Einsichten
Gedanken über Tango Unterricht | 15. Teil

Gedanken über Tango Unterricht | 15. Teil

Teil 15: Wie eine unpassende Umarmung die tänzerische Entwicklung bremst

Seit Jahren beobachte ich, wie sich viele Paare schwer tun, bestimmte Umarmungen passend zum Schrittrepertoire einzunehmen – besonders, wenn es um die sogenannte „Milonguero-Umarmung“ geht. Oft wird sie mit anderen Umarmungsformen verwechselt oder in Kontexten verwendet, in denen sie technisch unpassend ist.

Ich bin überzeugt: Diese Verwechslung ist einer der Hauptgründe dafür, dass tänzerische Entwicklung stagniert. Denn wenn die Umarmung nicht zur Bewegung passt, wird das Schritt-Repertoire drastisch eingeschränkt – der Tanz verliert an Dynamik, Vielfalt und Musikalität.

In diesem Artikel beleuchte ich ein weitverbreitetes Missverständnis: Die Milonguero-Umarmung wird häufig dort eingesetzt, wo eigentlich eine offene Tanzweise notwendig wäre – etwa bei komplexeren Bewegungsabläufen. Erschwerend kommt hinzu, dass die europäisch geprägte Körperhaltung das enge Tanzen oft zusätzlich behindert. Und: Viele Bewegungsirrtümer – in Europa und teils sogar in Argentinien – werden im Unterricht weiterhin vermittelt.

Körperachsen, Becken und der fehlende Platz für die Fußarbeit

Die geschlossene Umarmung ist historisch ein sehr verbreiteter Bestandteil des Tangos. Betrachtet man jedoch alte Zeichnungen und Fotos – insbesondere aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts –, fällt auf, dass das Gesäß vieler Tänzer auffällig nach hinten gestreckt wird. Es entsteht der Eindruck, als würde in einem „Hohlkreuz“ getanzt.

Was auf den ersten Blick wie ein Haltungsfehler wirkt, entpuppt sich bei genauerer Betrachtung als pragmatische Lösung: Um oben in enger Umarmung zu bleiben und unten dennoch Raum für Fußarbeit zu schaffen, verlagern viele Tänzer das Becken leicht nach hinten. Die Folge: Die Tanzhaltung wird oft etwas gebückt, was auf Dauer unbequem ist – der Rücken meldet sich irgendwann.

Ein schönes Beispiel für pragmatisches Tanzen bietet auch ein Video eines argentinischen Paares, das einen Chamamé tanzt. Dort ist gut zu sehen, wie sich eine enge Umarmung oben mit einer funktional offenen Fußarbeit unten vereinbaren lässt:

Der Milonguero-Stil als Beispiel für die geschlossene Umarmung

Viele Tänzer:innen kennen den Begriff „Milonguero-Stil“, aber nur wenige wissen noch genau, wie sich dieser Stil tatsächlich anfühlt – und was ihn technisch auszeichnet. Deshalb hier eine kurze, präzise Beschreibung:

Im Milonguero-Stil stehen beide Tanzpartner eng beieinander, der Oberkörper bleibt dauerhaft in Kontakt. Anders als in offeneren Haltungen sind die Köpfe dabei nicht gegenübergestellt, sondern liegen leicht nebeneinander. Der Arm des Führenden umschließt den Oberkörper der Partnerin relativ hoch, was ihr im Bereich der Lendenwirbelsäule eine gewisse Bewegungsfreiheit ermöglicht.

Beide Körper lehnen sich leicht gegeneinander. Die Folgende gibt dabei mehr von ihrem Gleichgewicht an den Führenden ab, dieser hingegen nur etwas weniger. Dadurch entsteht eine diagonale Lastverteilung – die Füße der Tanzenden stehen relativ weit auseinander. Der so entstehende Raum zwischen den Beinen ermöglicht überraschend viel Bewegungsfreiheit im unteren Bereich, insbesondere für das Kreuzen.

Das bekannte „Einkreuzen“ der Folgenden – häufig in Schritt 2 oder 4 einer Sequenz – hat seine Wurzeln in dieser Umarmung. Denn da das Becken der Folgenden kaum Raum für Rotation bekommt, kompensiert sie die Bewegung, indem sie das freie Bein automatisch überkreuzt.

Während des gesamten Tanzes bleibt die Folgende idealerweise mit ihrer Sagittalachse (also der Beckenachse von vorne nach hinten) an der Achse des Führenden ausgerichtet. Das Becken wird kaum gedreht, weswegen Pivots nur sehr zurückhaltend ausgeführt werden. Eine starke Rotation – etwa in Form klassischer pivotierter Ochos – würde das gemeinsame Gleichgewicht gefährden und zu instabilen Bewegungen führen. Deshalb werden Ochos im Milonguero-Stil meist als kreuzende Gehbewegung getanzt, nicht als vollrotierte Figuren.

In dieser Umarmung hängt das Gleichgewicht des Tanzpaares eng voneinander ab. Schon kleinste Abweichungen von der gemeinsamen Schrittlinie oder Asymmetrien im Becken führen leicht zum „Auseinanderreißen“ des Paares. Die Verbindung funktioniert nur durch absolute Präzision – und durch eine bewusste Reduktion auf das Wesentliche.

Drei bekannte Paare, die typisch sind für den „Milonguro-Stil“.

Man beachte, wie wenig die Damen pivotieren, das Becken bleibt meistens zum Partner ausgerichtet. 
Alle tanzen mit dem linken Arm um den Nacken des Partners geschlungen. Ein Tanzhaltung, die leider gerne auch von den Frauen eingenommen wird, die nicht „milonguero-like“ tanzen. 

Verbreitung der Milonguero-Umarmung und ein weit verbreiteter Trugschluss

In diesen 3 Videoaufnahmen sieht man Paare, die in einer heute sehr weit verbreiteten geschlossenen Umarmung tanzen. Es handelt sich dabei um den klassischen Milonguero-Stil, wie er vor allem in den 1990er-Jahren in Buenos Aires populär war und sich später auch in Europa stark verbreitet hat.

Charakteristisch für diesen Stil ist, dass die Partnerinnen in der engen Umarmung keine starken Beckendrehungen ausführen. Stattdessen kompensieren sie Drehimpulse oft durch ein ausgeprägtes Kreuzen, vor allem bei Ochos oder Richtungswechseln. Das Kreuzen ist dabei nicht stilistisches Mittel, sondern funktionale Notwendigkeit – eine Anpassung an die Einschränkung, die durch die konstante Oberkörperverbindung entsteht.

Als sich dieser Stil in Europa etablierte, wurde allerdings häufig ein entscheidender Aspekt übersehen – oder falsch interpretiert:
Die Milonguero-Umarmung ist nicht universell einsetzbar.
Viele europäische Tänzer:innen und Lehrende versuchten (und versuchen bis heute), Figuren mit starken Achsendrehungen – etwa Giros, Enrosques oder pivotierte Ochos – in genau dieser engen Haltung zu tanzen. Das führt zwangsläufig zu technischen Konflikten:

    • Die Verbindung reißt durch die fehlende Rotationsmöglichkeit auseinander.

    • Die Partnerin muss entweder überkompensieren oder blockieren.

    • Die Bewegung verliert ihre Struktur, Musikalität und Klarheit.

Der Trugschluss: Man sieht Paare in enger Umarmung, die elegant und fließend tanzen – und nimmt an, dass alle Tangobewegungen auch in dieser Haltung funktionieren müssten. Doch gerade das Gegenteil ist der Fall: Der Milonguero-Stil funktioniert deshalb, weil er bewusst auf bestimmte Bewegungsformen verzichtet – und stattdessen auf kleine, rhythmische, gehbetonte Sequenzen setzt.

Wer das nicht erkennt, überträgt offene Figuren in einen Stil, der sie technisch gar nicht tragen kann – und blockiert damit nicht nur die Bewegung, sondern oft auch das Verständnis für den Tanz selbst.

Vergleich: Milonguero-Stil vs. Salon-Stil

 

MerkmalMilonguero-StilSalon-Stil
UmarmungEng, dauerhaft geschlossener OberkörperkontaktVariabel, oft offen-schließend im Wechsel
KopfpositionKöpfe seitlich nebeneinanderMeist gegenüber, je nach Figur getrennt
ArmführungFührender umschließt die Partnerin hochTiefer gefasst, mit mehr Raum zwischen den Körpern
KörperschwerpunktLeichtes Anlehnen, gemeinsames GleichgewichtEigenes Gleichgewicht, keine Abhängigkeit
Beinposition & AbstandFüße weit auseinander, viel Raum zwischen den BeinenFüße näher beieinander, zentrale Achse individuell geführt
Bewegungsfreiheit untenUnerwartet hoch durch den Abstand der FüßeAbhängig von Flexibilität der Umarmung
PivotsMinimiert oder ersetzt durch KreuzbewegungenVoll ausgeführte Rotationen üblich
OchosÜberwiegend als kreuzende Schritte geführtStark pivotiert, mit klarer Beckenrotation
Typische MusikRhythmisch, tanzflächenschonend (Milonga, Tanda, etc.)Auch lyrisch und dynamisch (Tango Salon, Tango Nuevo)
Geeignet für …Volle Tanzflächen, beengte RäumeWeiträumige Tanzflächen, Shows, Unterrichtssituationen

Begriffsklärung: Geschlossene oder enge Umarmung – ein entscheidender Unterschied

In Gesprächen über Tango-Umarmungen fallen Begriffe wie „geschlossen“ oder „eng“ oft scheinbar synonym – dabei steckt dahinter ein technisch relevanter Unterschied, den ich in meinem Unterricht bewusst auseinanderhalte:

Die geschlossene Umarmung

In der heute weit verbreiteten Form der geschlossenen Umarmung schließt der Führende den Brustkorb der Partnerin nahezu vollständig ein. Der Kontakt ist großflächig, oft fixiert, mit relativ wenig Spielraum für eigenständige Bewegungen der Folgenden.
Besonders einschränkend wirkt sich aus, dass in dieser Haltung eine Schulterrotation des Führenden, die als Impulsgeber für eine Beckendrehung der Folgenden dienen könnte, kaum möglich oder sogar aktiv verhindert wird.
Die Folge: Die Bewegungsmöglichkeiten – insbesondere Pivots, Sacadas oder Ochos mit Achsendrehung – sind stark eingeschränkt oder müssen untechnisch kompensiert werden.
Eine geschlossene Umarmung wird also während der gesamten Tanzphase nicht gelöst. 

Die enge, aber flexible Umarmung

Im Gegensatz dazu steht eine enge, aber flexible Umarmung, wie sie im gut verstandenen Salon- oder auch Vals-Stil praktiziert wird. Hier stehen die Tanzpartner körperlich nahe beieinander, jedoch ohne sich in der Oberkörperverbindung zu blockieren. Die Verbindung bleibt dynamisch und feinfühlig:

    • Der Führende ermöglicht der Partnerin Raum zur Achsrotation.

    • Impulse über die Schulterrotation können fließend in Beckendrehungen umgesetzt werden.

    • Bewegungen wie Pivots, Ochos, Sacadas oder sogar Drehfiguren werden technisch sauber tanzbar.

Diese Form der Umarmung wirkt nicht starr oder „verschmolzen“ wie in der Apilado-Haltung des klassischen Milonguero-Stils. Vielmehr basiert sie auf der Idee der nahen Verbindung mit gleichzeitiger Unabhängigkeit der Achsen – ein Prinzip, das hohe Bewegungsqualität bei maximaler Musikalität erlaubt.


Fazit zur Unterscheidung

Wer pauschal von „der geschlossenen Umarmung“ spricht, riskiert Missverständnisse. Denn ob eine Umarmung nur nah, oder tatsächlich strukturell einschränkend ist, macht einen erheblichen Unterschied für den gesamten Bewegungsapparat – und für das, was tanztechnisch möglich bleibt.

Eine enge Umarmung ist kein Hindernis – solange sie durchlässig, technisch durchdacht und partnerschaftlich geführt ist.
Sie bietet Nähe, ohne Kontrolle zu verlieren – und Bewegungsspielraum, ohne die Verbindung aufzugeben.


Abbildung 1: Häufig beobachtete, aber problematische Umarmung Diese Umarmung ist auf vielen europäischen Tanzflächen zu beobachten – sie wirkt stabil, erzeugt aber in der Praxis viele Probleme. Ursache ist ein weit verbreiteter Trugschluss: Viele Tangopaare leiten ihre Umarmung unbewusst aus anderen Paartänzen ab, insbesondere aus Standardtänzen, in denen eine parallele Schulterlinie als Ideal gilt. Im Tango jedoch erfordert die Bewegungslogik oft eine konträre Achsendrehung – also eine leichte Verdrehung der Körperachsen zueinander. Diese wird durch die parallele Schulterausrichtung nicht nur erschwert, sondern häufig vollständig blockiert.
Abbildung 2: Funktionale Ausrichtung im Tango – das anatomische Prinzip Ein genauer Blick auf erfahrene Tangopaare zeigt ein anderes Bild: Die Folgenden richten sich fast durchweg mit ihrer Sagittalachse (Beckenachse) auf den Partner aus – nicht mit einer schulterparallelen Linie. Dies erlaubt eine präzise, bewegungslogisch korrekte Führung, insbesondere bei komplexeren Bewegungen wie Pivots oder Sacadas. Die Köpfe stehen dabei oft sehr nahe beieinander, doch nie exakt gegenüber oder starr schulterparallel. Ausnahme: Im Milonguero-Stil tanzen die Partner bewusst ohne nennenswerte Achsenverschiebung. Hier ist die symmetrische Haltung funktional – aber nur in genau diesem Kontext.

Ich habe hier 3 Paare ausgesucht, die in sehr enger Umarmung tanzen, aber alle im Gleichgewichststand. (siehe Abbildung links, 1. Skizze). Man beachte die Ausrichtung der Partnerinnen – immer auf die Mittelachse des Partners bezogen – nie den Blick nach außen – zur offenen Seite des Paares – gerichtet. 

Vorbildlich ist die Umarmung von Mariana Montes & Sebastian Arce im 1. Video. 

1. Die Füße mit nötigem Abstand, die Beine und das Becken als stabile Säule, der Brustkorb dehnt sich zum Partner, der Atlas in einer Linie über dem Körperschwerpunkt, die Köpfe frei beweglich - nicht angedockt.
2. Die Füße in weitem Abstand, die Körper-Längs-Achse nicht unbedingt im Lot, weil die Körper gegeneinander gelehnt sein dürfen, die Umarmung des Führenden sehr hoch, die Sagittal-Achsen der Becken einander zugewandt, die Achse der Folgenden hängt nicht im Becken nach vorne durch, gelegentlich gegeneinander abstützendes Gleichgewicht des Paares. Der Führende benötigt aber möglichst immer sein Gleichgewicht, sucht aber das Gegengewicht der Partnerin.
3. Die Füße stehen zu eng, um vorwärts durchzukreuzen, der Kopf ist zweit vorne, um in der Dreh-Achse ohne zu taumeln pivotieren zu können, das Becken ist nicht integriert und die Sitzbeine sind zu weit nach vorne gerichtet. Leider ist dies die denkbar ungeeignetste Haltung, obwohl sie sehr verbreitet ist. In dieser Haltung wird irrtümlich versucht, die Milonguero-Umarmung mit dem freien Gleichgewichtsstand wie im Salon-Stil zu vereinen.
Tanz: Edwin Espinosa & Alexa Yepes | Columbien
Ein hervorragendes Tanzpaar, das auch in enger Umarmung in der Lage ist komplexe Figuren zu tanzen. Zu beachten ist, dass Alexa beim Vorwärts-Kreuzen nicht in den Kreis von Edwin hineinläuft, sondern immer ausreichend Platz für seine  „sacadas“ ermöglicht, 
Auch, wenn die beiden scheinbar eine Milonguero-Umarmung einnehmen, es ist keine: Sie tanzen zwar sehr eng, aber beide behalten ihre eigene Achse. Und die Umarmung wird – je nach Bewegungsanspruch – gelöst und wieder geschlossen, also flexibel gestaltet. 

Die Illusion der nachgeahmten Tanzhaltung

Oft beobachte ich, dass unerfahrene Tanzpaare zum ersten Mal eine Milonga betreten – und dabei feststellen, dass viele fortgeschrittene Paare sehr eng und vertraut miteinander tanzen. Daraus entsteht schnell der Eindruck:
„So sieht Tango aus, wenn man ihn gut kann.“

Dieser Gedanke ist verständlich – aber trügerisch.
Denn was folgt, ist ein häufiger, aber schwerwiegender Irrtum: Die Paare glauben, dass sich fortgeschrittener Tango durch bloßes Nachahmen der äußeren Form – also der Tanzhaltung – erreichen ließe. Ich spreche hier bewusst nicht von einer „Umarmung“, denn genau das fehlt: Verbindung, Technik und Dynamik.

Was geschieht dann?
Sie übertragen die im Anfängerkurs (oft in offener Haltung) gelernten Figuren direkt auf ihre neu erprobte, aber einengende Kopf-an-Kopf-Haltung.
Und das Ergebnis ist in vielen Fällen ernüchternd:

    • Sie taumeln um einen selbst geschaffenen Referenzpunkt – meist den Berührungspunkt der Köpfe.

    • Sie verlieren ihre Achsen, weil die Haltung nicht organisch gewachsen, sondern optisch konstruiert ist.

    • Sie verbiegen sich, statt Bewegungen aus dem Zentrum heraus zu führen.

Ohne eine gute Anleitung – und ohne Bewusstsein dafür, was enge Umarmung eigentlich bedeutet – bleiben sie auf diesem technischen Niveau stehen.
Denn genau hier beginnt der Punkt, an dem die eigentliche Lernarbeit erst richtig anfängt: Wenn es enger wird, braucht es mehr Technik, nicht weniger.

Das Tragische:
Wenn diese Paare dann beginnen, mit anderen Partner:innen zu tanzen, bleibt die Qualität der Verbindung brüchig. Ihre Führung oder ihr Folgen wird unsicher, unausgewogen oder gar unangenehm, und früher oder später spüren sie:
Sie werden beim Partnertausch nicht mehr gern aufgefordert – oder sie erleben Ablehnung, ohne zu wissen, warum.

Und hier komme ich zur wichtigsten These dieses Beitrags: 

Die geschlossene Milonguero-Umarmung und Figuren, die eine Beckendrehung erfordern, sind nicht kompatibel!

Die Milonguero-Umarmung zeichnet sich durch konstanten Oberkörperkontakt aus. Die Körperachsen beider Partner bleiben eng miteinander verbunden, das Becken der Folgenden bleibt weitgehend auf der Sagittalachse des Führenden. Diese Haltung erzeugt zwar eine hohe Nähe und musikalische Intimität, schränkt aber die Möglichkeit zur Beckendrehung stark ein – insbesondere für die Folgende.

Warum ist das relevant? Viele komplexere Figuren im Tango – darunter pivotierte Ochos, Enrosques, Giros oder auch bestimmte Sacadas – erfordern eine aktive Beckendrehung. Diese Rotation beginnt in der Körpermitte, wird über das Becken auf das Standbein übertragen und führt zu einer Spiralbewegung, die für das saubere Ausführen der Figur essentiell ist.

In der Milonguero-Umarmung ist genau das kaum möglich:

    • Die enge Verbindung der Oberkörper verhindert das unabhängige Mitdrehen des Beckens.
    • Ein zu stark drehendes Becken würde die Oberkörperverbindung „verreißen“ und die gemeinsame Balance gefährden.
    • Die Folgende kann keine stabile Achse aufbauen, wenn sie gleichzeitig rotiert und angelehnt ist – es entsteht eine instabile, taumelnde Bewegung.

Daher findet man in diesem Stil bewusst andere Lösungen:

    • Ochos werden nicht pivotiert, sondern als kreuzende Gehbewegung geführt.
    • Drehbewegungen werden auf minimale Richtungswechsel reduziert.
    • Bewegung entsteht mehr aus Gewichtsverlagerung und Rhythmus als aus Rotation.


Der Irrtum beginnt dort, wo man versucht, Bewegungen aus offenen Umarmungen technisch unverändert in die Milonguero-Haltung zu übertragen. Was dort elegant wirkt, wird hier schnell unkontrollierbar. Die Umarmung bestimmt also ganz wesentlich, welche Bewegungen realistisch und sinnvoll umsetzbar sind – und welche nicht.

Die geschlossene Milonguero-Umarmung bietet viel – aber sie hat klare Grenzen. Wer diese Grenzen nicht respektiert, behindert den Fluss, überfordert den Körper – und verpasst die Stärken dieses besonderen Stils.

Als Bespiel dafür dient das nächste Video:

Hinweis zum Video: Analyse typischer Probleme bei der Umarmung im Tango

In diesem Video kommentiere ich einige typische Haltungs- und Bewegungsmuster, die ich in der gezeigten Tanzszene beobachte – vergleichbar mit dem, was man auf vielen Milonga-Pisten oder Encuentros sieht.

Mir geht es nicht darum, einzelne Tänzer:innen bloßzustellen oder ihre Leistung zu diskreditieren. Vielmehr möchte ich anhand dieser Beispiele aufzeigen, welche konkreten Schwierigkeiten entstehen können, wenn die Umarmung – insbesondere bei enger Haltung – nicht ausreichend auf Körperproportion, Bewegungsfreiheit und Technik abgestimmt ist.

Ich spreche unter anderem folgende Punkte an:

    • sogenannte „Einheits-Umarmungen“ trotz großer Größenunterschiede,

    • ungünstiger Beckenabstand und Achsversatz,

    • fehlende Gehtechnik in enger Umarmung,

    • Probleme beim Kreuzen durch gebückte Haltung und zu viel Kniekontakt,

    • das Scheitern einfacher Figuren aufgrund von Platzmangel – oft missverstanden als Improvisation.

Ziel ist es, Bewusstsein zu schaffen für die Wechselwirkung von Haltung, Technik und Verbindung – und damit einen Beitrag zur Weiterentwicklung der eigenen Umarmung und Bewegung im Tango zu leisten.

Einheits-Umarmungen trotz großer Größenunterschiede

Die Umarmung wird oft unabhängig von Körperproportionen übernommen: Die Arme der Folgenden liegen manchmal um den Hals des Führenden – auch bei deutlich unterschiedlichen Körpergrößen. Kleine Tänzerinnen strecken sich dabei sichtbar nach oben, verlieren ihre eigene Achse und tanzen teilweise auf den Zehenspitzen. Diese Form nenne ich „Einheits-Umarmung“ – eine Haltung, die körperlich nicht homogen zur Größe angepasst ist.

Zu enger Beckenabstand & Versatz in der Achse

In vielen Fällen stehen die Becken der Tanzpartner:innen zu nah beieinander. Das führt dazu, dass Führende leicht versetzt stehen müssen, um überhaupt beim Gehen nicht auf die Füße der Partnerin zu treten – schon im Stand entsteht ein gewisses Ungleichgewicht.

Fehlende Gehtechnik in enger Umarmung

Es fällt auf, dass viele Führende in enger Umarmung nicht gelernt haben, geschmeidig und differenziert zu gehen oder präzise zu projizieren. Stattdessen wirken die Bewegungen oft kraftbasiert – die Partnerinnen werden leicht „vor sich her geschoben“, was den Tanzfluss einschränkt und für die Folgenden unkomfortabel wirken kann.

Knienahe Bewegungen und gebremstes Kreuzen

Ein weiteres Muster: Viele Paare kommen sich mit den Knien zu nah, was oft an gebuckten Haltungen und einem zurückgezogenen Becken liegt. In dieser Position wird das Kreuzen der Folgenden (Schritt 3 in der 8er-Basis) für viele Führende zur Herausforderung. Die Bewegung wird technisch anspruchsvoll – obwohl sie in einer besseren Haltung mühelos gelingen könnte.

Zu starke Kopfberührung – Verlust der Statik

Oft werden die Köpfe zu eng aneinandergepresst. Dabei entsteht zwar ein fixer Referenzpunkt für gemeinsame Bewegung – aber einer, der die natürliche Bewegungsfreiheit einschränkt. Häufig zu beobachten ist, dass Führende, denen dieser Kontakt am Kopf unangenehm wird, den Kopf nach links abknicken, was ihre gesamte Körperstatik verändert – mit Folgen für Achse, Gleichgewicht und Führung.

Kopfhaltung der Folgenden & Beckenausrichtung

Viele Folgende drehen den Kopf leicht nach außen, also aus ihrer Sicht nach links. Das ist grundsätzlich nicht falsch – es kann sogar helfen, Spannung im Nacken zu lösen oder einen visuellen Fokus zu finden.
Problematisch wird es jedoch, wenn sich mit der Kopfdrehung auch das Becken bzw. die Sagittalachse der Folgenden in Blickrichtung verschiebt. Diese parallele Beckendrehung vom Partner weg erschwert das enge Tanzen erheblich, besonders wenn der Führende keinen aktiven Raum in der Umarmung zulässt.

Von hinten betrachtet wirkt diese Ausweichbewegung oft wie eine bogenhafte Achse, die den klaren Kontakt zur gemeinsamen Linie verliert – was zu Problemen in der Balance und beim Führen fein differenzierter Bewegungen führt.

Figuren scheitern an der Umarmung

Ich sehe mehrfach, dass Führende bei relativ einfachen Figuren durch die starre Umarmung in Platznot geraten: Die Figur beginnt, kommt aber nicht zu Ende, weil die Beine keinen Raum mehr haben – das Vorhaben wird abgebrochen oder in etwas anderes umgewandelt. Mancher nennt das dann „Improvisieren“ – was jedoch im Tango nicht als Notlösung, sondern als bewusstes Gestalten verstanden werden sollte.


Ich freue mich über Feedback, Austausch oder eigene Beobachtungen in den Kommentaren.


Die Ausbildung der Umarmung im Tango-Unterricht

Die Art und Weise, wie die Umarmung im Tango vermittelt wird, ist entscheidend – besonders im Anfängerunterricht. Ich selbst (und vermutlich viele andere Tango-Lehrende auch) vermeide zu Beginn bewusst die enge Umarmung. Stattdessen beginne ich mit einer offenen oder halboffenen Haltung, um zunächst grundlegende Bewegungsmechanismen wie Achsarbeit, Richtungswechsel, Pivots und das Führen über den Oberkörper zu vermitteln.

Problematisch wird es dann, wenn Tanzschüler – häufig motiviert durch das Beobachten erfahrener Paare auf der Tanzfläche – plötzlich von sich aus in die geschlossene Umarmung wechseln. Ohne entsprechende Vorbereitung, ohne fundiertes Technikverständnis, und ohne Wissen um die Anforderungen dieser Haltung, kommt es schnell zu Frustration:

Figuren, die zuvor in offener Haltung funktioniert haben – etwa Drehungen oder einfache Pivot-Sequenzen – geraten in der engen Umarmung ins Stocken. Der Raum für Beckenarbeit fehlt, das Gleichgewicht wird instabil, und die Bewegungsführung wird ungenau. Das ist kein individuelles Versagen, sondern ein strukturelles Problem – und leider sehr häufig zu beobachten.

Aus diesem Grund lege ich in meinem Unterricht großen Wert darauf, die Umarmung als Technikthema früh und klar zu behandeln. Sobald wir in die Nähe der geschlossenen Haltung kommen, bespreche ich sehr deutlich, worauf es ankommt:

    • Wie wird das Gleichgewicht gemeinsam organisiert?

    • Wie verändert sich die Rollenverteilung bei enger Umarmung?

    • Welche Bewegungen funktionieren (noch), welche nicht mehr?

Eine gute Umarmung ist kein Zufallsprodukt – sie ist ein zentrales Werkzeug des Tanzes. Sie muss technisch geschult, verstanden und verinnerlicht werden – und sie muss stilgerecht sein, also zum jeweiligen Tanzstil passen, der unterrichtet wird.

Leider ist genau das in vielen Unterrichtskonzepten unterbelichtet. Viele Lehrende gehen nicht systematisch genug auf die Besonderheiten der engen Umarmung ein – oder sie thematisieren sie gar nicht, weil sie selbst darin nicht ausreichend geschult wurden.

Das ist, so deutlich muss man es sagen, ein großes Manko in der deutschen Tangoszene – eines, das die tänzerische Entwicklung vieler Paare unnötig bremst.


Fazit: Umarmung braucht Klarheit – nicht Nachahmung

Die Umarmung ist das zentrale Bindeglied im Tango – emotional wie technisch. Doch genau hier liegt oft das größte Missverständnis:
Die Übernahme einer bestimmten Haltung – etwa der Milonguero-Umarmung – ohne tiefes Verständnis ihrer Bewegungslogik führt in der Praxis zu Frustration, Blockaden und Missinterpretationen.

Der verbreitete Trugschluss, man könne alle Figuren des Tango Argentino auch in enger Umarmung tanzen, hält sich hartnäckig – obwohl er jeder tänzerischen Beobachtung widerspricht. Wer Pivots, Giros, Enrosques oder andere achsbetonte Bewegungen sinnvoll tanzen möchte, muss wissen, welche Umarmung diese Technik unterstützt – und welche sie behindert.

Was es braucht, ist eine klare, differenzierte Schulung der Umarmung – abgestimmt auf Tanzniveau, Musikstil und räumlichen Kontext. Die Umarmung darf nicht beiläufig „entstehen“, sondern muss bewusst aufgebaut, erklärt und anpassbar gemacht werden. Nur so wird sie zur echten Verbindung – statt zur starren Form oder technischen Falle.

Lehrende tragen hier eine besondere Verantwortung: Sie müssen nicht nur vermitteln, wie man tanzt, sondern auch warum eine bestimmte Haltung etwas ermöglicht oder eben nicht.

Denn am Ende ist die Umarmung kein Stilmittel, sondern ein Werkzeug. Und wie bei jedem Werkzeug gilt: Man sollte wissen, wann man es benutzt – und wie man es richtig einsetzt.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.

Diese Seite verwendet Cookies, um die Nutzerfreundlichkeit zu verbessern. Mit der weiteren Verwendung stimmst du dem zu.

Datenschutzerklärung