
Neo-, Non-, oder Tango? – die ewige Diskussion
Ein weiterer Versuch zur Klärung
Ausnahme oder Regel?
Im letzten Artikel über „Das Konzept eines Tanzes“ bekam ich einen kritischen Kommentar von „Chicho Lüders“. Unter diesem Pseudonym bedankte er sich ironisch bei mir, den großen Tango-Spitzenpaaren endlich das „wahre Konzept des Tango“ erklärt zu haben. Als Beleg verwies er auf seine Blog-Seite, wo er Videos mit Spitzenpaaren präsentiert, die natürlich auch zu Neo- oder Non-Tango-Stücken hervorragend tanzen können. Nur: das ist nicht der Punkt.
Ich habe nie bestritten, dass Non- oder Neo-Tango tanzbar ist – schon gar nicht von Profis, die jedes Musikstück mit Eleganz und Können meistern. Aber wer diese Ausnahmefälle heranzieht, um die Regel zu beweisen, verfehlt das Thema. Denn die breite Masse der Tango-Tänzer stolpert bei solcher Musik schnell ins Abseits. Oder um es „Chicho Lüders“ ins Stammbuch zu schreiben: Ausnahmen sind kein Beweis – sie sind nur die Ausnahme.
Mit anderen Worten: Virtuosen spielen auch auf einem verstimmten Klavier brillant – doch für Anfänger klingt’s dann eben einfach nur verstimmt.
Die Tango-Genres
Zu Beginn möchte ich den Blogger Yokoito zitieren, der die gängigen Gruppen von Tangomusik folgendermaßen einteilt:
„Klassische“ Tangomusik, aufgenommen während der „Goldenen Ära“ (ca. 1930–1950)
Neo- und Electro-Tango
Nicht-Tangomusik
Tangomusik, gespielt von zeitgenössischen Orchestern (die derzeit zu etwa 90 % Coverversionen aus der Goldenen Ära spielen)
Alles andere
Diese Einteilung ist grob, aber sie macht deutlich, worum es in den ewigen Diskussionen geht: Nicht ob man zu einer bestimmten Musik tanzen kann, sondern wie und wo diese Musik im sozialen Kontext der Milonga funktioniert.
Drei Probleme mit der „Tanzbarkeit“
In zahllosen Diskussionen in Blogs, Foren und sozialen Medien ging es immer wieder um die Frage, ob Non- oder Neo-Tango „tanzbar“ sei. Am Ende landeten wir meist beim Konsens: Jede Musik hat ihre Berechtigung – solange klar angekündigt ist, was auf einer Veranstaltung gespielt wird. Und dennoch: Bei normalen Milongas mit Rondas stoße ich auf drei grundlegende Probleme.
1. Die räumliche Dimension
In der Ronda bewegen sich Paare in kleinen, präzisen Schritten, eng in Reihe, Rücksicht nehmend auf die Nachbarn. Neo- und Non-Tango-Paare hingegen tanzen oft offen, expressiv, raumgreifend. Das ist künstlerisch reizvoll, aber im gleichen Raum schlicht inkompatibel: Wo die einen ausladende Bewegungen bewusst vermeiden, suchen die anderen genau darin ihren Ausdruck. Das Ergebnis ist kein harmonisches Miteinander, sondern ein ständiges Gegeneinander.
2. Die musikalische Logik
Tangofiguren sind kein Selbstzweck – sie sollen musikalische Akzente sichtbar machen. In traditioneller Musik funktioniert das mühelos, weil Takt und Phrasen verlässlich tragen. Doch in komplexeren, verjazzten Stücken – Piazzolla ist das Paradebeispiel – fehlt oft die voraushörbare Struktur. Natürlich können Meistertänzer:innen dynamisch reagieren und spontane Akzente aufgreifen. Für die meisten aber gilt: Die Figuren laufen ins Leere, weil sie den Puls nicht mehr treffen. Man tanzt dann Schritte – aber nicht mehr die Musik.
3. Der soziale Aspekt
Eine Milonga ist ein geteilter Tanzraum, kein Show-Floor. Ihr Wesen ist, dass viele Paare gleichzeitig im selben Fluss tanzen. Wenn aber ein Teil versucht, komplexe Strukturen zu interpretieren, während der andere schon mit dem Grundtakt kämpft, zerreißt die gemeinsame Basis. Die soziale Energie der Ronda bricht auseinander, und das verbindende Element – Musik, die alle gleichzeitig trägt – geht verloren.
Ein Beispiel für musikalische Un-Logik – ein Video:
Ein Beispiel für eine solche Diskrepanz zwischen Figuren und Musik findet sich hier in einer Neo-Milonga: Es entstehen zwar Bewegungen, aber kaum eine Verbindung zur musikalischen Struktur. Ich nenne diese Art zu tanzen: Tango-Bewegungen während Musik läuft. Hier nur ein Bespiel, warum bei gezeigten Paaren das von mir beschriebene „Tango-Konzept“ meiner Meinung nach nicht umgesetzt wird. Aber das sagt noch nichts darüber aus, warum es kein Tango sein soll? Oder?
Ein Wort zu Respekt und Toleranz
Wenn ich hier Beispiele wie das verlinkte Video anführe, dann nicht, um die dort tanzenden Menschen zu diskreditieren. Es geht mir einzig darum, die Diskrepanz zwischen Musik und Bewegung zu verdeutlichen, die auf vielen Neo-Milongas zur Regel geworden ist. Sicher gibt es ausgezeichnete, musikalische Tänzer:innen – und bestimmt auch Veranstaltungen, auf denen Neo-Tango stimmig und respektvoll umgesetzt wird. Doch auf klassischen Milongas mit Rondas führt diese Art des Tanzens eben fast zwangsläufig zu Spannungen.
Gemeinsamer Nenner statt verstimmtes Orchester
Es geht mir also nicht darum, Neo- oder Non-Tango abwertend vom Parkett zu verbannen. Sie haben ihren Platz – auf Bühnen, in Shows, bei speziellen Veranstaltungen für Gleichgesinnte. Aber in einer vollen Milonga mit Rondas gilt: Drei Ebenen sprechen dagegen – die räumliche, die musikalische und die soziale.
Und darum bleibe ich bei meinem Satz: Eine Milonga lebt nicht von der Ausnahme, sondern vom gemeinsamen Nenner.