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Gedanken über Tango-Unterricht | 24. Teil

Gedanken über Tango-Unterricht | 24. Teil

Tango-Unterricht und Bewegungsschulung

Hinweis: Der ursprünglich veröffentlichte Teil 24 der Reihe „Gedanken über Tango-Unterricht – Tango & Spiraldynamik“ wurde gelöscht, da es berechtigte Kritik an einzelnen Formulierungen und deren Verständlichkeit gab. Um die Reihenfolge beizubehalten, wurde dieser Beitrag von Teil 25 in Teil 24 umbenannt. In Zukunft werde ich mich um schlichtere Formulierungen bemühen. Falls ältere Links oder Zitate dadurch ins Leere führen, bitte ich um Verständnis.

Aus eigener Erfahrung gehören Bewegungsschulung bzw. Bewegungslehre wie Feldenkrais®, Alexander-Technik®, Pilates oder Spiraldynamik® unbedingt zum Tango-Unterricht dazu. Alle diese Disziplinen entstanden ungefähr in der Mitte des letzten Jahrhunderts, überschneiden sich thematisch und sind in vielen Bereichen erstaunlich übereinstimmend. Sie tragen gleichermaßen positiv zum Tanz bei. Kein Wunder: Die Beschäftigung mit dem menschlichen Körper ist keine „Meinungssache“, wie viele vielleicht glauben, sondern ein Feld, in dem jahrzehntelang geforscht, ausprobiert und beobachtet wurde.

Mein eigener erster Tango-Unterricht bei Juan D. Lange Mitte der 1980er Jahre bestand bei zwei Unterrichtsstunden pro Abend zur Hälfte aus einer Mischung mehrerer solcher Bewegungsdisziplinen, die andere Hälfte war Tango. Juan selbst nahm Unterricht bei Frieda Goralewski („Atem, Stimme und Bewegung“) und beschäftigte sich mit Bioenergetik. So bekamen wir eine solide Bewegungsschulung gleich mitgeliefert. Wer also glaubt, dass die Verbindung von Tango und Bewegungslehre eine moderne Modeerscheinung sei, irrt. Schon seit rund 40 Jahren ist sie fester Bestandteil des Tango-Unterrichts in Deutschland.

Juan begründete diese Einflechtung damit, dass er die deutsche Tanzszene beobachtet hatte. Damals dominierte der Standardtanz mit seinen festgelegten Formen und starren Mustern. Ein Bezug zu natürlichen Bewegungsabläufen fehlte völlig, und so entstanden recht skurrile, teilweise ungesunde Bewegungen. Er wollte, dass wir Tänzerinnen und Tänzer lernen, auf unseren Körper zu hören, mit ihm zu arbeiten, statt gegen ihn.

Bewegungsübungen im Unterricht – Problematik und Lösungen

Das Problem ist allerdings, dass nicht alle Schüler begeistert sind, wenn im Tango-Unterricht auf einmal Gymnastik- oder Bewegungsübungen auftauchen. Obwohl sie ihnen guttun würden, stößt das oft auf Widerstand. Deshalb bin ich im Laufe der Jahre dazu übergegangen, Bewegungsübungen nur noch im direkten Kontext zum jeweiligen Unterrichtsstoff einzubauen. Sie sollen etwas erleichtern, verbessern oder ein tieferes Verständnis der jeweiligen Bewegungsabläufe vermitteln.

Unverzichtbar sind allerdings Aufwärmübungen am Anfang jeder Stunde. Denn die meisten Teilnehmer brauchen erst einmal mindestens eine Viertelstunde, um überhaupt im Körper „anzukommen“. (Ja, ich weiß – wieder einmal eine Steilvorlage für „Möchtegern-Satiriker“.) Aber es ist eben so: Ohne bewusstes Einstimmen in den Körper fällt das Lernen schwerer.

Körperfremde Arbeit im Alltag

Ein großes Handicap für viele heutige Teilnehmer ist der Alltag selbst. Wer den ganzen Tag am Computer sitzt, hat eine schlechte Körperbezogenheit. „Sitzen ist das neue Rauchen“ – dieser Satz ist nicht umsonst so populär. Geschicklichkeit und Körperbewusstsein haben in den letzten Jahren dramatisch nachgelassen.

Natürlich machen viele Sport: Fitnessstudio, Joggen oder andere Aktivitäten. Aber auch diese Bewegungen sind oft sehr einseitig. Krafttraining an Geräten produziert monotone Abläufe, Laufen ohne gute Technik schadet auf Dauer mehr, als es nützt. Viele Menschen gewöhnen sich unbewusst ungesunde Muster an, die nach ein paar Jahren zu Arthrose führen können.

Wenn man dann im ersten Tango-Unterricht das „Gehen“ vermitteln möchte, merkt man schnell, wie es um den „natürlichen Gang“ bestellt ist: Wirklich natürlich ist da meist nichts mehr. Ich würde schätzen, etwa 80 % der Menschen haben heute einen physiologisch schlechten Gang. Kein Wunder also, dass Kniearthrose so weit verbreitet ist. Ich selbst gehöre übrigens auch dazu – nach 30.000 Stunden Tango auf der Piste kombiniert mit nicht immer optimaler Ernährung darf ich mich darüber nicht wundern. Das ist schlicht natürlicher Verschleiß.

Die Klassiker der Bewegungslehre

Wer sich tiefer einarbeiten möchte, dem empfehle ich die „Bibel der Bewegungslehre“:  „Jenseits von begabt und unbegabt“ von Heinrich Jacoby. Neben Jacoby haben auch Elsa Gindler, Frieda Goralewski, Dore Jacobs, Moshe Feldenkrais und F. M. Alexander entscheidende Impulse gegeben. Sie alle betonten – bei allen Unterschieden – die Bedeutung von Wahrnehmung, Achtsamkeit und funktionalen Bewegungsmustern.
Natürlich gibt es noch viele weitere, aber das sind für mich die wichtigsten Namen, wenn man sich mit den Grundlagen beschäftigen möchte.


Spiraldynamik® – das Herzstück im Tango

Unter all den Bewegungslehren, die ich bislang erwähnt habe, halte ich die Spiraldynamik® für die wichtigste, wenn es um Tango geht. In keinem anderen Paartanz spielt sie eine so entscheidende Rolle. Warum? Weil der Tango ständig aus Drehungen, Spiralbewegungen, Richtungswechseln und dem elastischen Zusammenspiel zweier Körper besteht. Genau das ist das Feld, auf dem die Spiraldynamik® arbeitet: die dreidimensionale Organisation von Bewegung entlang natürlicher Spiralprinzipien im Körper.

Wer die Spiraldynamik® kennt, weiß: Gelenke werden nicht einfach „gebeugt“ oder „gestreckt“, sondern in einem Spiralprinzip bewegt. Dieses Prinzip entlastet die Gelenke, schützt vor Verschleiß und sorgt für fließendere, kraftsparendere Bewegungen. Gerade im Tango, wo es auf subtile Richtungswechsel, achsengerechtes Drehen und elastisches Gehen ankommt, ist das Gold wert. Viele Probleme – vom „Holpern“ beim Gehen bis hin zu Knie- oder Rückenbeschwerden – lassen sich mit diesem Ansatz nicht nur erklären, sondern auch korrigieren.

Ein Erlebnis dazu ist mir bis heute sehr präsent: Ich hatte einmal Bruce Fertman, den damaligen Leiter der Alexander Technique Alliance® in den USA, in meine Tangoschule eingeladen, um dort zu unterrichten. Im Kurs zeigte er, wie stark Spiralbewegungen die Bewegungsfähigkeit schon bei Babys prägen.

Babys liegen zunächst nur da, ohne Muskeln und ohne Bewegungserfahrung. Und doch drehen sie sich schon nach wenigen Wochen vom Rücken auf den Bauch. Wie geht das? Der erste Impuls kommt über die Augen. Wenn ein Baby im Liegen die Mutter mit dem Blick verfolgt und plötzlich „steht die Welt Kopf“, dann dreht es den Kopf, damit die Welt wieder „gerade“ steht. Dieser Impuls setzt eine ganze Kette in Gang: Die Augen initiieren die Bewegung, der Kopf dreht, die Schultern folgen, und der Rest des Körpers rollt in einer spiralförmigen Bewegung hinterher. Ohne Kraft, ohne Techniktraining – allein durch die natürliche Organisation des Körpers.

Genau diese Erfahrung ließ Bruce uns alle im Unterricht nacherleben. Wir lagen auf Matten auf dem Rücken und vollzogen denselben Impuls wie Babys: erst mit den Augen einen Punkt fixieren, dann den Kopf drehen, die Schultern folgen lassen – und schließlich rollt der ganze Körper ganz von selbst in eine Drehung. Es war verblüffend, wie mühelos diese Bewegung entstand, sobald man den Impuls wirklich von den Augen und dem Kopf ausgehen ließ. Natürlich tun wir das als Tangotänzer später aufrecht und nicht im Liegen – aber der Mechanismus ist derselbe.

Genau hier liegt ein großer, oft ungenutzter Schatz für den Tango: Auch der Blick des Führenden könnte die gesamte körperliche Ausrichtung des Paares in jede Richtung lenken. Statt mit Kraft an Armen oder Oberkörper zu arbeiten, genügt manchmal schon eine kleine Drehung des Kopfes, die eine spiralförmige Bewegung durch den Körper auslöst – und damit beide Tänzer*innen organisch in die neue Richtung führt. Auch jede Pivot-Drehung  und jeder „Giro“ wird durch den Blick in die zu drehende Richtung enorm erleichtert. 

Das ist für mich ein Schlüsselerlebnis gewesen: Die Spirale ist nicht etwas, das man sich mühsam „aneignen“ muss. Sie steckt in uns von Anfang an. Im Laufe des Lebens verlieren wir diese Selbstverständlichkeit oft – durch Sitzen, falsche Bewegungsmuster oder starre Haltungen. Der Tango bietet eine wunderbare Möglichkeit, dieses ursprüngliche Wissen wieder freizulegen und bewusst einzusetzen.

Deshalb bin ich überzeugt: Wer ernsthaft Tango tanzt, sollte sich mit Spiraldynamik® beschäftigen. Sie macht nicht nur den Tanz gesünder, sondern auch schöner – weil die Bewegungen organischer, geschmeidiger und logischer werden.

Bewegungslehre und die Dogmen der Tango-Ästhetik

Es gibt in der Tango-Welt leider ästhetische und traditionelle Dogmen, die einer gesunden Bewegungslehre widersprechen. Eines davon betrifft den Blick des Führenden in die Tanzrichtung. Nach klassischen Bewegungsprinzipien wäre es selbstverständlich, den Kopf frei zu bewegen, um Orientierung zu haben, Gleichgewicht zu unterstützen und die Bewegungsfreiheit zu erhöhen. Doch im Tango gilt oft das Motto: „Nunca rompe el abrazo“ – zerstöre niemals die Umarmung.

Natürlich weiß ich, dass viele Tänzerinnen und Tänzer trotz dieser Einschränkung ein großes Bewegungsrepertoire entwickelt haben und zeigen, dass vieles möglich ist. Aber die starre Kopplung im Kopf- und Halsbereich vieler Paare macht den Tanz insgesamt starrer und weniger dynamisch. Außerdem leidet die Übersicht: Wer den Kopf nicht bewegt, tappt auf der Piste eher blind herum. Vor allem für den Führenden ist das ein Problem, weil er den Überblick über freie Räume für seine Partnerin verliert. Die Hälfte der räumlichen Möglichkeiten in einer Ronda wird damit verschenkt – nur um einer „Schmusehaltung“ treu zu bleiben.

Und hier kommt für mich auch ein sehr persönlicher Punkt: Mein eigener Tanzstil – bei dem ich den Kopf in die Tanzrichtung meiner Partnerin drehe – würde mich in einem typischen Encuentro fast inkompatibel machen. Dort ist es vielerorts üblich, dass Frauen den linken Arm um den Hals des Mannes schlingen, die Augen schließen, den Kopf andocken – und mir damit den halben Tanzraum verdecken. In diesen Kreisen herrscht zudem oft eine Art „Umarmungspflicht“ in genau dieser Form, um massenkompatibel zu sein. Für mich persönlich bedeutet das eine Einschränkung von Bewegungsfreiheit und Übersicht, die ich nur schwer akzeptieren kann.

Die Frage ist: Warum eigentlich? Man kann doch wunderbar eng, vertraut und innig tanzen – und sich trotzdem den Spielraum gönnen, den Kopf frei zu bewegen. Es wäre nicht nur ergonomisch sinnvoll, sondern würde auch die Spiraldynamik® im Oberkörper freisetzen, die sonst blockiert bleibt. Gerade dort, wo Rotation, Spiralbewegung und Richtungswechsel eine zentrale Rolle spielen, wäre Bewegungsfreiheit enorm wertvoll.

Doch hier stößt Bewegungslehre an ihre Grenzen: Die heilige Kuh „el abrazo“ bleibt unantastbar. Die Umarmung ist ein identitätsstiftendes Symbol des Tangos – aber manchmal steht sie einer besseren, gesünderen Bewegungsarbeit im Wege. Das ist ein Dilemma, dem man sich stellen muss: Zwischen Tradition und Funktion, zwischen Ästhetik und Anatomie.

Körperspannung, Arbeitsspannung, Muskeltonus, Faszien

Oft hört man die Aufforderung: „Tanz doch entspannt!“ – und das ist grundsätzlich richtig. Nur bedeutet „entspannt“ nicht „spannungsfrei“. Es geht vielmehr um die Dosierung der Spannung, die für die jeweilige Bewegung sinnvoll ist.

Der Körper hat immer eine Grundspannung – den sogenannten Muskeltonus. Ohne den könnten wir weder stehen noch laufen. Aber es gibt einen großen Unterschied zwischen überflüssiger Verkrampfung und einer nützlichen, lebendigen Arbeitsspannung.

Arbeitsspannung bedeutet: gerade so viel Aktivität, wie nötig ist, um Haltung, Achse und Bewegungsfluss zu sichern. Nicht mehr, nicht weniger. Zu viel Spannung blockiert, zu wenig Spannung lässt uns zusammenfallen. Im Tango geht es darum, diese feine Balance zu finden.

Besonders im Paar entstehen schnell überflüssige Spannungen. Häufig, weil jemand versucht, Führungsimpulse mit Kraft zu übertragen oder sich an der Partnerin bzw. dem Partner festhält. So wird aus der eigentlich feinen Kommunikation zwischen zwei Körpern ein Ziehen, Drücken und Festklammern. Die Folge: Anstatt dass sich beide Bewegungen gegenseitig ergänzen, blockieren sie einander. Die Kunst besteht darin, die richtige Dosis an Spannung zu halten – so viel, dass der Kontakt klar bleibt, aber so wenig, dass Bewegungen frei durch den Körper fließen können.

Und hier kommen die Faszien ins Spiel. Früher hielt man sie für bloßes „Füllmaterial“, heute wissen wir: Faszien sind ein hochsensibles Netzwerk, das den ganzen Körper durchzieht. Sie verbinden Muskeln miteinander, übertragen Kräfte, speichern Energie und enthalten unzählige Sinneszellen. Manche nennen sie sogar unser größtes Wahrnehmungsorgan für Bewegung.

Im Tango spüren wir das ganz unmittelbar. Wenn Bewegungen geschmeidig fließen, wenn Impulse leicht übertragen werden, wenn wir uns elastisch fühlen, dann arbeitet dieses fasziale Netzwerk optimal mit. Wenn es dagegen irgendwo stockt oder steif wirkt, liegt es oft daran, dass die Gleitfähigkeit in den Gewebeschichten eingeschränkt ist.

Für den Unterricht heißt das: Wir brauchen Übungen, die helfen, diese feine Spannung bewusst wahrzunehmen und zu regulieren. Es geht nicht darum, Fitnessblöcke einzuschieben, sondern um kleine, kontextbezogene Bewegungen, die direkt den Tango unterstützen – sei es beim Gehen, in der Drehung oder in der Umarmung. So wird Bewegungslehre nicht zum Fremdkörper im Unterricht, sondern zu einem integralen Bestandteil, der den Tango lebendiger, klarer und gesünder macht.

Ausblick

Man sieht also: Bewegungslehre und Tango sind keine getrennten Welten, sondern gehören eng zusammen. Sie helfen uns nicht nur, gesünder zu tanzen, sondern auch klarer, geschmeidiger und bewusster. Und doch gibt es Reibungspunkte – etwa dort, wo Dogmen und Traditionen den natürlichen Bewegungsprinzipien entgegenstehen. Gerade darin liegt aber die eigentliche Spannung des Tango: Zwischen Nähe und Freiheit, zwischen Regeln und dem individuellen Ausdruck.

Wer sich also  beim Lernen des Tangos nicht mehr weiterentwickelt, sollte sich Lehrer suchen, die sich mit Bewegungsschulung auskennen. Tango-Lehrer, die sich nur auf Tango beziehen, also nur mit Vormachen -Nachmachen, können oft nicht wirklich weiterhelfen. Es sein denn, es sind richtig gute Tänzer:innen mit jahrelanger Tanz- und Unterrichtserfahrung. 

Im nächsten Teil möchte ich daher noch genauer aufzeigen, wie sich bestimmte Bewegungsprinzipien konkret in Unterrichtsübungen umsetzen lassen – ohne dass der Tango seinen Charakter verliert, aber mit dem Gewinn an Leichtigkeit, Dynamik und Freude.

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