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Tango-Masterclasses

Tango-Masterclasses

oder: Den Nippel durch die Lasche ziehen

Eigentlich wollte ich mich hier gar nicht auf eine Schlammschlacht einlassen, aber ich möchte auf mehrfach  geäußerte Kritik bezüglich meiner Sprache in meinem Blog eingehen. Außerdem ein Thema ansprechen, was mich schon länger beschäftigt: Tango Masterclasses!
Da beide Themen zufällig über den nachfolgend genannten Blogger miteinander verkettet sind, dieser Artikel. Das Titelbild wird auch erst zum Schluss des Artikels verständlich. 

Blogger Jochen Lüders widmete mir einen ganzen Artikel, in dem er mir eine „verschraubte Ausdrucksweise“ vorwarf. Auch wenn er meine Beiträge kommentiert, wirkt es eher wie in einem MMA-Käfig: Er geht sofort zum Angriff über.

Nur frage ich mich: Was bringt ihn – und offenbar auch andere – so zur Rage? Ja, meine Sprache stößt manchen sauer auf. Daran muss ich wohl arbeiten. Kein Problem.

Doch worum geht es hier eigentlich? Etwa um einen Literatenlehrgang „Wie beschreibt man Tango-Figuren für Fortgeschrittene, um nebenbei auch noch den Literatur-Nobelpreis zu bekommen?“

Zugegeben: Ich tue mich manchmal schwer, komplexe Bewegungsabläufe in Worte zu fassen. Mal gelingt es mir bildhaft, mal klingt es vielleicht etwas umständlich. Wer es besser kann, bitte – ich bin ganz Ohr (oder Auge). Manche Stellen habe ich selbst schon überarbeitet, weil sie mir im Nachhinein zu sperrig vorkamen.

Aber eines ist klar: Wer eine rein technische Sprache vermeiden will, greift zu Bildern. Und diese Bilder klingen für Pragmatiker – und schlecht gelaunte „Frisch-Fromm-Fröhlich-Frei-Sportlehrer“ wie Jochen Lüders – oft seltsam. Männer verdrehen da gerne die Augen, während Frauen für Bildsprache meist viel offener sind – eine Beobachtung, die ich auch aus meinem Unterricht bestätigen kann.

Hey – Jochen Lüders selbst schrieb in seinem Blog einen Aufsatz über den methodischen Aufbau eines Unterrichtskonzepts beim ocho cortado, einer ziemlich einfachen Schrittsequenz. Laut Titel hält er das für „guten Unterricht“. Natürlich: Wer den ocho cortado kennt, kann die Beschreibung nachvollziehen. Wer ihn nicht kennt, findet sie konfus und irreführend.

Darum meine Gegenfrage: Warum macht er daraus nicht einfach ein Video? Genau dieselbe Frage stellte er nämlich mir.

„Gedanken über Tango-Unterricht“ – Notizen aus der Praxis – Impulse, Fragen und Ideen

Um es nochmal klarzustellen: Ich schreibe keine Tango-Tutorials – weil schriftliche Tutorials viel zu kompliziert wären. Ich blogge über allgemeine Tango-Themen, über Gedanken und Reflexionen, die auch den Unterricht betreffen. Ich gebe Tipps, wie man Hürden überwinden kann, aber ich biete keinen Tango-Fernunterricht an – wie Riedl in seinem „Milonga-Führer“.

Das habe ich von Anfang an klargestellt. Wenn ich bestimmte Aspekte beschreibe, die den Tango aus einer bestimmten Sicht – zum Beispiel der Spiraldynamik – beleuchten, dann wird es eben manchmal schwierig. Denn sobald es nicht nur um Form, sondern auch um Modus geht, wird es komplex. Die meisten wissen wahrscheinlich gar nicht, was damit gemeint ist.

Mir wurde unterstellt, ich hielte Tango für „waahhnnsinnig kompliziert“. Nein. Tango zu vermitteln ist schwierig – das stimmt. Aber schwierig heißt nicht automatisch umständlich. Anfänger empfinden Tango ohnehin als kompliziert, das muss man nicht noch verstärken. Im Gegenteil: Mein Unterricht ist prägnant, direkt und auf den Punkt. Und das gelingt, weil ich viel Erfahrung habe.

Dafür braucht es aber eine detaillierte Analyse, um bestimmte Bewegungen im Kern zu verstehen. Und genau über diese Analysen schreibe ich hier.

Tango wirkt nur einfach, wenn man ihn kann

Tango wird zunehmend schwieriger, je höher die Ansprüche an ihn sind. Wer bei den Basics bleibt, hat es leicht. Wer an die Feinheiten von Achsen, Spiralbewegungen oder Phrasierung herangeht, merkt schnell: Der Teufel steckt im Detail.

Und genau da beginnt der Unterschied zwischen Unterricht für Anfänger, Fortgeschrittene – und Masterclasses.

Masterclass oder Marketing?

Jochen Lüders warf Pablo Verón in einem ganzen Artikel vor, ohne klares Unterrichtskonzept zu arbeiten. Er hatte sich in München in eine „Masterclass“ mit ihm eingekauft und war empört über dessen Stil. Dass Pablo kein methodisches Konzept in der Tasche hatte, überrascht mich nicht. Er ist ein großartiger Tänzer, aber kein Didaktiker im klassischen Sinn.

Die Frage ist: Was darf man von einer „Masterclass“ im Tango überhaupt erwarten?
In der Musik ist das klar definiert: Ein Pianist, der zu einer Masterclass geht, beherrscht komplette Stücke auswendig und fehlerfrei. Niemand würde dort auf die Idee kommen, einen normalen Klavierlehrer hineinzusetzen. Im Tango dagegen scheint schon die eigene Selbsteinschätzung zu reichen, um dabei sein zu wollen.

Von einem Tango-Master als Schüler sollte man erwarten können, Sequenzen optisch zu erfassen und direkt umzusetzen. Ich weiß, das klingt hoch gegriffen, aber in Buenos Aires ist das im Master-Level Standard.

Über Lehrer oder Veranstalter, die Masterclasses anbieten

Auch in der deutschen Tango-Szene werden mittlerweile „Masterclasses“ angeboten. Der Begriff klingt schick, wird aber oft missverstanden. In anderen Disziplinen bezeichnet er Unterricht auf höchstem Niveau, der sich an Master-Students richtet: Schüler, die bereits einen sehr hohen Standard erreicht haben. Das Unterrichtsgeschehen spielt sich dort auf professionellem Level ab.

Da stellt sich die berechtigte Frage: Gibt es in Deutschland wirklich genügend Tänzer:innen, die auf diesem Niveau arbeiten? Sicher gibt es sehr gute Tänzer, die sich gezielt Lehrer suchen, die in besonderen Settings genau dieses Niveau bedienen können. Aber solche Lehrer müssen nicht mit dem Label „Masterclass“ werben – sie gelten ohnehin als Geheimtipp und haben mehr Zulauf, als sie Plätze anbieten können.

Genervte Tango-Meister als Lehrer auf Festivals

Wer kennt sie nicht? Geschichten von arroganten oder überheblichen Tango-Meistern, die auf Festivals unterrichten. Ich habe das selbst noch nicht erlebt, aber davon gehört und gelesen. Und ich kann Lüders in einem Punkt Recht geben: Wenn sich ein Lehrer wie Pablo wirklich so verhalten hat, wie beschrieben, ist das schlicht unprofessionell.

Andererseits kann ich auch nachvollziehen, dass sich nach Jahren mit den typischen Durchschnitts-Tango-Schülern eine gewisse Unterrichtsmüdigkeit einschleichen kann. Wer immer wieder dieselben Basics erklären muss, verliert vielleicht die Geduld. Trotzdem: Teure Gast-Lehrer sollten das Beste geben. Und wenn sie merken, dass das Level der Teilnehmer niedriger ist als erwartet, sollten sie ihre Ansprüche anpassen.

Ich selbst handhabe es so: Bei Selbstüberschätzern gehe ich im Unterricht sofort zurück zu den Grundlagen. Spätestens dann werden viele ganz schnell wieder sehr bescheiden.

Über Ansprüche an Unterrichtskonzepte

Wir Tangolehrer haben in den letzten Jahren viel gelernt – über Didaktik, Konzepte und Methoden, wie man Tango-Unterricht effektiv und nachvollziehbar gestaltet. Dass Spitzen-Tänzer wie Pablo Verón Figuren spontan aus einer Idee heraus tanzen, ohne sich Gedanken über deren methodische Vermittlung zu machen, ist schade, aber irgendwo verständlich.

Anders gesagt: Wie soll ein Fisch ein Konzept für Tauch-Unterricht entwickeln, wenn seine Schüler unter Wasser nicht einmal Sauerstoff bekommen? Die Antwort ist simpel: Er sollte nicht unterrichten – sondern einfach schwimmen.

Das Problem bleibt aber bestehen: Ansprüche an Lehrer sind nur die eine Seite.
Die Ansprüche an sich selbst als Masterclass-Schüler sind die andere.

Bedeutet: Unterrichtskonzepte sind heutzutage bei Anfängern und leicht fortgeschrittenen Tanzschülern unverzichtbar. Und auch bei besonderen Themen in Wochenseminaren erwarten wir Tango-Lehrer, die die Technik und Idee der Bewegungen vermitteln können. Aber der Anspruch sollte bei sich selbst nicht aufhören: Bleibt neugierig und offen für alles, was Euch helfen könnte.

Und das betrifft nicht nur den Unterricht selbst, sondern auch das Lesen von Tango-Texten: Wer sich auf Gedanken, Analysen und Bilder einlässt, entdeckt oft viel mehr, als wenn er nur nach einer „Gebrauchsanweisung“ sucht.

Ein Gegenbeispiel: Einfachheit durch Klarheit

Ich selbst habe nur gute Erfahrungen im Unterricht  mit Pablo Verón gemacht (in immerhin mind. 8 Seminaren). Vielleicht hatte ich einfach auch nur Glück mit ihm. Besonders erinnere ich mich an einen Kurs in Wuppertal – und ja, es ging tatsächlich um den ocho cortado. Nur: ohne methodischen Aufbau.
Er legte einfach los, und alle machten nach. Komisch – aber es funktionierte sofort.

Das Geheimnis lag nicht in einer ausgefeilten Didaktik, sondern darin, dass Pablo Bewegungen auf das Wesentliche reduziert. Sein Ausdruck ist so klar, dass man den Kern der Bewegung direkt versteht – wenn man hinschaut. Wer ihn dagegen nur blind imitiert, verpasst genau diesen Kern. Seine entspannte klare Bewegungssprache wirkte sich also unmittelbar auf seine Schüler aus. Wenn ich ihm zuschaute, fragte ich mich manchmal, warum ich es mir beim Tanzen oft so kompliziert machte. Das ging wohl den anderen Teilnehmern auch so.

Guter Unterricht heißt nicht, jedes Detail in Worte zu pressen, sondern Strukturen erkennbar zu machen, die als Gerüst dienen. So entsteht eine Art „Bauplan“, an dem sich Schüler orientieren können. Das ist mehr als eine bloße Abfolge von Schritten – es ist das Prinzip dahinter.

Mir sagte einmal Antonio Todaro auf meine Frage, warum er so irritiert auf europäische Tango-Tänzer:innen schaute:

„Sie bewegen sich tango-ähnlich. Es ist seltsam – so, als ob sie gar nicht verstehen, was sie da machen. Wie eine japanische Gebrauchsanweisung, die direkt ins Deutsche übersetzt wurde.“

Genau darum geht es: Wer nur Formen kopiert, versteht Tango nicht. Wer aber den Kern begreift, erlebt, dass er plötzlich einfach wirkt.

Warum schriftliche Tutorials kaum funktionieren

Jochen Lüders hat mir einmal gesagt, dass er klare – vielleicht schriftliche – Tutorials vermisst. Verständlich. Aber genau das halte ich für eine Illusion.
Veranschaulichung kann es nur in Videos geben. Schriftlich ist es meiner Meinung nach fast unmöglich, Bewegungsabläufe so festzuhalten, dass sie universell gültig wären.

Denn: Beim Lernen spielen unzählige Parameter eine Rolle – Größe, Erfahrungsstand, Umarmung, Musikauswahl, Tanzstil, Bewegungsrichtung und vieles mehr. Weicht nur einer dieser Faktoren ab, fällt jeder Beschreibungsversuch sofort in sich zusammen. Versucht man dagegen, alle Parameter zu berücksichtigen, wird der Text ein unlesbares Mammutwerk.

Darum halte ich Tango-Lern-Kompendien für sinnlos. Schon die alte Weisheit „It takes two for a Tango“ zeigt das erste Hindernis jeder Vereinfachung.

Schluss: Widersprüche und Satire

Wer einerseits auf „einfache Sprache“ für komplexe Bewegungsabläufe pocht, sie aber selbst nicht einfach beschreiben kann – und andererseits in einer Masterclass für komplexe Figuren simple, genormte Konzepte fordert –, verfängt sich unweigerlich in Widersprüchen.

Eine normierte Gebrauchsanweisung für Tango-Bewegungsabläufe, nach dem Motto „Sie müssen nur den Nippel durch die Lasche ziehen…“, gibt es nicht. Für Sportlehrer in Schulen mag eine kurze Beschreibung reichen, aber Hochleistungstrainer im Sport arbeiten längst mit komplexeren Konzepten – und genau da liegt der Unterschied. Und die Forschung daran hört ja auch nie auf. 

Darum mein Vorschlag: Herr Lüders möge einmal die exakten Bewegungsabläufe eines Stabhochspringers schriftlich festhalten – selbstverständlich inklusive aller Achsen, Kräfte und Parabeln.

Vielleicht wird daraus ja der Bestseller:
„Stabhochsprung für Dummies“.
Ich bin gespannt.

Nachtrag: Über Kritiker, Lehrer und andere Besserwisser

Inzwischen wurde ja wohl das große Bocks­schießen der Sprach-Polizei auf meine Schreibweise eröffnet. Nach Lüders’ Kritik hat nun auch Gerhard Riedl einen Artikel über meinen Blogbeitrag veröffentlicht. Auch dort wird genüsslich über meinen Stil hergezogen:

„Seine Tragik ist halt, dass er vieles so genau wie möglich erklären möchte, was erstens nicht einfach ist und zweitens gerade ihm schwerfällt, da er nicht zu den Meistern sprachlicher Gewandtheit zählt. Dadurch gelingen ihm immer wieder hinreißende Stilblüten, welche Lüders in seiner obigen Besprechung genüsslich filetiert.“

Ich mache ja gar keinen Hehl daraus, dass mein Stil nicht jeden Nerv trifft.
Doch nun hat Lüders zusätzlich per „Quellenforschung“ auch noch versucht, den Begriff NewClassic auseinanderzunehmen, den sowohl ich als auch V.I.O. im Zusammenhang mit der Reduzierung des Schrittmaterials benutzt haben [Link]. Also genau das, was Lüders selbst beklagte.

Wenn man also in einer Art Schnappatmungs-Reaktion beginnt, einen frei verwendeten Begriff per englischsprachiger Quellenangaben zu sezieren – vermutlich, um den eigenen Status als „alter Englisch- und Tangokenner“ zu unterstreichen –, dann verrät das weniger Sachkenntnis als eher schlechte Laune.

Quellen übrigens, von denen dutzende in unterschiedlicher Ausführung und Interpretierbarkeit im Netz kursieren und keinen wissenschaftlichen Wert haben.
Und das benutzte Video, das das berühmteste Tangopaar des letzten Jahrhunderts – El Cachafaz & Carmencita Calderón – zeigt, als angeblichen Beleg dafür, dass im klassischen Tango „lebhafter“ getanzt worden sei, ist in etwa so aussagekräftig, wie wenn man aus einem Stummfilm auf die heutige Schauspielkunst schließen wollte.

Und genau das führt zu einem weit verbreiteten Phänomen:
Lehrer:innen glauben in allen Fachgebieten besser Bescheid zu wissen als die jeweiligen Spezialisten. Fragt man Autowerkstätten, Juristen, Ärzte oder Handwerker, bestätigen alle: Mit Lehrer:innen zu diskutieren ist schwierig – sie wissen alles, erklären alles und hören ungern zu.

Lüders und Riedl scheinen ihr Tango-Wissen vor allem aus ihren pädagogischen Erfahrungen in ihren eigenen Fachgebieten zu ziehen. Sie tanzen ein bisschen, lesen ein paar Blogs – und glauben, mehr über Tango-Unterricht zu wissen als jemand, der seit Jahrzehnten Tango lebt, tanzt und lehrt.

Und wenn inhaltlich nichts mehr zu sagen bleibt, greift man eben zum Rotstift – und korrigiert lieber Schreibstil und Rechtschreibung.

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