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Gedanken über Tango Unterricht | 28. Teil

Gedanken über Tango Unterricht | 28. Teil

Der Tag, an dem der Compás verschwand

Es war ein ganz normaler Dienstagabend.
D’Arienzo lief, klar wie ein Pendel. Meine „Erste-Hilfe-Musik-Kiste“ war bereit, der zweite Kurstag des frischen Beginner-Kurses konnte beginnen.
Und dann – nichts.
Keine Eins, keine Drei, kein Puls. Nur acht Paare und das Geräusch von Schuhsohlen, die in der Musik rumtrampeln, aber nicht ankommen.

Ich dachte zuerst: Na gut, heute wird’s etwas schwieriger.
Manchmal brauchen Anfänger eben einen Moment, bis der Beat im Körper landet.
Aber als ich merkte, dass gleich die Hälfte des Kurses die Musik nicht umsetzen konnte, wurde ich hellhörig.
Vier Paare. Alle mit bestem Willen, aber ohne Takt.
Da dachte ich kurz: Oh je – könnte es sein, dass die halbe Gruppe an der Musik scheitert?

Ich wechselte die Musik.
E-Tango „Plano Secuencia“ von Carlos Libedinsky – NICHTS!
Ich klatschte, ich begleitete die Paare gehend im Takt, ich machte alles außer jonglieren. NICHTS!
Die Hälfte der Gruppe bewegte sich wie in einem Paralleluniversum – eines ohne Compás.

Ab da wurde der Unterricht zu einer Art pädagogischem Überlebensspiel.
Die einen wollten tanzen, die anderen suchten den Beat wie ihre verlorene Brille.
Und ich stand mittendrin, der verkrampfteste Mensch im Raum, bemüht, alles zusammenzuhalten.
Der Tango, der sonst von Freiheit lebt, fühlte sich plötzlich an wie Gruppentherapie mit Metronom.

Irgendwann merkte ich: ich selbst tanze gar nicht mehr.
Ich halte nur noch Ordnung.
Ich bin zum Verkehrspolizisten der Musik geworden – mit Pfeife, aber ohne Spaß.
Die Gruppe spürt’s natürlich sofort. Der Raum wird still, schwer, kontrolliert.
Und während ich erkläre, wie man „den Beat fühlen“ soll, merke ich, dass ich längst aufgehört habe, ihn zu fühlen.

Dann denke ich kurz: Vielleicht sollte ich die Hälfte einfach in einen Contact-Improvisation-Kurs schicken.
Nicht als Strafe – als Reha-Maßnahme.
Da könnten sie sich mal wieder gegenseitig anlehnen, umfallen, atmen.
Nicht zählen müssen. Vielleicht käme dann irgendwann der Compás von selbst zurück.

Aber gut, ich schick sie natürlich nicht.
Ich unterrichte weiter, erkläre geduldig, tue so, als wäre das alles Teil eines größeren Plans.
Und tief drinnen weiß ich: Es gibt diese Abende, da lernt niemand Tango.
Nicht mal der Lehrer.

Aber das Problem löste sich von selbst:
In der nächsten Stunde fehlten drei Paare mit diesen Problemen, und das vierte Paar kam dann doch irgendwann mit.
Das war das Fünkchen Selbstreflexion, das vielen Selbstüberschätzern in der Tango-Szene oft fehlt:
„Ich lerne lieber etwas anderes.“
Oder: „Zu diesem Idioten von Tango-Lehrer gehe ich nie wieder!“

Manchmal wirkt die Überforderung eines Tango-Lehrers eben wie ein Rauswurf.
Und es gibt Momente, da ist man – selbst nach 40 Jahren Unterrichtserfahrung – wieder mal Lehrer-Anfänger.

Und dann, als wäre nichts gewesen, kamen zwei neue Einsteigerpaare dazu.
Der Dío del Tango meinte es wohl gut mit mir.
Aber wie konnte ich nur die wichtigste Regel als Tanzpädagoge vergessen: Ruhe bewahren. Loslassen!

Und auch als Tango-Tänzer, dass Rückschritte ja eigentlich auch Fortschritte sein können – wenn man daraus lernt!

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