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Gedanken über Tango Unterricht | 23. Teil

Gedanken über Tango Unterricht | 23. Teil

Gehen im Tango, warum überhaupt?

Erst kürzlich hatte ich eine Replik von jemandem, der sich über einen Satz in meinem letzten Artikel lustig machen wollte. Ich hatte nach dem „Kern des Pudels“ gefragt – nach dem Sinn einer Bewegung: Warum gehen wir beim Tango? Seine Antwort? Ein flapsiger Spruch: „Na ja, keine Ahnung … vielleicht, weil Rumstehen doof aussieht?“

Na eben, keine Ahnung. Aber Witze reißen wollen wie ein Pennäler in der Unterstufe.

Gerade deshalb möchte ich diesen Artikel nutzen, um näher auf die Frage einzugehen. Denn offenbar sorgt sie für Missverständnisse – dabei ist gerade beim Tango die elementarste Grundbewegung erklärungsbedürftig. Das Gehen wird viel zu oft nur als Mittel der Fortbewegung verstanden. Aber welchen Sinn hat Fortbewegung auf einer vollen Tanzfläche? Doch nicht bloß, um von A nach B zu kommen! Und wie wäre es dann mit den Drehungen auf der Stelle – auch die sind Gehen.

Das Gehen im Tango hat also einen anderen Kern. Es bedeutet nicht, sich fortzubewegen, sondern den Puls der Musik sichtbar zu machen. Das ist des Pudels Kern: Gehen als Tanzbewegung.

Manche Tänzer und Leser halten vielleicht diese Überlegung für eine Banalität, für eine längst verstandene Voraussetzung des Tangos. Mag sein. Aber setzen sie es auch wirklich so um?

Tradition der Schreittänze

Seit den höfischen Tänzen der Renaissance gehört das Schreiten zum Grundvokabular des Tanzes. In der Pavane oder der Basse danse lag im gemessenen Schritt die Würde des Augenblicks, ein ruhiges Gehen, das Ordnung und Repräsentation verkörperte. Schreittänze standen stets im Gegenüber zu den Sprungtänzen, die Leichtigkeit und Ausgelassenheit feierten.

Auch der Tango Argentino lässt sich in dieser Tradition begreifen – als moderner Schreittanz. Doch hier verliert das Gehen seine höfische Schwere und verwandelt sich in etwas anderes: in eine Kunst des Rhythmus, eine Übersetzung der Musik in den Schritt. Ein Gehen, das nicht mehr von A nach B führen muss, sondern Bedeutung im Augenblick findet.

Im Tango Argentino ist das Gehen – das caminar – weit mehr als bloße Fortbewegung. Jeder Schritt trägt die Musik, akzentuiert den Puls, zeichnet Pausen und Spannungen nach. Der Tänzer, die Tänzerin, macht den Rhythmus sichtbar; das Paar gestaltet den Raum nicht durch Figurenfülle, sondern durch die Qualität des gemeinsamen Schreitens. So wird das Gehen zur Essenz des Tangos – zu jener unscheinbaren Bewegung, in der sich sein ganzer Ausdruck verdichtet.

Wie sich das „Gehen auf der Straße“ vom „Tango-Gehen“ unterscheidet

Es gibt ganze Bücher über das Gehen im Tango, unzählige Artikel. Ich möchte aus eigener Erfahrung schildern, wie nah dieses Gehen am natürlichen Gang liegen kann – so nah, dass ein Laie den Unterschied kaum wahrnimmt.

Schon im Alltag ist Gehen nicht nur Fortbewegung. Beim Spaziergang etwa tritt der Schritt in den Hintergrund, das Nebeneinander und das Gespräch stehen im Vordergrund. Technisch folgt der Schritt dabei der Blick- oder Gehrichtung: der Körper drängt voran, die Füße folgen, der Fuß fällt – aus dem entspannten Knie ins fast gestreckte Bein – auf den Boden. Der Körper ist da schon weit nach vorne verlagert, bevor der Fuß den Boden berührt. Gehen ist, genau betrachtet, eine kontrollierte Form des Fallens.

Im Tango jedoch wird dieser Mechanismus verfeinert. Der Fuß setzt direkt auf den Boden, das Gewicht wird bewusst und im exakten Moment verlagert. Das Ansetzen ist kontrollierter, getimter, abgestimmter. Im Alltagsgang dagegen vertraut man auf den ebenen Untergrund und setzt den Fuß weniger bewusst. Deshalb wirkt die Gewichtsverlagerung dort oft wackliger, das Gleichgewicht wird schnell gesucht und gefunden.

Hinzu kommt: Im Alltag wechseln wir schlicht linkes und rechtes Bein ab. Im Tango aber gilt diese Abfolge nicht immer. Schritte können mehrfach auf derselben Seite gesetzt werden – etwa bei den rebotes, wo derselbe Fuß zwei- oder dreimal den Boden markiert. Auch das ist Gehen, doch Gehen in einer ganz eigenen Logik, die nichts mit bloßer Fortbewegung zu tun hat.

Beobachtungen beim Unterricht

Nichts hat mich als Tango-Lehrer so sehr beschäftigt wie die „caminata“. 

Warum haben gute Tänzer diesen unverwechselbaren, zugleich entspannten Schritt? Diese Präzision, bei der kein Fuß nach dem Setzen noch verrutscht oder nachkorrigiert werden muss – während es nicht nur bei Anfängern oft so „schluffig“ wirkt?

Warum klingt es bei manchen musikalisch, knackig, akzentuiert – und bei anderen wie ein unmotiviertes „Herumlatschen“? Genau das entsteht, wenn sich Schüler fast hypnotisch bewegen, ohne Bezug zur Musik, einfach gehend, ohne Intention. Dasselbe sieht man auf vielen Tanzflächen: Menschen, die seit Jahrzehnten gehen, wirken plötzlich unbeholfen, als hätten sie das Gehen nie gelernt.

Die reine Technik erklärte mir das nicht. Erst später verstand ich: Entscheidend ist die Intention des Gehens. Wer das Gehen im Tango als bloße Fortbewegung begreift – bewusst oder unbewusst – zeigt genau das. Es sieht dann auch aus wie Fortbewegung, aber nicht wie Tanz.

Gute Tänzer und ihre Fußarbeit

Aufgefallen ist mir das musikalische Konzept zuerst bei den guten Tänzern: immer gute Fußarbeit. Wenn ich ihnen zuschaue, versuche ich oft, ihr künstlerisches Konzept zu ergründen. Was ist ihre Intention, ihr Ansatz, ihr Stil? Und vor allem: Wie setzen sie die Musik um?

Warum wirkt jeder Schritt wie ein Monument? Die Antwort liegt auf der Hand: Weil sie ihre Füße präziser, mit mehr Bewusstheit setzen. Jeder Schritt ist ein Fest, ein Ereignis. Gut platziert, mit Gefühl, mit Präsenz, mit genauem Timing – wie auf einem Tablett serviert.

Gute Fußarbeit, ob abgerollt, als „Klappschritt“ mit der Spitze zuerst oder über die gesamte Sohle: jedes Aufsetzen hat seine eigene optische und musikalische Wirkung. Weich, hart, stumpf – wie bei einem Klavierton, der je nach Anschlag oder Pedalführung gehalten, gehoben oder gedämpft wird.

Manche mögen das für selbstverständlich halten: Dass man im Tango die Füße bewusst setzen müsse. Aber setzen sie es auch wirklich so um? Genau darin liegt der Unterschied zwischen einem Schritt, der bloß trägt, und einem Schritt, der klingt.

Rechts: Dado sagt auch, dass man seinen Alltagsbewegungen umstrukturieren und mehr Kontrolle darüber bekommen sollte.

Links: Adam Cornetts Video ist ähnlich. 

Bei Murat Erdemsel & Silvina Tse bekommt jeder Schritt ein besonderes musikalisches Gewicht. 
Das ist Gehen in Perfektion.

Beispiel: Wie bei mir so oft – Chicho Fumboli 

Wenn ich Chicho beim Tango zusehe, errate ich seine frühere Leidenschaft …die Percussion.

Denn bei keinem anderen Tänzer kann man es so deutlich sehen: er spielt mit den Füßen Schlagzeug. (Ich muss zugeben, manchmal auch etwas zu plump und laut.) 

Ich will hier nicht wieder eine Lobpreisung loswerden, aber manchmal wirkt es, als ob er mit den Füßen die Rhythmik und Melodie eines Stückes „eins zu eins“ umsetzt.

Ist auch logisch, wenn jemand die Rhythmik eines Stücks erfasst hat, setzt sie auch mit den einzigen Instrumenten des Tango-Tänzers um, den seine Hände sind ja nicht frei. (Manchmal aber schon!) 

Chicho Frumboli & Moira Castellano

Nur mal Chicho betrachtet: Er setzt oft die Füße flach auf, er rollt sie nicht ab. Das entspricht dem stumpfen „compás“ von Rodolfo Biagi. Man sieht bei ihm besonders gut, wie er die Füße auch bei den Figuren als reine optische Percussion eingesetzt. 

Schrittalternativen im Tango

Im Alltagsgehen herrscht ein Automatismus: links – rechts – links – rechts. Eine Abfolge so selbstverständlich, dass wir sie kaum bemerken. Im Tango aber ist dieser Automatismus aufgehoben. Das Gehen ist frei von der starren Abwechslung und öffnet sich zu einem Spiel von Alternativen.

Da gibt es die rebotes: derselbe Fuß markiert den Boden mehrmals hintereinander, zwei-, dreimal, als Echo, als rhythmischer Akzent. Oder die Verzögerungen: das Gewicht bleibt länger auf einem Bein, das freie Bein wird zum Instrument, setzt Zeichen, kleine Ornamente, manchmal nur eine Nuance – und doch Teil der Musik.

Es gibt die traspies, jene Kreuzschritte, die den Fluss kurz brechen, beschleunigen, stauchen – wie eine rhythmische Stolperbewegung, die den Körper ins Offbeat zwingt. Und es gibt das Einkreuzen der Frau, bei dem das scheinbar lineare Gehen auf einmal eine unerwartete Wendung erfährt.

Und dann sind da die Pausen: das bewusste Nicht-Gehen, das Innehalten, in dem die Musik hörbar wird, gerade weil kein Schritt gesetzt wird. Pausen sind das Schweigen der Füße – und doch Teil der Sprache.

All diese Möglichkeiten zeigen: Im Tango ist Gehen nicht bloß Fortbewegung, sondern eine Sprache. Der Automatismus wird aufgehoben, jeder Schritt ist Wahl, Entscheidung, Ausdruck. Und gerade in den Alternativen – im Wiederholen, Kreuzen, Verzögern, Pausieren – wird das Gehen zu Tanz.

Man könnte also als Tänzer, ganz ohne Figuren, einen kompletten Tango nur mit dem „Nuancen-Repertoire“ des Gehens interpretieren – musikalisch, mit allen Raffinessen. Und tatsächlich machen genau das manche gute Tänzer bereits.

Was ist ein Tango-Schritt?

Weil ich immer wieder große Missverständnisse darüber beobachte, möchte ich hier den Tango-Schritt noch einmal klar definieren. Zu oft führen falsche Vorstellungen zu schlechten Bewegungsabläufen. Ich habe schon die abenteuerlichsten Beschreibungen gehört, was ein „Schritt“ im Tango sei.

Die Beschreibung, die dem tatsächlichen Bewegungsprinzip am nächsten kommt, ist diese:
Wenn ich aus dem Stand das Spielbein vorsetze – oder als Frau nach hinten – und es belaste, dann habe ich einen halben Schritt gemacht. Viele meinen, das sei bereits ein ganzer. Ist es aber nicht. Erst wenn ich das andere Bein, also das Standbein, nachziehe und daran vorbeiführe in den nächsten Schritt, entsteht der ganze Schritt.

Das heißt: Wenn ich das Spielbein nur bis neben das Standbein setze und belaste, ist das ebenfalls nur ein halber Schritt. Der ganze Schritt ergibt sich erst aus der Abfolge von Vorsetzen und Nachführen.

Man kann sich das bildlich vorstellen:

    • Halber Schritt: Das Spielbein geht vor (oder zurück) und übernimmt das Gewicht.

    • Ganzer Schritt: Das Standbein löst sich, kommt nach und geht am Spielbein vorbei in die nächste Position.

So ist es auch bei Richtungswechseln – etwa im Ocho – zu verstehen: Nach dem Setzen des ersten Schrittes verändert sich die Tanzrichtung erst durch das Lösen ins nächste Setzen. Genau hier zeigt sich, dass ein Schritt nicht bloß ein einzelnes Vorsetzen ist, sondern eine kleine Sequenz, die die Bewegung trägt und den Raum öffnet.

Merksatz zum Tango-Schritt

Ein Schritt besteht immer aus zwei Bewegungen:

    1. Vorsetzen – das Spielbein geht vor oder zurück und übernimmt das Gewicht.

    2. Lösen – das Standbein folgt und geht am Spielbein vorbei in den nächsten Schritt.

👉 Erst das Zusammenspiel macht den ganzen Schritt. Ein einzelnes Vorsetzen bleibt nur ein halber Schritt.

Fazit:

Am Ende geht es beim Tango nicht darum, von A nach B zu kommen. Gehen ist hier keine Fortbewegung, sondern Ausdruck. Jeder Schritt ist Entscheidung, bewusste Setzung, musikalischer Akzent – und das zeigt sich zuerst in der Fußarbeit. Ob weich abgerollt, präzise platziert oder markant aufgesetzt: der Fuß macht hörbar und sichtbar, ob ein Schritt bloß getragen wird oder ob er wirklich tanzt.

Der Marsch dagegen ist etwas anderes: Er motiviert Fortbewegung, hält eine Gruppe im Gleichschritt zusammen, gibt den Takt für die Bewegung von A nach B. Manche verwechseln genau das mit Tango – als sei es nur ein Marsch im 2/4-Takt, gleichmäßig und geradeaus. Doch Tango-Gehen ist kein Marschieren. Es lebt von Nuancen, Verzögerungen, Synkopen und Pausen, vom Spiel zwischen Spannung und Lösung – all dem, was über das bloße Fortbewegen hinausgeht.

Man kann natürlich sagen: „Das ist doch selbstverständlich.“ Aber die Praxis zeigt, dass es eben nicht selbstverständlich umgesetzt wird. Genau darin liegt der Unterschied zwischen einem Schritt, der nach bloßem Gehen aussieht, und einem Schritt, der nach Tango aussieht.

Für mich bleibt deshalb: Der Kern des Gehens im Tango ist nicht die Bewegung im Raum, sondern die musikalische Intention – umgesetzt in bewusster Fußarbeit. Wer das versteht, und auch wirklich so umsetzt, macht aus dem Gehen Tanz.

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