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Gedanken über Tango Unterricht | 20. Teil | (B)

Gedanken über Tango Unterricht | 20. Teil | (B)

Die ersten Erfahrungen mit der Improvisation im Anfänger-Unterricht

Wenn man von den Wünschen eines normalen Tango-Anfänger-Paares ausgeht, sind diese meist mit sehr verschwommenen Vorstellungen über den Tango verbunden. Es gibt vielleicht Erinnerungen an öffentliche Plätze, wo man Tangopaaren zugeschaut hat, Fernsehsendungen wie „Let’s Dance“, Videos auf YouTube oder Eindrücke aus dem Standard-Turnierbereich.

Doch selten bestehen wirkliche Kenntnisse über die Komplexität der Improvisation im Social-Tango. Typisch ist die Einschätzung, dass es genüge, die Tanzschritte der Kursleiter nachzumachen, um den Tanz nach etwas Übung zu beherrschen. Dass aber das Prinzip von Führen und Folgen eine intensive, nonverbale Kommunikation voraussetzt – und dass dies besonders im Gedränge einer vollen Milonga gilt – bleibt den meisten Einsteiger:innen zunächst verborgen.

So erscheinen auch die Rollenaufgaben und ihre Umsetzung in Kombination mit den Schritten für Anfänger kaum umsetzbar. Genau hier beginnt der Unterschied zu anderen Tänzen: Während in vielen europäischen Ballroom- oder Gesellschaftstänzen festgelegte Schrittfolgen und Figurenkataloge dominieren, ist der Tango von Anfang an ein Tanz der Improvisation. Seine Wurzeln liegen nicht in festen Choreografien, sondern in der Fähigkeit, im Moment Entscheidungen zu treffen – abhängig von Musik, Raum und Partner.

Improvisation im Tango – Wie alles begann

Wenn wir heute Tango tanzen, sei es in einer modernen Milonga oder im Unterricht, denken viele zuerst an elegante Figuren, raffinierte Drehungen oder gar an spektakuläre Showelemente. Doch die eigentliche Wurzel des Tangos liegt woanders: in der Improvisation.

Ende des 19. Jahrhunderts, in den Vorstädten von Buenos Aires und Montevideo, war Tango kein festgelegter Tanz mit benannten Schritten. Er entstand in engen Kneipen und Hinterhöfen, wo Platzmangel, volle Tanzflächen und manchmal auch die Gefahr einer Rempelei die Bewegungen bestimmten. Paare mussten spontan reagieren – auf die Musik, auf den Partner und auf die Umgebung. So entwickelte sich der Tango nicht als Abfolge von Figuren, sondern als Kunst des Augenblicks, in der Führen und Folgen zu einer intensiven Form der Kommunikation wurde.

Der Übergang vom festen Rhythmusmuster der Milonga zum Tango war dabei eine kleine Revolution – musikalisch wie tänzerisch. Plötzlich konnte man „gehend“ tanzen, ohne von einem fixen Rhythmus getrieben zu sein. Dieses Gehen eröffnete neuen Spielraum: Paare konnten die Richtung auf der Tanzfläche frei wählen, ihr Tempo variieren oder auf den Partner eingehen. Improvisation war damit nicht nur möglich, sondern notwendig. In den engen Vorstadtkneipen, wo jede Rempelei Streit riskierte, waren Kreativität und Rücksicht im Bewegungsfluss oft wichtiger als die Musik selbst.

Mit einem einfachen Schritt vorwärts oder zur Seite eröffnete sich plötzlich ein ganzer Planungsraum: Welche Richtung nehme ich? Bleibe ich im Fluss oder halte ich inne? Beschleunige ich im Rhythmus oder lasse ich mir Zeit? Reagiere ich auf meinen Partner oder auf die Paare um mich herum? Damit entstand etwas, das andere, schritttechnisch klar festgelegte Tänze nicht kennen: die Option zur Improvisation.

Im Unterschied zu europäischen Gesellschaftstänzen, die auf klar definierten Schrittfolgen basieren, ist Tango bis heute ein Tanz, der keine festen Figuren verlangt, sondern Entscheidungen im Moment. Improvisation war also nicht nur ein spielerisches Extra, sondern von Beginn an das Fundament des Tangos – und ist es bis heute geblieben.

Natürlich entstanden dabei unzählige Figuren und raffinierte Schrittabläufe – manchmal beiläufig aus der Improvisation heraus, manchmal bewusst geplant. In einem Umfeld, das durch Frauenmangel und den damit verbundenen sexuellen Druck geprägt war, entwickelte sich zudem eine starke Konkurrenz zwischen den Tänzern. Jeder wollte seine Geschicklichkeit und Kreativität auf der Tanzfläche unter Beweis stellen. Dieses gegenseitige Vorzeigen tänzerischer Fähigkeiten führte zwangsläufig zu einem Spannungsverhältnis: einerseits die Enge und Begrenztheit des verfügbaren Raumes, andererseits der Drang, den eigenen Spieltrieb und Einfallsreichtum sichtbar zu machen.

Die Begrenzung der tänzerischen Vielfalt

Die musikalische Freiheit des Tangos stößt immer an räumliche Grenzen: Auf einer vollen Tanzfläche lässt sich die eigene Figurenphantasie eben nicht ungehindert ausleben. Genau hier liegt eines der größten Missverständnisse über den Tango. Viele sehen seinen Wert ausschließlich in einer scheinbar unbegrenzten choreografischen Freiheit, in der perfekten Präsentation von Ästhetik und Showelementen – so, wie man es aus Vorführungen oder Bühnenprogrammen kennt. Der Fokus liegt dann auf der Quantität der Figuren, nicht auf der Qualität der Bewegung und der Umarmung.

Doch dieses Verständnis verschiebt die Essenz des Tanzes. Für viele Anfänger:innen ist die Vielfalt der Figuren zunächst attraktiv und motivierend. Bleibt das Interesse aber allein auf Schrittmaterial beschränkt und wird nicht in die Kommunikation zwischen Partnern eingebettet, geht ein wesentlicher Kern des Tangos verloren. Viele Tänzer:innen suchen ihre Bestätigung vor allem in der Figurenvielfalt – nicht im sozialen Kontext der Ronda, im Wechsel der Partner und in der Variation zur Musik. Figur geht also vor Ronda. Figurenorientierter Unterricht verstärkt diesen Fokus oft noch.

Wird im Unterricht jedoch bewusst der Bezug der Bewegungen zur Musik und zur Ronda hergestellt, öffnet sich ein anderer Zugang: Dann geht es nicht mehr um das bloße Nachahmen komplexer Abläufe, sondern um ein tieferes Verständnis des Social Tango. Entscheidend ist zu zeigen, wie geschickt – und gleichzeitig elegant – man sich auf einer gefüllten Tanzpiste bewegen kann.

Darum sollte sich jede Unterrichtsfigur an einer einfachen Frage messen lassen: Lässt sie sich in der Spur der Ronda tanzen? Natürlich gehen bei so einem Satz die Free-Style-Apologeten schnell an die Decke: „Wo bleibt denn da die künstlerische Freiheit?“ – Aber wie es mit der Freiheit so ist: Sie endet dort, wo die Freiheit des anderen beginnt.

So landen dann einige dieser Freiheit-Fanatiker meistens in der Neo- und Non-Tango-Fraktion, wo man selbst die freie und willkürliche Interpretation der Musik sehr beliebig und – ich nenne es mal individuell –umsetzen darf. Aber dafür haben sie ja in dieser Szene auf der Piste meistens ausreichend Platz. 

Jetzt habe ich einen großen Bogen gemacht, aber komme langsam auf den Punkt: 

Die Führung der räumlichen Improvisation im Unterricht

Einer der Hauptgründe dafür, warum Anfänger oft nach ersten schlechten Erfahrungen auf einer öffentlichen Milonga aussteigen, liegt meiner Meinung nach darin, dass sie nicht praxisorientiert auf die Gegebenheit einer vollen Tanzpiste vorbereitet werden. Aber wie löst man dieses Problem?

Aus meiner Erfahrung weiß ich, wie schwierig es ist, ein Konzept zu entwickeln, das Anfänger:innen nicht mit reiner Figurenvielfalt überfordert, sondern ihnen hilft, die eigentlichen Aufgaben einer vollen Tanzfläche zu meistern: auf einer Spur zu tanzen und jede Bewegung flexibel an die Gegebenheiten der Ronda anzupassen. (Die musikalische Interpretation ist dabei natürlich entscheidend – darauf gehe ich später noch ein.)

Das erste Problem, das sich auf der Tanzfläche stellt, ist der Abbruch der Linie: Vor dem Paar bleibt ein anderes stehen, der Tanzfluss stockt. Für den Führenden ergibt sich eine unvorhergesehene ad-hoc-Situation. Er muss sofort reagieren – nicht hektisch, sondern ruhig und klar – und die Partnerin in eine Bewegung leiten, die „auf der Stelle“ getanzt werden kann, etwa Ochos oder Wiegeschritte.

Hier zeigt sich ein typisches Dilemma für viele Schüler:innen. Wer bisher nur feste Figurenfolgen gelernt hat, versucht in solchen Momenten wie von einer „mentalen Karteikarte“ eine Sequenz abzurufen: Stehe ich gerade rechts oder links? Welche Figur beginnt auf diesem Fuß? Doch bis diese Abfrage aus dem Gedächtnis geholt und umgesetzt ist, hat sich der Stau längst wieder aufgelöst.

Die entscheidende Frage lautet also: Wie soll ein Tanzschüler eine ad-hoc-Situation meistern, wenn er nur Figurenketten im Repertoire hat – ohne deren räumlichen Sinn wirklich zu verstehen?

Die Lösung liegt in einfachen ad-hoc-Optionen für jede Fußsituation. Beispiel:

    • Steht das rechte Bein vorn → die Partnerin in einen Ocho-Eingang nach links führen.
    • Steht das linke Bein vorn → die Partnerin in einen Ocho-Eingang nach rechts führen.

Beide Varianten lassen sich beliebig fortsetzen – etwa mit einem ocho cortado in beide Richtungen oder Fortsetzung, der molinete. Wichtig ist, dass beide Möglichkeiten abwechselnd geübt werden, bis sie automotorisch im Bewegungsgedächtnis verankert sind. Das ist hilfreicher (und abwechslungsreicher) als das sture Wiederholen einer Figur. 

Und genau darin liegt die Essenz: Figuren sind nicht nur künstlerische Ausdrucksformen, sie erfüllen einen praktischen Zweck – sie ermöglichen das Manövrieren innerhalb der Ronda. Improvisation im Tango bedeutet also nicht „freie Kreativität ohne Regeln“, sondern das flexible Einsetzen von Bewegungsoptionen, die Raum, Partner und Tanzfluss jederzeit berücksichtigen. Figuren sind damit weit mehr als dekoratives Spiel: Sie sind Werkzeuge für Orientierung, Kommunikation und Eleganz auf der Tanzfläche.

So lässt sich jede Figur aus eine Ad-hoc Situation unterrichten, immer mit dem Ziel des räumlichen Manövers.

Was jetzt das musikalische Training angeht, braucht man nur noch die selben Bewegungen an rhythmische Muster anpassen, mit Pausen, im ganzen Takt oder mit Verdopplungen, auf 1-2-3. oder 3-4-1. Taktschlag.
Der Vorteil, der Schüler brauch für musikalische Übungen nicht nochmal Extra-Figuren lernen, sondern kann auf das bereits gelernte Schritt-Material zurückgreifen.  

Ich will hier nicht mein komplettes Konzept ausbreiten, aber ich habe hier nur ein Beispiel genannt, wie man Figuren in die räumliche Improvisation einbettet. 

2. Teil | Die räumliche Ebene der Folgenden

In meinem letzten Beitrag („Gedanken über Tango Unterricht | Teil 20 | (A)“) habe ich bereits beschrieben, wie sich die Rolle der Folgenden, der Frauen, mental abspielen könnte. Dabei zeigt sich: Ihre eigentlichen Aufgaben werden im Unterricht oft nicht umfassend erklärt. Für viele Anfängerinnen bleibt das, was der Partner führt, zunächst ein großes Rätsel – besonders dann, wenn er keine klare Aussage oder Bewegungsaufgabe formuliert, also keinen eindeutigen Führungsimpuls gibt.

Bleibt die Führung vage oder fehlt ganz, bleibt der Folgenden nur eine Möglichkeit: Sie orientiert sich an dem, was sie zuvor im Kurs vom Lehrerpaar gesehen hat, und versucht, diesen Ablauf nachzutanzen. Bewegung entsteht dann weniger aus der Kommunikation im Paar, sondern aus dem „Abschauen“ – oder aus einer reinen Notwendigkeit, etwa wenn der Partner frontal auf sie zukommt und sie instinktiv rückwärts ausweicht.

Genau hier liegt ein zentrales Problem im Anfängerunterricht: Da die wenigsten Männer zu Beginn bereits eine klare Führung entwickeln können, sind sie unbewusst auf Partnerinnen angewiesen, die die Bewegungen bereits kennen – und die somit die Führungslücken schließen. Für die Folgenden bedeutet das, dass sie nicht wirklich im Modus des „Folgens“ lernen, sondern häufig mehr erraten, antizipieren oder gar vorausnehmen, was der Partner wohl beabsichtigt.

Die Fortsetzung der Antizipation bei den ersten Versuchen auf der Tanzpiste

Wenn eine folgende Anfängerin daran gewöhnt ist, den gemeinsamen Tanzfluss weniger durch körperlich klar spürbare Führungsimpulse als vielmehr durch ihre antizipierende Mithilfe zu ermöglichen, wird sie dieses Muster auch mit fremden Partnern fortsetzen. Sie leitet ihre Bewegungen dann aus den im Unterricht gelernten Abfolgen ab und gleicht diese mit den aktuellen Bewegungen des Partners ab.

Dieses Vorgehen funktioniert so lange, bis sie mit unbekannten Bewegungen konfrontiert wird. Dann beginnt das, was man als ein inneres „Check-Listen-Programm“ beschreiben könnte:

Fühlt sich die ungewohnte Bewegung gut an und der Tanzfluss bleibt ungestört, wird sie als „korrekt“ empfunden und in einer Art Erfahrungs-Checkliste als gelungen abgespeichert.

So entsteht nach und nach ein wachsender Schatz an Bewegungserfahrungen mit unterschiedlichen Partnern.

Mit der Zeit tritt an die Stelle der mentalen Vergleiche und Reaktionsreflexe das körperliche Empfinden für Führung. Erst dadurch entwickelt sich ein direkter Bezug zu den Impulsen des Partners. Erfahrene Tänzerinnen, die gelernt haben, Vertrauen aufzubauen und den mentalen „Flow“ mit guten Partnern zu erleben, sind schließlich in der Lage, ihren Tanz im Kontext der Musik optimal auf den Partner abzustimmen.

Räumliche Bezüge der Folgenden

Beim Tanzen fällt mir häufig auf, dass viele Folgende sich zwar gut an meinen Tanzfluss anpassen, ihre Bewegungen jedoch räumlich zu stark auf den äußeren Raum der Milonga beziehen – und weniger auf die Mitte des Partners.

Ein typisches Beispiel ist das Vorwärtskreuz als Eingang in einen Ocho. Viele Frauen setzen diesen Schritt nicht überkreuz zur Körpermitte des Partners, sondern geradeaus „in den Raum hinein“. Dadurch tanzen sie am Körper des Partners vorbei. Die Rückbewegung wird unnötig lang, und der Bewegungsfluss verliert seine Zentrierung.

Wesentlich ist dabei die Transversalachse der Schultern: Die Folgende bewegt sich mit den Schultern seitlich um den Partner herum und rotiert diese nur so weit, wie es die Beckenlinie erlaubt – maximal etwa 45 Grad. Diese Begrenzung sorgt dafür, dass die Bewegung kompakt bleibt und sich organisch an der gemeinsamen Achse orientiert. Der räumliche Bezug der Schritte sollte daher bei Drehungen und Ochos stets um den Partner herum erfolgen – oder, wenn der Führende sich mit Vorwärtsschritten in den Raum bewegt, mit den Rückwärtsschritten der Folgenden von ihm weg.

Eine einfache Übung verdeutlicht dieses Prinzip: Der Führende bleibt auf der Stelle, während die Folgende Ochos tanzt. Ihre Aufgabe besteht darin, die Schritte so zu setzen, dass die Achse der Schultern immer auf den Partner bezogen bleibt. Erlaubt sind nur kleine Rotationen der Schultern bis maximal 45 Grad – nicht mehr. So wird unmittelbar spürbar, dass die Bewegung nicht „in den Raum hinein“, sondern stets um den Partner herum organisiert ist.

So bleibt die Bewegung kompakt, klar und harmonisch. Der Tanz wirkt dadurch nicht nur eleganter, sondern auch funktionaler für die Ronda, weil die gemeinsame Achse des Paares den Mittelpunkt bildet – und nicht ein „offener Raum“ außerhalb des Partners.

Abhängigkeit der Bewegungsqualität von der Führung des Partners

Leider fehlt vielen Folgenden eine klare Vorstellung von der eigenen Bewegungsstruktur. Besonders in enger Umarmung machen sie sich oft zu abhängig von einer unsicheren oder unklaren Führung. Für den Führenden mag es zunächst angenehm wirken, wenn sich eine Partnerin vollständig in die Umarmung „hineingibt“ und jede Bewegung mitmacht. Doch je größer diese Abhängigkeit ist, desto anfälliger wird die Bewegungsqualität des gesamten Paares – gerade dann, wenn die Führung nicht präzise ist.

Frauen verlieren dabei nicht nur an eigener Stabilität, sondern auch an Ausdruckskraft. Es gibt durchaus Tänzerinnen, die sich ohne formalen Unterricht, allein durch viele Milonga-Erfahrungen mit wechselnden Partnern, ein beachtliches Niveau „ertanzt“ haben. Doch dieses Können bleibt oft rein erfahrungsbasiert. Wenn eine Bewegung schlecht geführt wird, fehlt die Grundlage einer eigenen, gelernten Bewegungsstruktur, um diese Defizite auszugleichen. In solchen Momenten wirkt die Folgende nicht nur unsicher, sondern bringt unter Umständen auch das gesamte Paar in eine missliche Situation.

Didaktischer Hinweis

Im Unterricht ist es deshalb wichtig, den Folgenden eine eigene Achse und Bewegungsstruktur bewusst zu machen. Sie sollten lernen, jeden Schritt zunächst für sich selbst sauber und stabil auszuführen – unabhängig davon, ob die Führung klar oder schwammig ist. Erst wenn eine Bewegung auf eigener Balance, klarer Achsarbeit und präziser Körperorganisation basiert, kann sie flexibel auf unterschiedliche Führungsqualitäten reagieren.

Praktisch bedeutet das: Übungen zu selbständigem Gehen, Achsenwechseln und Ochos ohne Führung sind unverzichtbar. Die Folgenden spüren dadurch, dass jede Bewegung zunächst eine eigene innere Logik und einen stabilen Rahmen hat. Die Führung des Partners wirkt dann wie ein Impuls, der eine bereits vorhandene Bewegung aktiviert – und nicht wie eine „Krücke“, ohne die nichts funktioniert.

Übung: Eigenständige Achse vs. abhängiges Mitgehen

Ziel: Die Folgende soll erfahren, dass ihre Schritte eine eigene Stabilität und Bewegungslogik haben – unabhängig von der Führung.

Ablauf:

Gehen ohne Führung:

    • Die Folgende geht zunächst allein, langsam, in einer Linie.
    • Sie achtet auf klare Gewichtsverlagerung, die Länge der Schritte und die Stabilität der eigenen Achse.
    • Wichtig: Sie spürt, dass jeder Schritt „ihr eigener“ ist – auch ohne Partner.

Gehen mit minimalem Impuls:

    • Der Führende gibt nur einen sehr kleinen Impuls (fast nur durch die Verbindung im Brustkorb) in die gewünschte Richtung.
    • Die Folgende setzt ihren bereits geübten Schritt fort, so als hätte sie ihn ohnehin ausführen wollen.
    • So wird deutlich: Die Führung aktiviert eine Bewegung, die sie selbst schon „bereit“ hat – sie ersetzt sie nicht.

Vergleichssituation:

    • Der Führende führt absichtlich einmal unsauber oder sehr vage.
    • Die Folgende soll nun spüren: Habe ich trotzdem eine klare Achse und Bewegung, oder lasse ich mich „hineinfallen“?
    • Durch den Vergleich erkennen die Folgenden, wie wichtig ihre eigene Struktur ist, um auch bei schlechter Führung elegant und stabil zu bleiben.

Ergebnis:

Die Folgenden erfahren am eigenen Körper, dass ihre Bewegungsqualität nicht vollständig von der Führung abhängt. Eine klare, selbstständige Achse ermöglicht ihnen, auch bei unsicherer Führung stabil, elegant und musikalisch zu tanzen.

Fazit

    • Improvisation ist Ursprung und Wesen des Tangos.
    • Figuren sind kein Selbstzweck, sondern Werkzeuge für die Ronda.
    • Führung heißt: eine klare Bewegungsaufgabe stellen.
    • Folgen heißt: auf eigener Achse stabil bleiben, nicht abhängig machen.
    • Unterricht muss den sozialen Kontext betonen: Musik, Ronda, Umarmung.
    • Qualität zählt mehr als Quantität.
    • Essenz: Tango ist keine Abfolge von Schritten – Tango ist gelebte Kommunikation im Moment.

6 thoughts on “Gedanken über Tango Unterricht | 20. Teil | (B)

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      Ein schöner Artikel, systematisch und facettenreich. Spontaner Gedanke dabei: Mentoring. Im beruflichen Bereich ist das ein etabliertes Konzept: Einem Einsteiger wird ein erfahrener Kollege zur Seite gestellt. So etwas passiert im Tango natürlich auch – ich denke, es gibt kaum jemanden, der nicht in den ersten Tangojahren das eine oder andere Tanda-Geschenk von erfahrenen Tänzern bekommen hat. Aber wie wäre es denn, das auf einer etwas organisierteren Basis zu probieren, inklusive von so etwas von „Debriefing“ oder Feedbackrunden? Ich spreche wohlgemerkt nicht von expliziten Lektionen auf Milongas, sondern von „stillen“, aber dennoch strukturierten Lösungen.

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        Hallo Yokoito,
        dein Gedanke trifft genau einen Punkt, der auch mich lange beschäftigt hat. Eine Art strukturiertes Mentoring wäre wünschenswert – und ich habe mir oft etwas in dieser Richtung vorgestellt. In der Praxis stoßen wir jedoch schnell auf eine Hürde: Gerade Anfänger:innen sind oft sehr befangen und unsicher. Ein Feedback-Prozess setzt aber voraus, dass sie eigene Wahrnehmungen klar benennen können – und genau das fällt vielen schwer. Die Bewertungskriterien sind am Anfang sehr unterschiedlich, meist stark gefühlsbetont, und werden oft nicht ausgesprochen: aus Angst, den Partner oder die Partnerin zu kritisieren oder selbst „dumm“ dazustehen.
        Ich gebe in meinen Kursen zwischendurch durchaus die Aufgabe, innerhalb des Paares Führungsimpulse und ihre Deutung auszutauschen – allerdings ohne „Du-Aussagen“. Doch auch das führt schnell zu Diskussionen und einem Durcheinander von Botschaften, die sowohl technische Ursachen haben können als auch selbstverantwortete Aspekte berühren.
        Damit so ein Mentoring nicht im Chaos endet, braucht es daher mehr als nur gute Tanzkenntnisse. Es erfordert eine Lehrperson, die auch gruppendynamisch geschult ist und den Prozess moderieren kann. Das geht weit über reine Tangoschulung hinaus – wäre aber tatsächlich ein spannender Ansatz.

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          Hallo Klaus,

          Du hast natürlich recht, so etwas funktioniert nicht „einfach so“. Die Motivationslage im Bereich Business ist sicher auch anders. Dazu noch folgende Gedanken: Berufseinsteiger sind in der Regel jung und von daher noch „formbarer“, was bedeuten könnte – all things equal – daß das Konzept mit Jüngeren bessere Chancen hat. Andererseits: Tango-Einsteiger sind in der Regel schon etwas gesetztere Personen. Optimistisch hieße das, man kann vielleicht „erwachsen“, also auf Über-Ich-Ebene, mit ihnen reden.

          Letztlich ist es auch hier eine Frage von Belohnung – wenn die stimmt, „erduldet“ man mehr, was bedeutet, positive Returns müssen schneller einsetzen als der Frust, entweder bei einem selbst oder indem man beobachtet, wie das ganze bei anderen funktioniert.

          Unter dem Strich: ein solches Mentoring-Angebot ist vermutlich nichts, was man breit gestreut anbieten kann, aber vielleicht für ausgewählte Leute und ohne es zunächst an die große Glocke zu hängen.

          A propos Belohnung. Hast Du mal die „Lucifer-Frage“ ausprobiert, über die wir vor einer Weile gesprochen haben? Also einem Schüler tief in die Augen geschaut und gefragt „was ist es, was Du wirklich, tief im Inneren, begehrst“?

          • Author gravatar

            Wenn ich den Männern in einer Anfänger-Gruppe die Luzifer-Frage stellen würde, käme wohl meistens die Antwort: „Diesen Kurs wollte eigentlich meine Frau, ich weiß noch nicht so richtig, was ich hier soll.“

            • Author gravatar

              Und was würden die Frauen sagen? Belohnungen können ja auch „über Bande“ funktionieren…

              Nebenbei, gestern hatte ich ein kurzes Gespräch, in dem mir bestätigt wurde, daß Tango auch so etwas wie gelebte Polyamorie sein kann, natürlich nur auf einer symbolischen Ebene – wobei wir ja wissen, wie wichtig Symbole sein können.

            • Author gravatar

              1. Was Anfängerinnen sagen würden? Meistens: „Mein Mann & ich wollten mindestens 1x pro Woche etwas gemeinsam unternehmen. Als ich meinen Mann fragte: ‚Auch tanzen?‘, war er nicht gerade begeistert, aber Tango könne er sich schon vorstellen?“ Es ist also oft nicht unbedingt der Tango als innerster Wunsch gemeint, sondern zuerst einmal so eine Art „Jodel-Diplom“ zu zweit. Viele entdecken also erst beim Lernen den Reiz des Tangos.
              2. Ja, es ist schon bezeichend, dass sich 2 Personen, Mann & Frau, die sich oft noch nie begegnet sind, für 10 Minuten in diese co-abhängige, körperlich-nahe Vertrautheit einer Umarmung begeben; und das oft einen ganzen Abend lang mit wechselnden Personen. Da könnte man auf die Idee einer Polyamorie kommen und vielleicht ist das ja die Erotik, die wir zwar sexuell lustbetont verneinen, aber tänzerisch ausleben.

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