
Gedanken über Tango | Nachtrag auf den 18. Teil
Missverständnisse in Texten entstehen oft durch unklare Aussagen oder manchmal durch voreingenommene Deutungen des Textes. Bei einem Kommentar auf meinen letzte Beitrag Nr. 18 ist das wohl passiert.
Eigentlich ist über den Cabeceo schon genug geschrieben und gestritten worden, aber mir geht es nicht um ihn selbst, sondern um seine gelegentliche Komplexität, die mir unnötig erscheint, weil man sich in der Kommunikation der Aufforderung beim Tango so darauf versteift und sie nur als einzig mögliche darauf reduziert. Eigentlich geht es ja nur um die „mirada“, die dem „cabceo“ vorausgeht, denn wenn’s zum „cabeceo“ – dem einverständichen Nicken beiderseits – kommt, sind aber auch nicht immer Missverständnisse ausgeschlossen, aber andere.
Fazit ausnahmsweise am Anfang:
Um einigen das Thema Cabeceo zu ersparen, habe ich das Fazit meiner Aussage hierhin gesetzt:
Das Missverständnis in Artikel 18 und meine Korrektur:
Eigentlich geht es mir nicht um die Komplexität der mirada selbst, eine Kommunikation die ich für relativ natürlich halte, sondern um die komplexe Vermeidung von Missverständnissen, die oft durch sie entstehen. Diese Lösungen sind schwer zu vermitteln, die „mirada“ und der „cabceo“ selbst nicht.
Hier meine Erläuterungen dazu:
Eine Anekdote
Aber vorher möchte ich eine kleine Anekdote über die „mirada“ loswerden:
Es handelt sich um einen beliebten Milonguero aus Buenos Aires, der es auch in Deutschland zu einer gewissen Berühmtheit brachte: Tetè Rusconi. Immerhin brachte er zusammen mit Pina Bausch die Wuppertaler Tango- Szene ins Rollen, wobei ich keinen zu unterschätzenden Anteil hatte. Aber das lasse ich jetzt.
Wenn Teté im Cochabamba 444 erschien, einem beliebten Treffpunkt für die Tangoszene in B.A., und in die erlauchte Runde der als potentielle Partnerin in Frage kommenden Damen blickte, passierte es gelegentlich, dass sich zwei Damen angesprochen – in diesem Fall “angeblickt“ – fühlten. Wonach beide aber dann nicht direkt reagierten, sondern gestisch nachfragten, aber nach bestätigendem „cabeceo“ von Teté trotzdem beide auf der Piste auf ihn zu rannten, um mit ihm in die Umarmung zu gehen. Wobei eine immer das Nachsehen hatte, weil er wohl die andere gemeint war. Was war da passiert und warum so oft bei ihm?
Die Lösung: Teté schielte sehr stark
Missverständnisse vorprogrammiert
Diese Anekdote sollte nur eine Einleitung zum Thema „Missverständnisse“ bei „miradas“ und „cabeceos“ sein.
Da ich schon sehr früh mit dem Ritual des „cabeceo“ vertraut war, habe ich ihn gelegentlich benötigt, aber in Deutschland war er zu Beginn so gut wie unbekannt. Erst Mitte der 90er Jahre setzte er sich so langsam durch, aber nicht überall.
Wir haben dann im Unterricht darauf hingewiesen und versucht, ihn in der Milonga einzuführen, was aber nicht direkt gelang. Was dazu führte, das die Gäste lieber verbal aufforderten. Im Ruhrgebiet ist man nämlich sehr direkt und man zieht nicht beleidigt ab, wenn man sich einen Korb abholte.
Aber es kamen Rückfragen, die die Mirada betrafen und besonders über die einhergehenden Missverständnisse. Die Diskussionen verschlangen sehr viel Zeit und man bekam nach und nach den Eindruck, dass da noch viele Fragen offen waren bezüglich der beschworen „Einfachheit“.
Es war nämlich keineswegs einfach: Alle Unwägbarkeiten, räumliche, Blickfeld, Nicht-Reaktionen, Distanz, Lichtverhältnisse und die Missverständnisse mit „zwei-sich-gleichzeitig-angesprochen-gefühlten“ usw. wurden angesprochen und diskutiert.
Nach einer Zeit schien es mir unmöglich, klare Antworten zu liefern und beließ es dabei: Sollen sie doch selbst damit klar kommen. ABER: man betrachtete meine Vorliebe für den angepriesenen „Cabeceo-Ablauf“ äußerst skeptisch, wenn ich anfing davon zu reden. Seitdem nehme ich die Diskussionen über die Cabeceo-Kultur teilweise nur noch belustigt wahr.
Der Grund: Wenn man Kommunikationsverhalten in der Forschung beobachtet, ist die „mirada“ – der Blick in die Augen über eine gewisse kurze Zeit hinaus, also ca. 3 bis mehrere Sekunden – durchaus ein übliches Verhalten, wenn man Interesse wecken oder dieses beim anderen herausfinden möchte. So etwas passiert normalerweise überall, wo Menschen aufeinander treffen. Es braucht nicht studiert werden oder geübt, denn es es ist ein „normales Kommunikationsverhalten“. In machen Kulturen ist es verpönt, in anderen üblich.
Ergänzung: Studien zur „mirada“ im allgemeinen kommunikativen Kontext
Der beschriebene Blickkontakt – die mirada – wird oft im Tango als kulturspezifisches Ritual verstanden. Doch tatsächlich handelt es sich um ein universelles nonverbales Kommunikationsmittel, das in vielen Situationen sozialer Interaktion vorkommt.
Wissenschaftliche Studien zeigen:
Mutual gaze (gegenseitiger Blickkontakt über mehrere Sekunden) signalisiert Interesse, Aufmerksamkeit, soziale Nähe – unabhängig von Sprache.
Bereits ein 2–4 Sekunden langer Augenkontakt aktiviert Hirnareale, die mit emotionaler Bewertung und sozialem Verstehen zu tun haben (Amygdala, medialer präfrontaler Cortex).
In experimentellen Settings führt längerer Blickkontakt zu stärkerer Wahrnehmung von Verbindung, Vertrauen oder sogar Intimität – auch unter Fremden.
Solche Erkenntnisse belegen:
Die „mirada“ muss nicht gelehrt werden – sie ist kulturell verschieden akzeptiert, aber biologisch tief verankert.
In diesem Sinne erscheint die ritualisierte Aufladung der mirada beim Tango manchmal überzeichnet – besonders dann, wenn sie als besonders zu erlernende Technik dargestellt wird, anstatt als das zu gelten, was sie ist:
Ein Ausdruck normaler menschlicher Kommunikationsfähigkeit.
Auch umgekehrte Missverständnisse
Ich habe einmal miterlebt, wie ein Mann eine Dame am Tisch zum Tanz aufforderte. Diese reagierte überraschend scharf: „Nein! Ich lasse mich nur per Cabeceo auffordern!“ Der Mann war sichtlich irritiert, verließ den Platz und holte sich erst einmal ein Bier. Für ihn war der Abend damit gelaufen. Und das scheint kein Einzelfall zu sein.
In diesem Moment hätte ich am liebsten eingegriffen: Wie konnte diese Dame es sich herausnehmen, einen freundlich auftretenden Mann derart anzufahren – nur weil er die internen Códigos einer Tanzszene nicht kannte?
Hier wird deutlich, dass manche offenbar eine verbale Aufforderung bereits mit Belästigung gleichsetzen. Einem normalen Mann, selbst mit europäischen Umgangsformen, wäre es nie in den Sinn gekommen, damit ein Tabu zu verletzen.
Dabei möchte ich betonen: Der Cabeceo kann – in einer Gruppe, in der er bekannt ist – eine wunderbare, elegante Art der Aufforderung sein.