland verschaffte ihr der Wohnsitz in Buenos Aires Renommee: „Sie lebt im Ursprungsland!“ Für die argentinische Szene wiederum galt der Erfolg in Europa als Ausweis von Qualität. Ein perfekter Kreislauf: Europäische Anerkennung verschafft Ansehen in Argentinien – und umgekehrt. Einige argentinische Tänzer wollten sich ihrer Show anschließen, um viellicht irgendwann mit ihr nach Europa zu kommen.

Noch einmal: Diese Strategien halte ich für brillant. Auch wenn sie vielleicht nicht von Anfang an so geplant waren, haben sie sich als Erfolgsmodell entpuppt.

Das Interview mit Lea Martin – mein Aussagen-Check

Der Grund meines Aussagen-Checks ist die Veranschaulichung, dass Nicole Nau alle Aussagen über Unterricht, über technische Einzelheiten und deren Bedeutungen, aus Sicht ihres eigenen Bühnen-Tanzstils bewerten und begründen möchte, also sehr subjektiv, und nicht aus einer Perspektive, die die allgemeine Tango-Szene in Milongas betrifft. Aber sie stellt alle Aussagen als „Wahrheit“ dar, wie sie in Bezug auf Luis Pereyra als Referenz dargelegt werden.

Zitat: […]“Ja, das ist ein Geschenk des Himmels. Er (Luis Pereyra) sagt, er sei sein Leben lang verzweifelt gewesen, weil er diese Wahrheit über den Tango, die aus anderen Völkern stammt — ich nenne es nicht nur »Wissen«, weil es nicht angelernt ist — nirgendwo loswerden konnte, und dann kommt eine Frau aus Deutschland, und hört ihm zu.[…]

(Meine Interpretation: Das hört sich so an, als wäre Luis mit dieser „Wahrheit“ auf die Welt gekommen. Also wahrscheinlich ein Beleg dafür, dass das Tango-Wissen bei Argentiniern wohl meistens angeboren sein soll.)

Und besonders deutlich wird Nicoles Inszenierung in den Interviews mit Lea Martin auf tangosociety.de.

Beispiel: das Gespräch „Die Struktur des Tangos“. Der Titel klingt vertraut, er bestand bereits als Buchtitel von Mauricio Castro.

Ich habe das Interview mehrmals gelesen. Zunächst war ich beeindruckt, wie geschickt Nicole ihre Botschaften platzieren konnte. Die Interviewerin taucht völlig in ihre Aura ein, stellt keine kritischen Fragen, hakt nicht nach, widerspricht nicht. Im Gegenteil: Sie liefert Stichworte, die Nicole bereitwillig aufgreift. Hier wirkt jemand beinahe devot.

Lea Martin scheint stark auf die Meta-Ebene von Tango-Beschreibungen anzusprechen – und das ist Nicoles Terrain.

Ein Beispiel:

„Die Art, wie ihr die Musik auswählt, klingt, als würdet ihr Tango tanzen.“
– Lea Martin

„Ja. Unser ganzes Leben ist ein Miteinander. Luis kocht gern. Dann ist es für mich selbstverständlich, dass ich spüle […] Er kocht mit solch einer Liebe für uns, da möchte ich im Dank die Küche für ihn so sauber hinterlassen, dass er gerne wieder kocht.“
– Nicole Nau

Toll: Spülen, nicht aus Hygienegründen, sondern als Ausdruck von Dankbarkeit. Das gibt dem klassischen Rollenverständnis von gender-typischer Hausfrauenarbeit eine ganz neue Nahrung. 

Der Rhythmus als Geheimnis – die musikalische Erweckung

Nicole erzählt weiter:

„…Und dann bin ich auf Luis gestoßen und habe mitbekommen, dass er die Musik vollkommen anders aufnimmt, nämlich aus den alten Wurzeln, aus denen sie entstanden ist, und plötzlich hat sich alles erschlossen, alle Türen haben sich geöffnet.“

Sie beschreibt eine Art Erweckungserlebnis. 

Lea Martin: „Kannst du beschreiben, was das bedeutet, »er nimmt Musik anders auf«? Die Musik ist ja erst mal die gleiche, wenn man sie hört.“

Nicole Nau: „Die Musik ist immer die gleiche, genau. Aber die Musik von schwarzen Völkern ist sehr rhythmisch und synkopisch. […] Im Tango Argentino ist es Oummmm, pa, oder Oummmmm, pa, pá, pa. Daher hat der Tango Argentino eine Struktur, die unter dem liegt, was Europäer zu hören gewohnt sind. […]“

Sie spricht von Musik, die immer die gleiche ist, aber von Musik von schwarzen Völker, die rhythmisch und synkopisch ist, dann von Tango Argentino mit Oummmm, pa oder … danach von Bewegungen, die wie Cha-Cha-Cha oder Salsa aussehen. Dann von tänzerischer Freiheit. Dann von musikalischen Strukturen, die man angeblich nur mit Luis’ Hilfe begreifen könne.

Und von einer Musikstruktur, die „nach unten pulsiert“, das klingt poetisch – aber bleibt unklar. Für mich eher ein Rätsel, das sich musikalisch schwer einordnen lässt. Doch genau das ist der Trick: Ein Rätsel erzeugt den Wunsch nach Aufklärung. Und die gibt’s im Unterricht. Verkaufspsychologisch klug.

Theorie…

Nicole erklärt im Interview weiter:

„…Wenn ich die Musikstruktur aber mitbringe, ist das so etwas wie ein kleiner GPS, oder der Sonnenstand am Himmel, auf dem das Paar ruht, sich verlassen kann. Hier setzen ja auch alle Instrumente ein.“

Lea Martin:

„Dann führst du ihn?“

Nicole Nau:

„Nein, ich führe nicht, ich trage das Paar musikalisch. Es ist eine feine nuancierte Arbeit, Musik nicht zu stehen, sondern sie zu bewegen. Musik zählt sich, auch wenn du sie nicht zählst. Wer ein gutes Rhythmusgefühl hat, der fühlt, hier fängt sie an, hier ist sie zu Ende. Das sind Zahlstrecken. Im Tango ist die Struktur binär. Der Sechs-Achtel-Takt ist der Takt unserer Folklore. Er gruppiert sich in zwei Dreiergruppen. Die Folklore Argentiniens ist also auch binär. In den meisten Milongas nimmt die Gitarre den Sechs-Achtel-Takt und spiegelt sie in den Zwei-Viertel-Takt der Milonga.“

Tut mir leid, ich bin wirklich zu blöd dafür, habe also 40 Jahre lang nichts verstanden. Aber wie sieht das tänzerisch dann so aus? 

… und Praxis

Ich bin überzeugt, dass Luis Pereyra ein hervorragender Musiker, Rhythmiker und Tänzer ist. Doch in seinem Tango und in seiner Milonga ist von den oben beschriebenen „Mysterien“ tänzerisch wenig zu finden. Oder was meint ihr?

Anders gesagt: Rhythmisch tanzen die meisten – auch Europäer – einen Tango oder eine Milonga nicht viel anders. Vielleicht stilistisch nicht so ähnlich, vielleicht nicht so professionell wie er – aber vom „geheimnisvollen Mehr“ kann optisch keine Rede sein.

Workshop-Philosophie: Der Ocho

In einem anderen Interview mit Lea Martin, „Tanzen im Supermarkt“ (Link), verrät Nicole Grundlagen ihres Unterrichts.

Sie erklärt den Ocho zur Basis des Tango:

„…Für viele Bewegungsabläufe brauchst du einen guten Ocho. Wenn der nicht da ist, können wir nicht weiter. Ein gut getanzter Ocho ist kein »I«, sondern eine Acht. Der Ocho ist ja mal entstanden, wie eine Schlaufe, weil der Mann nicht weitergelaufen ist, stattdessen der Frau die Musik übergeben hat. Da ist nicht jemand gekommen und hat gesagt, ich erfinde jetzt mal die Acht.“

Wirklich? Für viele Tänzerinnen ist der „ocho adelante“ nur einer von 5 möglichen Richtungswechseln um den Partner herum: 

      1. front-cross > front-cross = Vor-Ocho
      2. front-cross > back-cross = Vorkreuz > Rückkreuz
      3. back-cross > back-cross = Rückwärts-Ocho
      4. back-cross > front-cross = Rückkreuz > Vorkreuz 
      5. Seit > Seit = Apertura > Apertura

Und vielleicht übersieht sie hier den folkloristischen Ursprung. Denn der Ocho ist in Kreistänzen – bei denen sich die Gruppe mit der Körperfront zur Mitte im Kreis bewegt – ein üblicher Richtungswechsel. Dabei wechseln alle Tänzer:innen mit einem Vorwärts-Kreuzschritt die gemeinsame Drehrichtung mit einem weiteren Vorwärts-Kreuzschritt in die Gegenrichtung. Und komischerweise sehe ich auch solche Beckendrehungen beim Malambo. Aber da kennt sich Luis wohl besser aus. 

Der im Tango bekannte „Rautenschritt“ – heute Molinete oder Circulación – ist ein direktes Bindeglied vom Folkloretanz zum Paartanz. In vielen Tänzen wird dieser Richtungswechsel sogar mit einem Seit-Tap-Schritt – ähnlich wie im „ocho cortado – unterstützt, den man auch in der Milonga oft tanzt.

Natürlich übernahm man solche Bewegungsprinzipien im Tango. Aber ursprünglich waren sie viel kleiner und enger – nicht so raumgreifend wie in Nicoles Lehrvideos. Allein schon die engen Kleider der 30er- und 40er-Jahre verhinderten große Schritte. Alte Aufnahmen belegen das.

Die Bedeutung, die Nicole dem Ocho Adelante beimisst, ist stilistisch überhöht. Wahrscheinlich hängt das damit zusammen, dass sie ihn selbst überproportional oft tanzt – und dass sie beobachtet, wie viele Frauen lange brauchen, um ihn überhaupt einigermaßen elegant auszuführen.

In den Milongas hingegen ist der Ocho Adelante nicht so oft  zu beobachten, häufiger getanzt wird eher der Ocho Cortado.

Nicole Nau: „Vor allen Dingen ist ein Ocho kein »I«. Kein »Schritt, Füße schließen, umdrehen, Schritt, Füße schließen, umdrehen.“

Hier stimme ich ihr in dieser Kritik zu. Leider wird der Ocho noch heute oft so unterrichtet.

Über das Gehen

Weiter sagt sie: „Die Basis des Tango ist das caminar, das natürliche Gehen. El tango se camina. Der Tango wird gegangen. Aber el caminar, das Gehen, wird getanzt. Man muss das Gehen tanzen. 

Ich verstehe, was sie meint, aber wenn das Gehen getanzt werden soll, ist es kein natürliches Gehen mehr, also mit der Motivation von A nach B zu kommen, sondern die Füße imTaktschlag der Musik aufzusetzen. Der Tango-Gang dient dabei also nicht der Fortbewegung, sondern der Musik-Interpretion, – die Fortbewegung ist dabei nur eine Begleiterscheinung. Die eigentliche Kunst dabei ist es aber, dies wie einen natürlichen Gang aussehen zu lassen.

Nicole Nau: Ich habe das Gefühl, dass dieses Gehen abgearbeitet wird, auf Vierecke gelegt, vorwärts, rückwärts. Dieses Gehen wird unterteilt in drei Teile: Schritt, Schließen, Schritt. Das ist kein Tanz. Das ist das Abarbeiten einer Bewegung.“

Auch hier stimme ich 100%ig zu. Aber so haben wir beide es mal selbst zusammen unterrichtet. Denn so haben wir und viele andere es mal von Juan D. Lange übernommen. Aber man lernt ja dazu. Ich hingegen in Deutschland. 

Weiter: „Wir machen im Tango Argentino ganze Schritte, keine zwei halben. Ein Schritt beginnt, wenn der Fuß sich am Boden löst und endet, wenn der Fuß wieder aufsetzt. Du kannst dann in Bewegung auf die Musik warten. Also gerade nicht einen Zwischenstop einlegen, sonst habe ich einen toten Punkt.“

Endlich sagt es mal jemand! Großartig – nur leider begreifen das die wenigsten. Und schlimmer noch: es wird im Unterricht weiterhin falsch vermittelt.

Ronda

Nicole Nau: „Um hinter jemandem her zu tanzen, gehe ich in den Supermarkt.“

„Du musst hinter dem Hintermann her tanzen.“

Nicole stellt sich also die Ronda wie eine Warteschlange im Supermarkt vor. Ein einprägsames Bild, ja – aber trifft es die Realität?

Ich muss zugeben, dass leider in vielen Milongas so damit umgegangen wird:

Am Außenrand Paar an Paar, dicht gedrängt, Stau, und im Innenraum kaum ein Paar, bis auf ein paar Chaoten, Anfänger oder Tänzer, die verzweifelt versuchen, eine zweite Spur auf der Piste zu etablieren. Das ist wirklich eine seltsame Auslegung von Ronda, die es aber, zumindest in der spanischen Sprache, auch im Plural gibt.

(Aber auch auf deutschen Autobahnen hat man die Mehrspurigkeit offenbar noch nicht so richtig verstanden.)

Der Tango in Rondas sei, so Nicole, kein freies Tanzen, kein Volkstanz. Sie verweist auf die 1940er-Jahre in Buenos Aires.

„Das war wie ein Ameisenhaufen, und trotzdem hat niemand niemanden totgetreten. Die kamen klar. Wenn du einen guten Ocho kannst, dann geht auch eine Drehung, gehen auch Ganchos. Aber wenn du eine Linie hast, kommt der Mann nirgendwo in den Beinraum und das Paar braucht wahnsinnig viel Platz.“

Wie stellt sich Nicole das „freie Tanzen“ auf vollen Tanz-Pisten vor?

Dieses Chaos hatten wir zeitweise in Deutschland, als sich die Tanzpisten füllten, nein Danke!

Bis dann, ein paar Tango-Touristen, vom „freien Tanzen“ auf Pisten in Buenos Aires ernüchtert – weil sie dort mit ihrem tänzerischen europäischen Freigeist herunter komplimentiert wurden – diese Rücksichtnahme und das geordnete Tanzen in Spuren auch hier in Europa etablierten. (Es wäre nur schön und für alle Autofahrer entspannter, wenn die Porteños diese Regelung auch in ihrem Straßenverkehr in Buenos Aires übernehmen würden.)

Ob Nicole und Luis dort überhaupt jemals tanzen, ist fraglich. Viele ihrer Schüler berichten jedenfalls, dass das in deren Workshops Gelernte auf Milongas kaum anwendbar war.

Chaotische Rondas und strenge Codigos

Ja, die Tanzflächen der 40er-Jahre in Buenos Aires waren „Ameisenhaufen“. Aber dieses Chaos hatte auch seine Schattenseiten: Aggressionspotenzial und handfeste Konflikte. Es gab Milongas mit offizieller Aufsicht, die eingreifen musste – etwa bei Streit um zerrissene Seidenstrümpfe.

Erst später entwickelten sich die Rondas disziplinierter. Aber sie entstanden nicht aus offiziellen Vorschriften, sondern aus der Tanzerfahrung der Tänzer:innen selbst, aus einem gesellschaftlichen Konsens.

Das ist vergleichbar mit dem Straßenverkehr in Buenos Aires: chaotisch, aber mit einem gewissen „common sense“ – man kommt schon irgendwie durch. Auf die Gegenfahrbahn fährt trotzdem keiner.

In Europa dagegen fehlt dieser Hintergrund. Hier rutschte man ins andere Extrem: Überregulierung. 

Grundschritt und Improvisation

Nicole Nau: „…Aber nein, in Deutschland kommt man auf die Idee, dass es einen Grundschritt nicht braucht. Könntest du dir das für den Walzer vorstellen?“

Tut mir leid, aber hier liegt ein Missverständnis vor. Improvisierter Tango lässt sich nicht mit dem Walzer vergleichen, der seine Form überhaupt erst aus einem klar definierten Grundschritt erhält.

Was sie meint, ist vermutlich die base. Aber die base ist kein Grundschritt, sondern ein Surrogat aus verschiedenen Tanzpositionen, entstanden aus der „circulación“ der „molinete“ in Linie. Sie als „Grundschritt“ zu deklarieren, ist problematisch – gerade für Anfänger:innen. Denn diese komprimierte Zusammenfassung von Form und Modus ist für Anfänger:innen eine Überforderung. Damit kann man als Tango-Lehrer die Tanzschüler bis zum Nervenzusammenbruch korrigieren. Luis Pereyra offenbar – laut Aussagen von Kursteilnehmern – auch sich selbst als Lehrer.

Ich habe der „base“ einen ganzen Artikel gewidmet.

Festhalten an der „Base“

Dass der Tango sich nicht über eine festgelegte Schrittkombination, sondern über den Modus definiert – darauf weisen bereits die Dinzels hin. Aber die Dinzels haben trotzdem diese feste Form unterrichtet. Versteh das einer. Nicole ist eine sehr gute Bewegungsanalytikerin, aber warum versteht sie nicht, dass die Fixierung auf die base für die Bewegungsschulung des Gehens nicht geeignet ist? 

Dass die base als Grundgerüst zur choreografischen Orientierung anhand der Positionen in vielen Kursen ihren Platz hat, kann ich nachvollziehen. Aber sie ist kein Grundschritt im herkömmlichen Sinne, um einen Tanz grundsätzlich in seiner Form zu beschreiben.

Natürlich wird sie noch vielerorts so unterrichtet. Aber gerade das zeigt, dass hier eher ein Unterrichtskonzept mit Figuren im Vordergrund steht als das tatsächliche improvisierte Tanzen auf der Milonga.

Für die meisten Anfänger bedeutet die Gleichsetzung von Grundschritt und base einen Stolperstein. Man bekommt ein Konstrukt vermittelt, mit dem man auf der Milonga kaum etwas anfangen kann. Improvisation bleibt auf der Strecke.

Tanzstil von Nicole & Luis und die Realität

Nicole & Luis dürfte kaum entgangen sein, dass sich der Tango weiterentwickelt hat – und wie er heute in Buenos Aires getanzt wird. Sie leben schließlich dort, und in ihrer eigenen Truppe tanzen durchaus Paare, die den aktuellen Stil verkörpern.

Natürlich darf man seinem persönlichen Stil treu bleiben und ihn auf der Bühne präsentieren. Das ist legitim und kann als künstlerische Handschrift gelten. Doch das Lern-Publikum der alltäglichen Tango-Szene scheint von ihrem Ansatz nicht wirklich erreicht zu werden. Denn Umarmung, Körpernähe und typische Muster wie das längst verbreitete gekreuzte Schrittsystem prägen den heutigen Tango-Zeitgeschmack – gehören aber gerade nicht zu ihrem Repertoire. Ihr eigener Tanzstil ist davon weit entfernt.

Die entscheidende Frage lautet: Wie schaffen sie es trotzdem, Tanzschüler zu finden oder sogar erfahrenere Tänzer:innen zufriedenzustellen? Was passiert in einem Unterricht, wenn fortgeschrittene Tänzer:innen dort auf einen Tango treffen, der stilistisch eher auf die Bühnenästhetik der 70er- und 80er-Jahre zurückgeht?

Und genau hier setzt meine Kritik an: Stellen Nicole & Luis ihren Stil etwa als den wahren „Tango Arcaico“, den archaischen Tango, dar – während der europäische „Encuentro-Tango“ in der „Reihen-Ronda“ als missverstandene Kopie abgetan wird? Diese Vermutung liegt nahe – und wird von ehemaligen Teilnehmer:innen ihres Unterrichts bestätigt.

Wollen Nicole & Luis den fortgeschrittenen Tanzschülern weismachen, dass der Tango, mit dem die meisten europäischen Tänzer:innen auch in den Milongas in Buenos Aires klarkommen, ein kulturelles Missverständnis sei? Dass man sich dort angeblich ebenso frei bewegen könne wie in ihrem räumlich ausschweifenden Bühnen-Stil? Dass die Ronda, die auch in Buenos Aires praktiziert wird, nur eine fixe Idee regelfreudiger Deutscher sei?

Die Realität ist eindeutig: Niemand tanzt in den Milongas von Buenos Aires wie Luis & Nicole in ihrem Unterricht.

Fazit

Dies war ein recht oberflächlicher, aber langer Beitrag. Das ist mir bewusst. Ich werde mich ein wenig mehr mit Nicoles und Luis‘ Buch „Der Klang meiner Erde“ beschäftigen müssen, denn solche aus dem Zusammenhang gerissenen Zitate in einem Interview können nicht das tänzerische Wissen von Nicole in Frage stellen. Ich beobachte sie seit 37 Jahren, seit unserer beruflichen Trennung als gemeinsames Tanzpaar. Auch diese Verbindung verheimlicht Nicole, obwohl es ja Dokumente und Filme aus dieser Zeit gibt, zum Beispiel die Unterrichts-Video bei Antonio Todaro 1988 in Amsterdam bei YouTube.  Seltsam ist auch, wie sie mich als Person und unsere gemeinsame Zeit, immerhin war ich ihr erster Tango-Lehrer und Tanzpartner, in ihrem Narrativ lediglich auf einen „am-Schuh-kleben-geblieben-Werbezettel“ reduziert  – verächtlicher geht’s kaum. Peinlich? Mir nicht, ich stehe dazu. Da ich Nicole so lange kenne, mag mir auch eine gewisse Kenntnis und Beschreibung ihrer Strategien erlaubt sein. 

Nicht nur Nicole Naus Erfolg als Tänzerin ist ein Phänomen des Tango, sondern auch ihr Talent fürs Marketing. Sie versteht es, Geschichten zu erfinden, Halbwahrheiten geschickt zu platzieren und aus jeder Episode – sei es ein Wohnsitz, ein Interview oder eine Briefmarke – Kapital zu schlagen. Ihre Superlative – „Weltstar“, „weltbestes Paar“ – sind Luftnummern, die sich gegenseitig bestätigen, bis sie irgendwann geglaubt werden.

Das zeigt sich auch in ihren Tournee-Daten: vertreten ist fast ausschließlich Deutschland. Vermutlich liegt das an Nicoles Muttersprache und an den Kontakten, die sie noch aus der Zeit mit Ricardo Klapwijk aufgebaut hat – letzteres allerdings schon länger her. Außerdem kann sie hier im Unterricht leichter übersetzen.

Das eigentliche Problem ist nicht Nicole selbst. Sie macht nur, was sie kann: sich verkaufen. Das Problem ist die deutsche Tango-Szene, die ihr diese Fassaden abnimmt, anstatt genauer hinzuschauen.

Fragen, die bleiben:

    • Wenn Nicole die Freiheit des Tanzens und die Lebensfreude so stark betont, warum tanzt sie selbst fast ausschließlich choreografisch – und nur mit demselben Partner, Luis Pereyra?

    • Warum werden in ihrem Unterricht vor allem festgelegte Figuren vermittelt, die auf Milongas kaum anwendbar sind? Wo bleibt die tänzerische Freiheit mit den neun Elementen, die man beliebig kombinieren könnte?

    • Wenn die komplexen rhythmischen Strukturen ihr so wichtig sind, warum sieht man davon in ihrem Tanz nichts?

    • Wenn doch der Tango so ursprünglich, so erdig, so „oummm pa pá“, so „aus den alten Wurzeln“ ist, warum verkaufen sie ihn werbetechnisch mit allen kitschigen Klischee der Tango-Industrie?

Ihr Tango, ihre Didaktik und ihre „Wahrheiten“ halten der Realität nicht immer stand. Die angeblichen Geheimnisse sind keine – sie sind Verkaufsargumente. Was bleibt, ist eine glänzende Fassade, die mehr über PR verrät als über den Tango.

Das ist aber nur möglich, weil die Tango-Szene diese Fassade so gern annimmt.

Zugleich muss ich ihren Fleiß und ihr soziales Engagement – etwa für Futuro Sí – ausdrücklich anerkennen. Auch Luis besinnt sich immer auf seine Wurzeln und hat harte finanzielle Schläge aushalten müssen. Gemeinsam haben sie eine beeindruckende Show auf die Beine gestellt, übernehmen Verantwortung für ihre Musiker und Tänzer, planen, finanzieren und stemmen Tourneen. Das ist harte Arbeit und verdient Respekt.

Die negative Seite ihrer Werbestrategie zeigt sich im Zwischenmenschlichen. Nur eines konnte ich nie akzeptieren: Ich lasse mich als europäischer oder deutscher Tango-Lehrer und -Tänzer nicht gern als „Gringo“ herabstufen – angeblich unfähig, den Tango wirklich zu verstehen, weil ich in einem tango-fremden Land geboren bin und keine indigenen Vorfahren habe. Aber offenbar doch gut genug, um ihnen meine Schüler aufzubauen.

Aber was mich beim Durchlesen dieses Artikels am meisten erschreckt hat?

Dass ich einen Beitrag beinahe nach dem Muster Gerhard Riedl fabriziert habe: Scheinbar Zitate aus dem Zusammenhang gerissen, mich scheinbar darüber lustig gemacht und eine Person damit fragwürdig dargestellt. Kommt nicht wieder vor, aber das Beispiel Nicole Nau hat mich schon lange herausgefordert. 

Ich bemerke gerade, dass jemand diese Videos mit mir und Nicole gelöscht oder blockiert hat. Große Frage: Wer wohl? Aber kein Problem, das ist Ricardo auch schon passiert. 


Nachtrag

Die in einer früheren Version in den Links vermissten Texte aus dem Interview ´mit Lea Martin, waren nur aufgrund einer technischen Störung vorübergehend nicht erreichbar, wurden also nicht – wie vermutet –  gelöscht. Die Verbindung steht wieder und die Links sind wieder aktuell. 

Allerdings möchte ich noch einen Kommentar anfügen, den ich unter Gerhard Riedls Artikel über diesen Beitrag  und über Nicole Nau schrieb:

Lieber Herr Riedl,
da Sie bereits meinen Artikel über Nicole Nau empfehlen, möchte ich noch eine kleine Anekdote hinzufügen, die zugleich etwas über die selektive Erinnerung von Nicole Nau verrät und – zufälligerweise – auch die von Ihnen kürzlich kritisierte Musikauswahl von Felipe Antonio betrifft:
Felipe Antonio – „Jueves“ – sorry, aber 1986 gab es kaum anfängertaugliche Tangos zu kaufen.
Diese Musik hatte ich jedoch damals oft aufgelegt, auch oft vor der ersten Unterrichtsstunde, wenn ein Kurs eröffnet wurde.
Offenbar hat diese Musik auf Nicole Nau einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen. Denn in ihrem Interview mit Lea Martin sagte sie:
“Ich habe Tango erst gehört, dann gesehen. Es war in Düsseldorf, da ist mir ein Papier am Absatz hängen geblieben, auf dem stand etwas von »Tango«. Ich bin einfach hingegangen, zu diesem Kurs oder Workshop. Der Unterrichtsraum lag hinter dem Hof. Ich ging durch das große Tor vorne und hörte die Musik. Die Musik hat mich vollkommen gepackt.“
Tja, so ist es, wenn Erinnerung verklärt wird – am Ende führt es unweigerlich „zum Schuss ins eigene Knie“.
Mit freundlichen Grüßen
Klaus Wendel

Quellennachweise:

Über Wikipedia-Darstellungen habe ich recherchiert: 

Selbstdarstellung und Biografien lebender Personen

• Wikipedia ist in Biografien besonders streng.

Selbstbeweihräucherung (z. B. wenn eine Person ihren eigenen Artikel bearbeitet) ist problematisch, wird aber oft erst durch andere Nutzer korrigiert.

Kritische oder ergänzende Inhalte dürfen nur aufgenommen werden, wenn es dafür seriöse, veröffentlichte Quellen gibt.

In diesem Fall: nur erstmal zwei:

  1. 1. https://mocca.digital/media/8709-mocca_september_1987.pdf?utm_source=chatgpt.com
  2. 2. https://de.wikipedia.org/wiki/Annette_Meisl?utm_source=chatgpt.com
Rechtlich gesehen könnten Ricardo und ich uns also über den Wikipedia-Beitrag hermachen, aber wir lassen es. 


• Rechtliche Lage

Wenn man Änderungen vornimmt, die durch seriöse Quellen belegt sind, ist das völlig unproblematisch.

Ohne Quellen wird es sofort wieder gelöscht (und ggf. als „Theoriefindung“ markiert).

9 thoughts on “Das Phänomen Nicole Nau – Ein Medien-Profi (bearbeitet)

    • Author gravatar

      Lieber Klaus,

      ich habe den Text jetzt mehrmals gelesen und frage mich, was der Tenor des Textes sein soll bzw. der Beweggrund war, diesen Text zu verfassen, denn eine „persönliche Abrechnung“ soll es ja gerade nicht sein. Dennoch bleibt genau das bei mir hängen oder weshalb sind die Spülgewohnheiten im Hause Nau/Pereyra erwähnenswert?
      Das möge man doch bitte den beiden überlassen und wenn sie in Luis ihren Herzensmenschen gefunden hat, so what?

      „Ich beobachte sie seit 37 Jahren, seit unserer beruflichen Trennung als gemeinsames Tanzpaar. Auch diese Verbindung verheimlicht Nicole […]
      Seltsam ist auch, wie sie mich als Person und unsere gemeinsame Zeit, immerhin war ich ihr erster Tango-Lehrer und Tanzpartner, in ihrem Narrativ lediglich auf einen „am-Schuh-kleben-geblieben-Werbezettel“ reduziert.“

      Sorry aber das klingt für mich sehr nach gekränktem Ego, obwohl ihre Art zu tanzen keinen bleibenden Eindruck bei Dir hinterlassen hat (ich frage mich, warum man einen Tanzpartner hat, dessen Art zu tanzen „beliebig“ ist).

      Ricardo steht offenbar über den Dingen, denn von ihm habe ich noch nie eine negative Äußerung über Nicole gehört, obwohl er komplett aus ihrem Leben gelöscht worden ist, so zumindest der Eindruck. Ich kann das menschlich nicht nachvollziehen aber mir steht es nicht zu, dieses Verhalten von Nicole zu beurteilen, weil es eine private Angelegenheit ist, die man meiner Meinung nach nicht an die Öffentlichkeit zerren muss.

      Ich kenne nur Ricardo, insofern bin ich alles andere als parteiisch, was Nicole angeht aber ich finde solche persönlichen Artikel sehr befremdlich.

      LG
      Anja

      • Author gravatar

        Liebe Anja,
        …und ich habe deinen Kommentar mehrfach gelesen und bin ehrlich gesagt erstaunt über die Verdrehungen, die dich offenbar zu einer Verteidigung von Nicole verleitet haben. Deshalb möchte ich einige Dinge klarstellen:
        1. Persönliche Abrechnung?
        Deine erste Frage: Den Beweggrund oder Tenor meines Artikels habe ich bereits im Eingangstext beschrieben. Aber meine Abrechnung ist keine persönliche, sondern eine mit ihrer etwas verschobenen Selbstdarstellung, mit Ihrer Pose. Wenn Nicole zum Beispiel in einer Fernsehsendung über „Kämpfernaturen“ ihre ganz persönliche Geschichte offen erzählt, ihr Leben als Kind mit der Alkoholkrankheit ihrer Mutter öffentlich macht, dann sehe ich darin keine ehrliche Läuterung, sondern eine Selbsterhöhung mittels Erniedrigung ihrer Mutter. Sie stellt nämlich darin ihre Geschichte als Kind, mit dem heimlichen Einschließen in einem stillen Raum, um darin traurige Geschichten zu tanzen, in den Kontext der späteren Karriere als Tango-Tänzerin, lässt aber dabei wieder 15 Jahre Entwicklung als Tänzerin aus. Dann stellt sie ihre beginnende Bühnenkarriere in Buenos Aires als Solo-Überlebenskampf mittels Casting-Agenturen dar, und lässt die Geschichte, denn Grund ihres Erfolges, nämlich Ricardo total aus. Mal abgesehen davon, dass sie wirklich was durchgemacht hat, aber in einer Fernsehschau die eigene Kämpfernatur mittels Lügen darzustellen, ist etwas anderes als eine Therapie und Verarbeitung ihrer Lebensgeschichte.
        Du wirfst mir vor, ich hätte meinen Text zu einer „persönlichen Abrechnung“ gemacht – weil ich im Schlusssatz nach 37 (!) Jahren einen einzigen Satz über unsere gemeinsame Vergangenheit erwähnt habe? Und zwar im Zusammenhang mit einer ziemlich miesen Herablassung meiner Person.
        Gegenfrage: Ist es keine „persönliche Abrechnung“, wenn Nicole mich (und Ricardo) seit Jahren in Interviews, Shows, Fernsehsendungen und sogar in ihrer Biografie konsequent ausblendet oder – wenn überhaupt – mich als Person auf einen „am Schuh klebenden Werbezettel“ reduziert? Ist dieses Schweigen, diese Auslassung nicht mindestens ebenso persönlich verletzend?
        Ich habe das einmal in einem Nebensatz erwähnt. Nicole dagegen zieht es seit Jahrzehnten durch. Und du nennst meine Bemerkung eine Abrechnung? Da verrutscht dir die Perspektive.
        Was du hier nämlich als meine persönliche Kränkung beschreibst, ist bei mir in Wirklichkeit mehr eine Verwunderung über ein tragisches, persönliches Scheitern einer erfolgreichen Person – etwas, das ich eher mit einem Gefühl des Bedauerns betrachte.
        2. Die Sache mit dem Spülen
        Du kritisierst, ich hätte Nicoles „Spülgewohnheiten“ unnötig öffentlich gemacht. Aber hier verdrehst du Ursache und Wirkung: Diese Anekdote stammt nicht von mir, sondern von Nicole selbst. Sie bringt sie immer wieder in Interviews vor – und zwar im Kontext von Tango, Partnerschaft und Rollenverständnis.
        Wenn ich das aufgreife, dann nicht, um ihre Zweisamkeit lächerlich zu machen, sondern um zu zeigen, wie selektiv sie ihre Privatsphäre öffnet: Unwesentliches (Hausarbeit als devoter Dankesgestus) wird groß in Szene gesetzt, Wesentliches (z. B. frühere Partnerschaften, künstlerische Weggefährten) wird ausgeblendet.
        Meine Kritik richtet sich gegen diese kalkulierte Außendarstellung. Wenn banales Spülen zur rituellen Metapher für Partnerschaft und gar für das Ideal des Tangopaars hochstilisiert wird, dann ist das nicht „meine Indiskretion“, sondern ihre Pose. Und genau diese wollte ich sichtbar machen.
        3. Die Briefmarke und Ricardo
        Ricardo selbst hat in einem eigenen Artikel die Wahrheit über diese berühmte Briefmarke öffentlich gemacht – eine Geschichte, die Nicoles Verhältnis zur Wahrheit in ein sehr schlechtes Licht rückt.
        Natürlich gibt er keine „Abrechnung“ von sich. Warum? Weil Nicole jede Darstellung ihrer gemeinsamen Zeit mit rechtlichen Schritten unterbunden hat – und er mit weiteren rechnen müsste. Er darf nicht einmal seine eigenen Tanzvideos zeigen, die doch einen wichtigen Teil seiner Laufbahn dokumentieren.
        Was du also als „Coolness“ oder „Gentleman-Gelassenheit“ interpretierst, ist in Wirklichkeit vielleicht alles andere als gelassen. Das ist mein persönlicher Eindruck – Ricardo ist Ricardo, ich bin ich. Aber wie ich von Ricardo weiß, war auch er sehr, sehr verletzt.
        Darum mein Rat an dich: Äußere dich nicht über persönliche Dinge, die du gar nicht beurteilen kannst. Mit deiner Unterstellung meiner persönlichen Kränkung riskierst du, genau den Schmutz an die Oberfläche zu bringen, den eigentlich niemand öffentlich sehen möchte – der aber im Zweifel der Klarstellung dienen müsste. Deine Eindrücke kannst du gern teilen, das ist legitim. Aber deine Perspektive ist in diesem Punkt schlicht verrutscht. Es ist nämlich so, dass viele Menschen und Wegbegleiter um ihre persönliche Dinge aus der Vergangenheit wissen, aber ihnen Nicoles Schweigen darüber unverständlich erscheint. Denn würde Nicole zu ihrer tänzerischen Entwicklung stehen, wäre es angesichts ihrer Bekanntheit und ihrer Leistung überhaupt kein Problem und würde alles in einem menschlicheren Licht erscheinen lassen. So, wie sie jetzt versucht es unter den Tisch zu kehren, macht sie es nur schlimmer und für sie peinlicher. Im Übrigen betrachte auch ich unseren damaligen Bühnen-Tanz vor 37 Jahren als selbstüberschätzenden Makel meiner tänzerischen Laufbahn, – auch schäme mich etwas dafür, aber ich stehe zu meiner Vergangenheit.
        Mit freundlichen Grüßen
        Klaus Wendel

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      Man muss doch zugeben, dass Nicole auch ein gutes Gespür für den Tango hat, denn das Foto zu diesem Artikel zeigt sie doch beim wohlwollenden Betrachten des Videos eines bekannten bayrischen Tangobloggers. Oder?

      Fröhliche Grüße aus Luxembourg

      P. Paal

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      > „wenn das Gehen getanzt werden soll, ist es kein natürliches gehen mehr, also von A nach B.“

      Warum nicht? Es wäre hilfreich, wenn du deine Feststellungen/Behauptungen begründen würdest und sei es nur mit einem Link z.B. auf einen Artikel, in dem du dich mit dem Thema schon mal beschäftigt hast.
      Das folgende Gehen finde ich völlig „natürlich“: https://www.youtube.com/watch?v=azfamJ_7jA0
      Aber man kann natürlich auch das Bein übertrieben durchstrecken, den Fuß nach außen drehen und mit dem Ballen bzw. den Zehen zuerst aufsetzen, dann ist es UNnatürliches Gehen: https://www.youtube.com/watch?v=3JnOO0dPbXo

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        Hallo Jochen,
        gerne, hier mein Artikel zum Thema „Gehen“. https://www.tangocompas.co/gedanken-ueber-tangounterricht-teil-4/
        Ist natürlich ein schwieriges Kapitel, weil man oft den Unterschied zwischen tänzerischer Intention und rein technischer Ausführung für etwas Belangloses hält. Aber das Gehen bekommt einen völlig anderen Ausdruck, wenn man die „Qualität des Aufsetzens“ der Füsse nicht als vorletzte Konsequenz einer Fortbewegung betrachtet, sondern als die eigentliche, musikalische Möglichkeit benutzt, die Taktschläge zu akzentuieren, weil ich ja dafür nur die Füße habe, denn die Hände stehen ja dafür in der Urarmung nicht zur Verfügung.
        Ob nun natürlich oder unnatürlich, spielt hier keine Rolle, es ist nur ein qualitativer Unterschied. Ich bevorzuge natürlich die natürliche.
        Es ist aber genau die Schwierigkeit eine tänzerische Bewegung wie den Tango-Gang natürlich wirken zu lassen. Aber es ist nicht damit getan einfach nur, wie auf der Straße, sich gehend fortzubewegen. Obwohl es so wirkt.
        Habe selbst lange gebraucht, dahinter zukommen, das kann auch kaum jemand gut erklären. Hatte letztens Masterclass und habe das dort bestätigt bekommen.
        Kann es auch so ausdrücken: Wenn Du in Deinem natürlichen Tango-Gang die Füße bewusster aufsetzt, ob weich, flach, schnell, je nach Musik, wirst Du einen anderen, tänzerischen Ausdruck bekommen.

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          Hallo Klaus,

          ich habe jetzt mehrmals deine Antwort auf Jochens Kommentar gelesen und werde einfach nicht schlau draus. Geht Adam Cornett in dem von Jochen verlinkten Video „natürlich“, oder nicht? Das ist eigentlich eine einfache Frage, die man mit wenigen Sätzen beantworten könnte. Stattdessen schreibst du von „tänzerischer Intention“, „rein technischer Ausführung“ (?) und „Qualität des Aufsetzens“ ohne auf die eigentliche Frage einzugehen.

          Ich habe keine Ahnung, worauf sich „Ob nun natürlich oder unnatürlich, spielt hier keine Rolle“ bezieht. Falls es sich auf das Gehen in dem Video bezieht, spielt es sehr wohl eine Rolle, denn genau darum geht es.

          „Ich bevorzuge natürlich die natürliche.“ ist komplett sinnloser Wortsalat, denn es fehlt das Objekt, das dem ganzen erst eine Sinn geben würde: „die natürliche WAS“? Der naheliegende Bezug wäre „Urarmung“, aber das ergibt auch keinen Sinn.

          „das kann auch kaum jemand gut erklären.“ Natürliches (?) Gehen ist also so kompliziert, dass man es gar nicht in Worte fassen kann. Das ist eine originelle Feststellung von jemand, der angeblich seit Jahrzehnten erfolgreich Tango unterrichtet.

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            Hallo Thomas,
            Viele Dank für Deine Nachfrage. Ich muss zugeben, es ist nach einem Überprüfen ds Textes wirklich nicht gut formuliert – da hast Du völlig Recht – und ich tue mich schwer, in einem Kommentar-Zusammenhang eine Bewegung zu erklären, die durch eine Intention, von einer rein technischen Beschreibung zu einer Meta-Beschreibung wird.
            Ich habe versucht, das Gehen beim Tango zu beschreiben in einem extra Blog-Artikel: „Wie das Gehen zum Tanz wird“. Wenn Du dann nicht verstehst was ich meine, bitte melde Dich, dann muss ich das nochmal präzisieren. Ich bin wirklich interessiert daran es Dir zu erklären. Ich kann Dir nur eines schon mal verraten: Es hat nur wenig mit einer technischen Beschreibung zu tun.
            Aber ich kann bestätigen, dass mir das Gehen beim Tango durch eine tänzerische Intention zur leichtesten Übung, zum reinsten Genuss geworden ist und ich mich frage, warum habe ich da nicht früher mal drüber nachgedacht und habe im Unterricht damit einen durchschlagenden Erfolg, auch bei Anfängern.
            Mit freundlichen Grüßen
            Klaus Wendel

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            Hallo Thomas,
            Seltsam! Erst beschwert Du Dich hier darüber, aus einem Text nicht schlau zu werden, darauf antworte ich Dir, sende Dir einen Link für meinen Artikel übers „Gehen“. Obendrein antworte ich Dir ausführlich per Email, weil man „natürliches Gehen“ nicht so einfach beschreiben kann, bitte um ein Feedback – und es kommt… NICHTS!
            War Dein Kommentar jetzt eine ernstgemeinte Frage mit bitte um Klärung? Oder nur ein Schnellschuss aus der Hüfte?
            Eine Antwort kann ich ja wohl auch jetzt nicht erwarten.
            Mit freundlichen Grüßen
            Klaus Wendel

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