
Nähe als Marke – Über Poesie, Produkte und Projektionen in der Tangowelt
Zwischen Emotion und Strategie
Aufgefallen ist mir Dimitris Bronowski zum ersten Mal in einem Interview auf YouTube.
(Zeitgleich ist ein ähnlicher Artikel bei einem anderen Blogger erschienen, aber das ist nur Zufall.)
Nachdem ich ihm eine längere Zeit zugehört hatte, kam mir die verklärte Sprache über bekannte Tango-Klischees ziemlich dubios vor. Ich fragte mich, wer dieser Mensch wohl ist, der so souverän über den Tango sprach, aber äußerlich nicht unbedingt tango- oder gar lebenserfahren wirkte. Schnell fand ich heraus, dass er bereits einige Bücher geschrieben hatte und offenbar in der Szene einen gewissen Bekanntheitsgrad genießt. Doch seine Poesie wirkte auf mich so kitschig, dass ich begann, nachzuforschen und mich zu fragen, was wohl sein Erfolgsrezept sein könnte. Alles Weitere im folgenden Text.
Das Phänomen Dimitris Bronowski
Recherchiert man ihn, stößt man auf rund 40 gelistete Werke, über 20 davon tangospezifisch – teils Originale, teils Übersetzungen in mehrere Sprachen. Seine Bandbreite reicht von poetischen Textsammlungen (Hug and Let Go, Tango Stories) über philosophische Essays (Tangofulness) bis zu praxisorientierten Kompilationen wie Tango Tips by the Maestros, in dem mehr als 40 internationale Lehrende zu Wort kommen. Einige Werke sind Ratgeber, andere reines Lesebuch mit poetischen Gedanken zum Tango.
Bronowski ist nicht nur Autor, sondern betreibt eine ausgefeilte Selbstvermarktung: Er verschickt regelmäßig Newsletter, produziert Podcasts, bietet Online-Kurse und Retreats an, tritt als Lehrer und Redner auf, pflegt eine aktive Social-Media-Präsenz und hat sogar eine Tango-App mit Tausenden Nutzer*innen entwickelt. Seit er 2019 seinen früheren Beruf aufgab, lebt er vollständig von diesen Aktivitäten. Er präsentiert sich konsequent im ruhigen, achtsamen Tonfall, der zu seiner Kernbotschaft passt: Tango als Raum für Stille, Verbindung und inneres Erleben.
Diese Stimmigkeit ist Teil seiner Marke – und sie ist kein Zufall. Bronowski hat ein Geschäftsmodell entwickelt, das sich nahtlos um eine poetisierte Vorstellung des Tango dreht. Seine Texte sind gefühlvoll, aber oft vage genug, dass sie vielen Lesern etwas bedeuten können, ohne dass sie widersprüchlich wirken. Genau hier setzt seine Positionierung an: als emotionaler Dienstleister in einer Szene, die sich nach Bestätigung, Sinn und Nähe sehnt.
Die Marke „Tiefe“
Wer sich durch seine Bücher und Auftritte liest oder hört, erkennt: Hier wird ein Lebensgefühl verkauft – Tango als Projektionsfläche für Nähe, Sinn, Bestätigung.
„Der kraftvollste Moment im Tango ist der, in dem nichts passiert.“
„Eine Umarmung ist nicht, was deine Arme tun – es ist, was deine Seele zulässt.“
„Tango beginnt dort, wo die Schritte aufhören und das Zuhören beginnt.“
Alle Sätze klingen, als trügen sie einen höheren Sinn in sich – als Einladung, eine angebliche Tiefe im Tango zu erkunden, die man nur erschließt, wenn man Dimitris Bücher liest. Vielleicht existiert diese Tiefe tatsächlich, doch die Gefühlswelt lässt sich so schwer in Worte fassen, dass jeder Versuch, sie zu beschreiben, irgendwann unweigerlich von der eigenen Wahrnehmung abgekoppelt wird. Vergleiche mit den Empfindungen anderer Menschen werden brüchig, ja fast unmöglich. Und genau in dieser Grauzone der Gefühlswelten entsteht Raum für jemanden, der behauptet, sie zu verstehen – und sie in Worte zu kleiden, die jeder für sich selbst deuten kann.
Es wird viel über Gefühle beim Tango gesprochen: mit Gefühl tanzen, die Tango-Lyrik fühlen, das Gefühl für die Gemeinschaft. Nur selten wird definiert, welche Gefühle eigentlich gemeint sind – Trauer, Wut, Einsamkeit, Freude? Das verbreitetste Wort in der Tango-Lyrik ist corazón – Herzchenbluten hier, Verlassenwerden dort. Natürlich spiegelt Tango gelebte Schicksale wider. Aber viele Europäer fragen sich: „Welche Gefühle muss ich haben, um richtigen Tango zu tanzen?“ Kommt da nicht etwas Neid auf, wenn Argentinier ihren Schatz mit etwas hüten, was wir Europäer angeblich nie haben werden: Die Tango-Authentizität?
Da kommt so ein Tango-Cyrano doch wie gerufen, der das Profanste – den körperlichen Kontakt in der Stille, den Genuss – als den eigentlichen Kern benennt. Und schon bekommt das Normalste einen besonderen Tango-Flair.
Und natürlich kann Tango sehr genussvoll werden, wenn man ihn ausgiebig übt, tanzt und weiterentwickelt. Wer kennt sie nicht, diese Tango-Momente, wenn man auf einer Milonga selten genug den absoluten Hype oder den/die Partner/in schlechthin im Arm hat und sich gar nicht mehr trennen möchte. Aber solche Erlebnisse schreibt das Leben von selbst – ganz ohne Hybris und Courths-Mahler-Poesie.
Wissenschaftlicher Blick: Was sind eigentlich „Gefühle“?
Der Begriff „Gefühl“ wird im Alltag oft unscharf gebraucht. In der Psychologie unterscheidet man klarer: Emotionen sind komplexe Reaktionsmuster mit physiologischen, kognitiven und verhaltensbezogenen Komponenten – etwa Freude, Trauer, Ärger. Gefühle im engeren Sinn sind die subjektiv erlebte Komponente dieser Emotionen – das, was wir „innerlich spüren“. Rein körperliche Empfindungen wie Wärme, Herzklopfen oder Muskelspannung gehören zu den sensorischen Aspekten, können aber ohne die Interpretation im Gehirn keine Emotion bilden.
Wenn also im Tango von „Gefühl“ die Rede ist, kann das vieles bedeuten: die Körperwahrnehmung in der Umarmung, die emotionale Resonanz auf Musik, die Erinnerung an persönliche Erlebnisse oder eine Mischung aus all dem. Oft wird der Begriff romantisch aufgeladen, ohne zu klären, ob wir über messbare emotionale Zustände sprechen – oder über ästhetisierte Projektionen.
Das macht den Begriff verführerisch, aber auch problematisch: Wer ihn nutzt, kann eine tiefe Bedeutung suggerieren, ohne konkret werden zu müssen. Und genau das ist im Marketing – nicht nur im Tango – ein mächtiges Werkzeug.
Persönliche Erfahrungen mit Krisen im Tango
Wer längere Zeit Tango tanzt, seine persönlichen und Tango-Krisen hatte, wer jahrelang um bestimmte Unzulänglichkeiten ringt – seien es persönliche oder tänzerische –, der weiß, dass Lebens- und Tango-Erfahrungen oft sehr zusammenhängen: Ist man schlecht drauf, klappt es auch mit dem Tango nicht so gut. Wartet man enttäuscht auf einen Tanzpartnerin, dann kommt oft auch niemand; es steht im Gesicht geschrieben: Kommt nicht sofort jemand, gehe ich nach Hause. Manche sind da gelassener, richten sich auf eine Milonga ohne Partner ein – und dann klappt’s auch. Das ist die „Das-Schlimmste-kommt-sowieso“-Taktik.
Wenn man Tangotexte hört, die für uns kitschig klingen, dann haben sie für die Leute, die sie kennen, doch eine Bedeutung – eine Assoziation an vertraute Umgebungen, Erinnerungen. Das ist die innere Verbindung zum Tango: Das Leben selbst. Der Tango zeigt Dich, er lügt nicht.
Nähe als Währung – und Illusion?
Anfang der 90er haben wir einmal in einer Ausbildungsrunde für Tangolehrer über Milongueros in Buenos Aires gesprochen. Der Kursleiter meinte damals, dass diese Männer – bei aller Bewunderung – oft sehr einsame Menschen seien, deren soziale Kontakte fast ausschließlich innerhalb der Tangoszene stattfänden, und dass diese Kontakte häufig recht oberflächlich seien.
Solche Menschen kann ich in der hiesigen Tango-Szene auch beobachten, die fast jeden Abend genau auf der Milonga zu finden sind, auf denen man selbst gerade auftaucht – aber es sind immer die gleichen. Menschen, die man auf jedem Milonga- und Encuentro-Foto in Facebook findet. Und man fragt sich innerlich: Haben die eigentlich kein anderes Zuhause? Treffen die sich nie mit privaten Freunden?
Manche, die in der Tango-Szene regelrecht aufgehen, beginnen sogar nach einer Zeit ihre menschliche Wertigkeit mit ihrer tänzerischen Beliebtheit zu verwechseln und leiden extrem darunter, wenn sie in der Milonga nicht am laufenden Band wechselnde Partner:innen für den nächsten Tanz finden. Erfolg in der Milonga wird also mit persönlicher Bedeutung oder gar Liebenswertigkeit verwechselt.
Damals habe ich das alles noch nicht gekannt. Hatte ich doch all meine Freunde in Berlin erst durch den Tango gefunden. Doch eigentlich waren es nur Bekannte. Erst Jahre später wurde mir klar, wie recht der Kursleiter hatte.
Ein Beispiel:
Ein befreundetes Paar aus Köln, mit dem ich über Jahre hinweg auf einer bestimmten Milonga und sogar auf Tangoreisen eng verbunden war, verschwand irgendwann aus der Szene. Wir verloren den Kontakt – und lange Zeit fragte ich nicht nach. Bis ich vor einiger Zeit anrief. Die Freude auf der anderen Seite war groß – und sie erzählten mir, dass ich der einzige Mensch war, der sich seit ihrem Rückzug aus der Tangowelt bei ihnen gemeldet hatte.
Wir trafen uns später privat zum Abendessen in Essen und sprachen über genau dieses Phänomen: die Oberflächlichkeit einer Szene, die sich doch gerade über Nähe definiert. Auch andere ehemalige Tango-Bekannte berichteten mir, dass sie sich sehr einsam fühlten – trotz mehrerer Abende pro Woche, an denen sie fünf bis zehn verschiedene Menschen in enger Umarmung spürten. Ihre früheren Freundeskreise waren über die Jahre im Schatten des Tango verblasst oder verschwunden.
Andere berichteten, dass sie bei längerer Krankheit oder Abwesenheit nie angerufen oder besucht wurden – trotz jahrelanger Zugehörigkeit zu einer kleinen lokalen Szene. Sie hinterließen kein Loch; der symbolische Raum, den sie freigaben, wurde sofort von anderen gefüllt. Als sie nach längerer Zeit wieder auftauchten, hatten nur wenige ihr Fehlen überhaupt bemerkt.
Das mag je nach persönlichen Bindungen unterschiedlich sein. Aber es ist schon erschreckend und zeigt, wie schnell diese vermeintlich enge Gemeinschaft Distanz zulässt, sobald der gemeinsame Tanzmoment fehlt.
Und von der Welt der Tango-Profis, die untereinander oft eher wie ein verdecktes Schlangennest wirken, ist bei der innigen Umarmung auf der Fläche ebenfalls schnell Schluss. Hinter der Bühne regieren Konkurrenz, stille Feindschaften und strategische Allianzen – Dinge, die in der poetischen Erzählung keinen Platz finden. Von der Konkurrenz unter Tangoschulen und Veranstaltern ganz zu schweigen.
Fazit: Zwischen Bedürfnis und Bühne
Was Bronowski macht, ist clever. Er erkennt ein emotionales Vakuum in der Szene und füllt es mit einer Mischung aus Lyrik, Marketing und mildem Tiefgang. Er liefert das, was viele suchen: Worte für ein Gefühl, das schwer zu greifen ist.
Doch diese Worte sind nicht automatisch tiefgründiger als ein guter Werbeslogan. Die beschriebene Nähe bleibt oft Projektion; die gepriesene Stille wird von einer geschäftigen Maschinerie produziert. Er bietet das Bild einer idealisierten Tangowelt – und viele wollen genau dieses Bild kaufen.
Dimitris Bronowski wirkt in seiner Begeisterung sehr authentisch, vielleicht glaubt er auch wirklich selbst, was er sagt. Aber es ist ja oft so: Dass der Werbefachmann der erste ist, der auf seine eigene Werbung hereinfällt, weil er sie ja konzipiert hat.
Es lohnt sich deshalb, die eigene Wahrnehmung zu schärfen: Wo endet echte Nähe, wo beginnt Marketing? Welche Erlebnisse schreibt das Leben selbst – und welche werden uns als besondere Erfahrung verkauft? Wer diese Fragen stellt, entzieht sich der reinen Konsumentenrolle und gewinnt den Raum zurück, in dem Tango tatsächlich authentisch sein kann.
Aber guter Letzt möchte ich mich bei allen entschuldigen, denen ich mit meiner etwas trockenen, analytischen Art eine Illusion oder eine besondere Zuneigung zu Dimitris zerstört haben könnte. Denn es war nicht meine Absicht, Eure Gefühle zu verletzen. Welche auch immer.
4 thoughts on “Nähe als Marke – Über Poesie, Produkte und Projektionen in der Tangowelt”
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Das Tangofulness-Buch liegt auf dem Nachttisch meiner Liebsten, die im übrigen, Formulierung mit ihr nicht abgestimmt, so etwas wie einen höheren Gürtel in Buddhismus hat. Wir drei sind uns glaube ich in der Sichtweise einig. Cleveres Geschäftsmodell, viele Worte mit wenig Inhalt. Aber es scheint zu funktionieren.
Ansonsten: Auch im Tango gilt ein Grundprinzip, das in der ITU-T Recommendation E.800 technisch trocken abgebildet ist: Das Qualitätserlebnis ist (auch) eine Funktion der Erwartungen. Körperliche Nähe und sinnlicher Genuß ist eine Sache, tiefer persönlicher Kontakt und der Genuß von Seelenverwandtschaft eine andere. Beide sind real, aber enthalten kein Versprechen von Übertragbarkeit und sind somit auch nicht verantwortlich für Enttäuschungen – die sind selbstgemacht. Das „normale Leben“ zugunsten des Tango aufzugeben ist auf jeden Fall eine schlechte Entscheidung, umgekehrt wäre es allerdings genauso. Wenn es gut läuft, gibt es gegenseitige Bereicherung.
Ich stimme dir zu, dass körperliche Nähe und echte Seelenverwandtschaft zwei völlig unterschiedliche Dinge sind. Aber genau hier setzen Dimitris Texte an – sie lassen es oft so klingen, als würde das eine automatisch zum anderen führen. Das ist wie eine kleine gedankliche Falle: Wer oft und intensiv umarmt, soll glauben, dabei auch gleich einen tiefen inneren Gleichklang zu erleben. In Wirklichkeit ist Seelenverwandtschaft nichts, was „passiert“, nur weil man sich nah ist. Sie braucht Zeit, gegenseitige Offenheit und die Bereitschaft, über das eigene Ego hinauszugehen. Das kann im Tango passieren – aber garantiert ist es nicht. Und hier sehe ich die Diskrepanz zwischen der poetischen Botschaft und der tatsächlichen Erfahrung.
Lieber Klaus, danke für diesen Artikel.
Es ist halt doch ein Unterschied, ob man mal zu toller Musik sich in einer Umarmung sehr wohl fühlt, oder ob man einen Menschen wirklich kennenlernen will und mit ihm ein Stück des Lebens teilt, auch wenn es nicht kuschelig und eitel Harmonie ist.
Ich werde weitgehend von der Lyrik von Dimitris B. verschont, seit er mich vor längerer Zeit auf Facebook blockiert hat, nachdem ich reklamiert hatte, dass er bitte nicht seine immergleichen Texte in allen möglichen Gruppen unter Ignorierung der Gruppenregeln posten solle. Aber anscheinend ist er immer noch allüberall.
Theresa
Liebe Theresa,
Da sagst Du was Wahres. Und Gottseidank bin ich nicht mehr bei Facebook, er hätte mich enorm getriggert.
Lg. Klaus