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Gedanken über Tango Unterricht | 36. Teil

Gedanken über Tango Unterricht | 36. Teil

Über die Eigenwahrnehmung der eigenen Tanzqualität

Jeder kennt es: Man sieht ein Video, auf dem man selbst beim Tangotanzen gefilmt wurde – und ist maßlos enttäuscht.
„So sehe ich also aus? All die Jahre geübt, getanzt, geschwitzt – und dann dieses Ergebnis?“

Da Tanzpaare sich selbst nur selten im Video sehen, ist dieses Erstaunen kaum verwunderlich. Eigenwahrnehmung und Realität driften ohne regelmäßige Rückkopplung oft weit auseinander. Nach längerer Zeit ohne Reflexion entsteht ein Bild von sich selbst, das mit dem tatsächlichen Erscheinungsbild nur noch wenig zu tun hat.

Manche Lehrer arbeiten deshalb bewusst mit Videoaufnahmen im Unterricht, um ihre Schüler auf dem Boden der Tatsachen zu halten und Selbstüberschätzung entgegenzuwirken. Andere nutzen Videos hingegen als analytisches Werkzeug, um suboptimale Bewegungsmuster sichtbar zu machen, sie klar zu benennen und gezielt umzubauen – nicht zur Bewertung oder ästhetischen Beurteilung, sondern zur funktionalen Verbesserung des Tanzens.

Doch man tanzt nicht für die Optik, sondern für das Gefühl.
Damit stellt sich zwangsläufig die Frage: Welche Rolle sollten Videos überhaupt spielen, wenn es um Tanzqualität geht? Oder präziser: Wann sind Videoaufnahmen sinnvoll – und wann richten sie eher Schaden an?

Mir persönlich haben Videos immer geholfen, auf dem Boden der Tatsachen zu bleiben. Sie waren oft brutal ernüchternd, aber genau darin lag ihr Nutzen. Irgendwann konnte man sich mit dem Gesehenen arrangieren und akzeptieren: Man ist kein Show-Star. Und wird es sehr wahrscheinlich auch nie sein.

Aber es geht hier um zwei Aspekte: Um das Gefühl und die Optik. 

Bildet die Optik wirklich eine gute Referenz für das Tanzgefühl?


Strengere Maßstäbe bei fortgeschrittenen Tänzern oder Show-Paaren

Die Abneigung gegen Video-Reflexion ist keineswegs ein Phänomen von Anfängern oder Mittelmäßigkeit.
Ich erinnere mich an einen Auftritt von Chicho Frumboli  & Lucia Mazer im Con Corazón in Münster. Ich sollte ihren Tanz im Auftrag der beiden filmen – mit Chichos eigener Kamera. Dieser Bitte kam ich nur widerwillig nach, denn mir war das Live-Erlebnis wesentlich lieber, als diese Tänze durch ein kleines Display betrachten zu müssen.

Nach dem Auftritt gab ich die Kamera zurück und fragte, wann sie sich das Video ansehen würden. Die Antwort überraschte mich:
„Nie. Wir sehen uns nicht gern im Video tanzen.“

Ein Paar dieses Kalibers? Gerade das machte mich stutzig. Je höher die eigenen Ansprüche, desto strenger wird offenbar die Selbstbeurteilung. Das Tanzgefühl mag stimmig sein, die innere Wahrnehmung rund – das äußere Bild jedoch enttäuscht. Diese Diskrepanz empfinden viele als schwer erträglich. Aber, dass Chicho & Lucia ausschließlich auf ihre körperliche Wahrnehmung vertrauen, ist für ein Show-Paar wohl ungewöhnlich. 

Selbstüberschätzung – das andere Extrem

Das Gegenstück kennen wir ebenso gut: Tänzerinnen und Tänzer, die sich deutlich besser einschätzen, als sie von außen wahrgenommen werden. Und leider auch solche, die selbst nach einer Video-Konfrontation unbeirrt an dieser Selbstüberschätzung festhalten.

Um noch einmal auf Chicho zurückzukommen:
Er tanzt sicher nicht nach den ästhetischen Bewertungskriterien einer Mundial-Jury in Buenos Aires. Trotzdem genießt er höchstes Ansehen – auch bei anerkannten Spitzenpaaren. Der Grund liegt nicht in der Optik, sondern in der Konsequenz seiner Kriterien.

Chicho tanzt nach Funktionalität. Nach dem stimmigen, ehrlichen Gefühl der Bewegung. Nicht nach dem Bild, das er abgibt. Alles, was ihn interessiert, ist das Feedback seines eigenen Körpers – nicht das Urteil von Zuschauern oder Kameras.

Sein Beispiel zeigt: Man kann auch ohne permanente Video-Reflexion zu außergewöhnlicher Tanzqualität gelangen.
Aber – und das ist der unbequeme Teil – das gilt nur für sehr wenige.

In Milongas wünschte man sich bei manchen Paaren genau diese Video-Konfrontation, damit sie endlich einmal vom eigenen hohen Ross herunterpurzeln. Doch genau das passiert nur selten. Aber bei manchen – wir kennen da jemanden – hilft selbst das nicht.

Propriozeption – der „Sinn“ für die eigene Bewegung

Ja, es gibt ihn: einen eigenen Sinn für die Wahrnehmung der eigenen Bewegung. In der Neurophysiologie spricht man von Propriozeption. Dieser Sinn liefert dem Gehirn kontinuierlich Informationen darüber, wo sich einzelne Körperteile befinden, wie stark Muskeln angespannt sind und wie sich Gelenke zueinander verhalten – auch ohne visuelle Kontrolle.

Die Propriozeption speist sich aus Rezeptoren in Muskeln, Sehnen, Gelenken – und letzten Forschungsergebnissen – den Faszien. (Ich glaube diese Faszien werden von Wissenschaftlern leider noch unterschätzt.) Sie ermöglicht es uns, im Dunkeln zu gehen, eine Tasse zum Mund zu führen oder komplexe Bewegungsabläufe auszuführen, ohne jeden Schritt bewusst zu kontrollieren. Beim Tanzen ist sie die Grundlage für Gleichgewicht, Timing, Gewichtsverlagerung und Koordination.

Wichtig ist jedoch: Propriozeption liefert keine Bilder, sondern Empfindungen. Sie ist ein inneres Messsystem – kein ästhetisches Urteil. Genau hier entsteht das Missverständnis vieler Tänzerinnen und Tänzer.

Warum sich Eigenwahrnehmung und äußeres Bild so oft widersprechen

Das Gehirn bewertet Bewegungen primär nach Effizienz und Kohärenz, nicht nach Optik. Wenn sich eine Bewegung innerlich „stimmig“ anfühlt, wird sie als gelungen abgespeichert – selbst dann, wenn sie von außen ungünstig aussieht.

Dazu kommt ein weiterer Effekt: Das Gehirn arbeitet mit Vorhersagemodellen. Es vergleicht permanent Soll-Bewegungen mit Ist-Bewegungen. Stimmen diese intern ausreichend überein, meldet das System „alles in Ordnung“. Ob dabei unnötige Spannungen, unklare Linien oder ästhetische Brüche entstehen, bleibt oft unbemerkt.

Videoaufnahmen konfrontieren Tänzer daher nicht mit einem „Fehler“, sondern mit einem anderen Bewertungssystem: dem visuellen, externen Blick. Dass dieser Widerspruch als schockierend erlebt wird, ist neurobiologisch völlig normal.

Warum manche Menschen eine schlechte Körperwahrnehmung haben

Eine eingeschränkte Körperwahrnehmung ist kein Zeichen von Dummheit oder mangelnder Begabung. Sie hat verschiedene Ursachen:

    • Frühe Bewegungsprägung: Wer als Kind wenig vielfältige Bewegungserfahrungen gemacht hat, entwickelt oft eine grobere innere Auflösung von Bewegungsdetails.

    • Stress und Leistungsdruck: Unter Daueranspannung wird die Wahrnehmung nach außen verlagert („Wie wirke ich?“), während die innere Rückmeldung verarmt.

    • Automatisierung ohne Reflexion: Häufig wiederholte Bewegungen werden effizient, aber nicht unbedingt differenziert wahrgenommen.

    • Visuelle Dominanz: Menschen, die stark über Sehen lernen, vernachlässigen oft kinästhetische und propriozeptive Signale.

    • Schutzmechanismen: Der Körper „glättet“ Wahrnehmung, um Widersprüche zwischen Anspruch und Realität erträglich zu halten.

All das erklärt, warum manche Tänzer sich innerlich großartig fühlen und äußerlich dennoch grob, hektisch oder unkoordiniert wirken – und warum sie davon oft aufrichtig überrascht sind.

Warum selbst Balletttänzer mit Video arbeiten

Es mag überraschen, ist aber Realität: Auch hochtrainierte Balletttänzerinnen und -tänzer arbeiten regelmäßig mit Videoaufnahmen. Nicht, weil sie ihren Körper nicht spüren – sondern weil Propriozeption allein nicht ausreicht, um äußere Linien, Raumbezüge und Symmetrien zuverlässig zu beurteilen.

Der klassische Tanz stellt extreme Anforderungen an äußere Form, Geometrie und Präzision. Selbst kleinste Abweichungen werden relevant. Das innere Gefühl kann hier täuschen, weil es primär funktional arbeitet. Das Video ergänzt daher die Körperwahrnehmung um eine externe Referenz, nicht als Ersatz, sondern als Korrektiv.

Das ist kein Misstrauen gegenüber dem eigenen Körper, sondern professioneller Realismus.

Konsequenz für den Tango-Unterricht

Für den Tango bedeutet das:
Das innere Gefühl ist notwendig – aber nicht hinreichend.
Videoaufnahmen sind kein Richter über „gutes“ oder „schlechtes“ Tanzen, sondern ein Werkzeug, um blinde Flecken zwischen innerer Wahrnehmung und äußerer Wirkung sichtbar zu machen.

Entscheidend ist nicht, ob man Videos benutzt, sondern wie.
Wer sie zur Selbstabwertung nutzt, schadet sich.
Wer sie zur funktionalen Klärung einsetzt, gewinnt.

Und wer glaubt, allein das gute Gefühl garantiere gute Bewegung, verwechselt Propriozeption mit Wahrheit.

Für ein tatsächliches Weiterkommen und eine qualitative Weiterentwicklung ist äußeres Feedback unerlässlich. In der Regel übernimmt diese Aufgabe der Tango-Lehrer. Doch dessen Wahrnehmung bleibt für den Schüler letztlich immer eine Blackbox – man kann bekanntlich nicht in den Kopf des Beobachters klettern.
Videoaufnahmen ersetzen dieses Feedback nicht, liefern aber eine zusätzliche, objektivierte Rückmeldung: ein rein optisches Feedback, das dem Tänzer erlaubt, die eigene innere Wahrnehmung mit dem sichtbaren Ergebnis abzugleichen.

Didaktische Konsequenzen für den Unterricht

Für den Tango-Unterricht ergibt sich daraus eine unbequeme, aber notwendige Einsicht:
Man kann sich nicht darauf verlassen, dass Schüler ihre eigene Bewegung zutreffend wahrnehmen. Selbst ehrliche, engagierte und motivierte Tänzerinnen und Tänzer unterliegen systematischen Wahrnehmungsfehlern. Das ist kein individuelles Defizit, sondern neurobiologisch normal.

Daraus folgen mehrere didaktische Grundsätze.
Aber zunächst einmal möchte ich dringend davon abraten,
Anhänger/innen mit den eigenen Video-Aufnahmen zu konfrontieren und mit Video-Kontrollen erst im Fortgeschrittenen-Stadium zu beginnen, wenn es wirklich um hochqualifizierte Nuancen geht. – also für wirkliche „Aficionados“:

1. Gefühl erklären – nicht glorifizieren

Das „gute Gefühl“ ist im Unterricht unverzichtbar, darf aber nicht unkommentiert bleiben. Schüler neigen dazu, angenehme Empfindungen mit funktionaler Qualität gleichzusetzen. Lehrer sollten deshalb klar benennen:

    • Ein stimmiges Gefühl kann aus funktionaler Effizienz entstehen – oder aus Gewöhnung.

    • Nicht jede angenehme Bewegung ist eine gute Bewegung.

Das schützt vor der Verwechslung von Komfort mit Qualität.

2. Wahrnehmung schulen, nicht voraussetzen

Körperwahrnehmung ist lernbar, aber sie ist ungleich verteilt.
Lehrer sollten nicht davon ausgehen, dass Schüler automatisch spüren, was sie tun. Sinnvoller ist es, Wahrnehmung explizit zu trainieren:

    • durch Zeitlupe,

    • durch Unterbrechungen,

    • durch gezielte Kontrastübungen („so – und jetzt absichtlich anders“),

    • durch bewusste Irritation.

Erst Differenzierung erzeugt Wahrnehmung.

3. Video gezielt und dosiert einsetzen

Videoarbeit ist didaktisch heikel. Sie wirkt schnell beschämend oder demotivierend. Deshalb gilt:

  • Videos nicht permanent, sondern punktuell einsetzen.

  • Vor dem Zeigen klar sagen, worauf geachtet werden soll.

  • Keine globalen Urteile („sieht schlecht aus“), sondern konkrete Fragestellungen:

      • Wo entsteht Spannung?

      • Wo verliert die Bewegung ihre Richtung?

      • Wo widerspricht das Bild dem inneren Gefühl?

Video ist ein Analysewerkzeug, kein Beweisstück.

4. Innere und äußere Referenzen koppeln

Der entscheidende Lernschritt entsteht, wenn Schüler lernen, ihr inneres Empfinden mit äußeren Rückmeldungen zu verknüpfen. Das kann durch Video geschehen, aber auch durch:

    • taktile Hinweise,

    • Partner-Feedback,

    • Raumreferenzen,

    • Spiegelarbeit (sparsam eingesetzt).

Ziel ist nicht Selbstkontrolle, sondern Selbstkalibrierung.

5. Vorbilder entmystifizieren

Lehrer sollten offen kommunizieren, dass selbst professionelle Tänzer – auch solche mit hervorragender Körperwahrnehmung – externe Korrektive nutzen. Das nimmt Videoarbeit den moralischen Beigeschmack von „Versagen“ und verankert sie als das, was sie ist: ein normales Werkzeug im Lernprozess.

6. Klar trennen: Lernen vs. Tanzen

Ein zentraler Punkt, der oft übersehen wird:
Man tanzt anders, als man lernt.

Im Unterricht darf und soll analysiert, zerlegt, korrigiert werden. In der Milonga hingegen ist Vertrauen wichtiger als Kontrolle. Lehrer sollten diese beiden Modi klar trennen und auch so benennen, damit Schüler nicht beginnen, sich beim Tanzen permanent selbst zu überwachen.

Zusammengefasst

Guter Unterricht bedeutet nicht, Wahrnehmung zu idealisieren, sondern sie zu schulen, zu relativieren und einzuordnen.
Wer das innere Gefühl absolut setzt, erzeugt Selbsttäuschung.
Wer nur das äußere Bild bewertet, zerstört Bewegung.

Didaktisch wirksam ist nur die vermittelte Verbindung beider Ebenen.

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