
Über Tango-Lehrer, Tangoschulen, Milongas und Werbeversprechen
Oder: Warum manche Werbung lesen, als wäre sie ein Ehevertrag
Es gibt Menschen mit einem erstaunlich zählebigen Hobby: Werbeversprechen wörtlich zu nehmen. Nicht als Einladung, nicht als Überzeichnung, sondern als verbindliche Zusage mit Anspruch auf vollständige Erfüllung.
„Alles läuft wie von selbst.“
„Mehr Lebensfreude.“
„Unvergessliche Abende.“
Und irgendwo sitzt jemand, reibt sich die Schläfen, fasst sich an den Kopf und stellt fest:
Also bei mir war da nichts unvergesslich.
Man kann sich darüber eigentlich nur an die Stirn fassen. Nicht, weil Werbung immer lügt, sondern weil offenbar vergessen wird, wozu sie existiert. Werbung ist kein Eid, kein Ehrenwort und kein Heiratsversprechen. Sie ist ein Instrument im Konkurrenzkampf. Und ja: Natürlich glaubt irgendjemand daran. Sonst wäre sie sinnlos.
Niemand wirbt aus Altruismus. Niemand formuliert Webseiten, um möglichst unauffällig unterzugehen. Jeder Anbieter versucht, im Vergleich besser, kompetenter, atmosphärischer oder wenigstens einladender zu wirken als die anderen. Wer das moralisch problematisch findet, hat den Markt nicht verstanden – oder möchte ihn abschaffen.
Überträgt man dieses Denken auf den Tango, wird es unerquicklich.
Plötzlich werden blumige Formulierungen von Tangoschulen wie
„mehr Musikalität“, „besseres Körpergefühl“, „Entwicklung des eigenen Stils“
nicht mehr als Beschreibung eines Lernangebots gelesen, sondern als Leistungsversprechen mit impliziter Garantie.
Und sofort treten sie auf den Plan, die Werbeversprechen-Prüfer:
Hat der Schüler nun wirklich mehr Musikalität?
Wie viel genau?
Genug für Zufriedenheit – oder erst für einen Blogartikel?
Dabei ist die Sache banal.
Tango-Lehrer sind kein Sonderfall. Sie gehören zu einem ganz normalen Dienstleistungsgewerbe. Es gibt Sprach-, Fahr-, Ski-, Surf-, Segel-, Yoga-, Musik-, Schul- und Universitätslehrer. In keinem dieser Bereiche schuldet der Lehrer den Lernerfolg und erhebt den Anspruch Respektsperson zu sein.
Niemand beschwert sich beim Fahrlehrer, weil Einparken immer noch schwierig ist.
Niemand fordert vom Skilehrer schwarze Pisten nach zwei Wochen.
Niemand schreibt wütende Essays darüber, dass Yoga nicht automatisch zur Erleuchtung geführt hat.
Nur beim Tango scheint bei manchen das Denken auszusetzen.
Hier wird aus einer bezahlten Dienstleistung plötzlich ein Ehrenamt mit Heilsversprechen. Der Lehrer soll gefälligst maximalen Einsatz zeigen, idealerweise grenzenlos – während der Schüler sich das Recht vorbehält, unregelmäßig zu kommen, kaum zu üben und dennoch „Ergebnis“ zu erwarten. Als ob irgendjemand ernsthaft glaubte, ehrenamtliches Nebenbei-Unterrichten erzeuge denselben Einsatz wie professionelle Arbeit unter Konkurrenzdruck.
Tango im Selbstversuch ist wie ein Kolbenwechsel auf dem Küchentisch.
Man hat irgendwo ein Video gesehen, besitzt theoretisch das richtige Werkzeug und ist fest entschlossen, sich nichts sagen zu lassen. Dass am Ende Teile übrig bleiben, Schrauben fehlen und der Motor danach zwar Geräusche macht, aber nicht mehr rund läuft, wird dann dem schlechten Design angelastet – oder dem Mechaniker, der nicht dabei war.
Hinzu kommt ein hartnäckiger Anachronismus: der Lehrer als Respektsperson kraft Amtes.
Wer einem Tango-Lehrer unterstellt, er benutze die Berufsbezeichnung „Lehrer“ als Respektabzeichen, sollte dringend das eigene Lehrerbild entrümpeln. Die Zeit, in der Respekt automatisch mit dem Titel geliefert wurde, ist längst vorbei – und zwar aus guten Gründen. Lehrer sind keine Respektspersonen kraft Amtes mehr, sondern Dienstleister in einem Lernprozess. Respekt entsteht – wenn überhaupt – aus Kompetenz, Klarheit und nachvollziehbarer Arbeit. Nicht aus Nostalgie.
In Argentinien ist das vollkommen unspektakulär. Ein Tango-Lehrer heißt dort schlicht profesor de tango. Kein Ehrentitel, kein Nimbus, kein moralischer Überbau. Einfach jemand, der Tango unterrichtet. Alles andere – Maestro-Pathos, Ehrfurcht, Heilszuschreibungen – ist Exportware.
Dasselbe Denkmuster setzt sich bei Milongas fort.
Auch sie werden gern als Paradiese beworben:
„die beste Milonga der Stadt“,
„familiäre Atmosphäre“,
„ein Abend zum Wohlfühlen“.
Und prompt werden diese Worte wie Garantien gelesen. War es wirklich paradiesisch? War die Stimmung durchgehend gut? Haben alle rücksichtsvoll getanzt? Hat die Musik inspiriert? War der Boden perfekt?
Die Milonga als Paradies ist eine Illusion.
Eine Milonga ist kein Wellness-Resort.
Kein Kuraufenthalt.
Kein demokratisch abgesicherter Wohlfühlraum.
Sie ist eine Veranstaltung mit Menschen. Und Menschen bringen Launen, Unsicherheiten, Egos, schlechte Tage, falsche Schuhe und gelegentlich fragwürdige Musikvorlieben mit. Wer erwartet, dass all das draußen bleibt, erwartet das Unmögliche.
Hier erinnert die Debatte zunehmend an die berühmte deutsche Klagewut aus dem Pauschalurlaub: der fehlende Badewannenstöpsel, der falsche Ausblick, das zu lauwarme Buffet. Alles wird dokumentiert, beanstandet, reklamiert.
Übertragen auf den Tango klingt das dann so:
Der DJ hat mich nicht abgeholt.
Die Ronda war zu voll.
Der Boden zu rutschig.
Niemand wollte mit mir tanzen.
Als ob all das durch einen gut formulierten Ankündigungstext kontrollierbar wäre.
Auch Milongas sind Angebote, keine Garantien. Der Veranstalter stellt Raum, Musik und Rahmenbedingungen. Was daraus entsteht, entscheidet sich erst vor Ort – durch die Anwesenden selbst.
Tango-Unterricht ist kein Lieferservice.
Milongas sind keine Wellness-Oasen.
Und Werbung ist kein Ehrenkodex.
Der Lehrer bietet Struktur.
Der Veranstalter einen Rahmen.
Die Tänzer bringen – im Idealfall – Haltung, Eigenverantwortung und die Fähigkeit mit, Unvollkommenheit auszuhalten.
Wo das nicht zusammenkommt, wird enttäuscht reklamiert.
Kurz gesagt:
Wer Tango-Werbung liest wie eine Reiseprospekt-Garantie und Milongas wie Pauschalurlaube beurteilt, sollte sich weniger über Lehrer, DJs oder Veranstalter wundern – und mehr darüber, warum er immer noch glaubt, Erlebnisse ließen sich buchen.
Der Tango ist dann nicht kaputt.
Die Milonga auch nicht.
Kaputt ist nur die Erwartung.
Ach noch etwas: Ich schrieb im Vorwort, es gäbe Menschen (Plural) mit diesem gewissen Hobby. Vielleicht. Aber ich kenne da eigentlich nur einen… ratet mal!
1 thought on “Über Tango-Lehrer, Tangoschulen, Milongas und Werbeversprechen”
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So ein Zufall – gerade ist mir folgendes Youtube-Video über den Weg gelaufen: https://youtu.be/2G9Wu6IKNy8
„I Tested Ridiculous Product Claims“. Wenn der, dessen Name nicht genannt werden soll, auch nur 5% der Kreativität hätte, dann wäre seine Anspruchshaltung zwar immer noch albern, aber zumindest würde er mal unterhaltsamen Content liefern.