
Tango-Hirnakrobatik
Eine Replik auf Kritik
In meinem letzten Artikel bekam ich Kritik: In meinen Beschreibungen über (meinen?) Unterricht sei sehr oft vom Sprechen, von Theorie die Rede. Tango wäre doch Gefühl, Spaß und Bewegung.
Die andere Kritik: Zu viele Worte? Nun gut – das andere Extrem wäre: Blog begraben, nur noch Tanzvideos hochladen. Ohne Worte, alles, was ich hier sonst in Texten formuliere, einfach optisch demonstrieren. Dafür bräuchte ich ein Filmteam, das meinen Unterricht, mein Wissen, meine Tanzgefühle, meinen Spaß (durch ein Dauerlächeln) filmt, schneidet und vertont. Musik plus ein Tontechniker würden reichen.
Ein Blogger meinte, mein Tango sei „Hirnakrobatik“. Der Tango werde (übrigens auch in seinen 2000 Beiträgen) zu theoretisch, zu verbal behandelt, und im Unterricht allgemein zu viel geredet. Er selbst tausche sich beim Üben nur dann verbal aus, wenn es unbedingt nötig sei.
Dazu kam noch ein Kommentar eines frisch gebackenen Tango-Lehrers:
„Dein Beitrag klingt für mich nach sehr viel Sprechen. Aber beim Tango geht es doch viel mehr ums Fühlen.“
Dabei hatte ich über Kritik im Unterricht geschrieben – und die wird eben meistens verbal geäußert, nicht tänzerisch.
Ja, das ist ein oft kritisiertes Phänomen. Auch Carlos Gavito, ein bekannter Tänzer, sagte einmal sinngemäß: „Es wird sehr viel über Tango geschrieben und geredet – zu viel! Ich bin Milonguero, und für mich spielt sich der Tango nur auf dem Parkett ab.“
Meine Frage: Warum sagt er es dann?
Und noch eine: Wie kommt man überhaupt anhand meines Blogs auf die Idee, in meinem Unterricht würde zu viel geredet?
Was also soll dieser Artikel? Eine Rechtfertigung?
Nein. Es ist ein Beitrag darüber, dass im Tango zwar viel gesprochen wird, er aber letztlich ein Tanz ist – und keine Philosophie. Doch Worte haben im Unterricht eine zentrale Bedeutung. Ich möchte zeigen, wie wichtig präzise Worte im Unterricht sind. Und warum Tango-Lehrer eben nicht alles können müssen – schon gar nicht Showtänzer sein.
Viel Theorie – aber auch Erkenntnisse?
Einen Tango-Blog fand ich anfangs widersprüchlich. Erkenntnisse, die so körperlich, so individuell empfunden werden, lassen sich schwer teilen. Bewegungsbeschreibungen sind so abhängig von Körpergröße, Abdruck, Gefühl, Intention, Technik, dass sie nie ganz erfassen können, was Tango im Moment des Tanzens ausmacht.
Und doch habe ich im Unterricht festgestellt: Worte über grundlegende Ideen oder Motive bewirken oft mehr als tausendfaches Wiederholen.
Präzise Worte zum Verständnis sind manchmal Voraussetzung für jede Technik!
Die Idee einer Bewegung – das Motiv bestimmt die Qualität
Im Unterricht wird oft erklärt, wie wir etwas tun sollen. Die Lehrkräfte machen etwas vor, zur Musik, und wir versuchen es nachzutanzen. Wir spiegeln ihre Sichtweise, versetzen uns in ihre Lage im Raum, schätzen Richtungen und Relationen zum Partner ein.
Aber wissen wir auch, was im Kopf des Lehrers vorgeht? Seine Fokussierung, seine Idee einer Bewegung, seine musikalische Empfindung? Konzentriert er sich auf die andere Person – oder auf sich selbst?
Genau das sind die entscheidenden Faktoren, die einen Tango gelingen lassen.
Ein Beispiel, das in meinem Unterricht oft mehr bewirkt als endloses Üben:
„Warum gehen wir beim Tango?“
(Diese Frage beantworte ich jetzt nicht – denkt mal selbst darüber nach.)
Die Antwort verändert das Gehen – und damit das Tanzen. Selbst bei Anfängern.
Der Chemie-Baukasten – Analyse erklärt das Molekül
Seit ich unterrichte, habe ich mich oft gefragt, warum Schüler mit bestimmten Bewegungsabläufen so lange ringen. Lange Zeit übernahm ich alte Unterrichtsvorlagen und Worte anderer Lehrer, ohne sie zu hinterfragen.
Andersherum habe ich viele Gedanken und Aussagen großartiger Lehrer zunächst gar nicht verstanden. Ich legte sie in meine Long-Time-Memory-Kiste. Jahre später bekamen diese Worte in einem bestimmten Kontext plötzlich Sinn: Sie wurden zu Schlüsseln, die mir Türen öffneten, die mir zuvor verschlossen waren.
Indem ich den Tango – nicht bewusst, eher intuitiv – in seine Grundsubstanzen, in seine ursprüngliche Idee aus der Zeit seiner Entstehung analysiert habe, entstand ein Instrumentarium aus Worten. Ein Vokabular, das Lernprozesse verkürzt, weil es den Kern trifft.
Eine der wichtigsten Erfahrungen als Lehrer: Die Struktur des Tangos zu entschlüsseln. Das erlaubt mir, jede Bewegung, jede Schrittkombination sofort zu erkennen. Korrekturen gelingen so oft mit wenigen Worten.
Dasselbe gilt für die musikalische Struktur: die Unterschiede der Orchester, ihre Eigenheiten – immer im Kontext der tänzerischen Umsetzbarkeit. Wenn Musik diesen Kontext sprengt, kann man das tolerieren – aber man darf es auch benennen.
Hirnakrobatik? Nein – Handwerkszeug!
All das klingt nach „Hirnakrobatik“. Ist es aber nicht.
Es ist die Essenz jahrzehntelanger Unterrichtserfahrung: unzählige Situationen, Probleme, Analysen, Lösungen, Verbesserungen. Und genau deshalb kann ich Schülern heute oft mit wenigen, gezielten Worten helfen.
Mein Resümee: „Hirnakrobatik“ vielleicht – aber nur, um mit möglichst wenig Worten möglichst effektiv zu unterrichten.
Darum ist mein Blog-Thema „Gedanken über Tango-Unterricht“ für mich eine Bestandsaufnahme: ein Versuch, all die Faktoren und Stolpersteine sichtbar zu machen, die man als Schüler und Lehrer im Tango bedenken sollte.
3 thoughts on “Tango-Hirnakrobatik”
Schreibe einen Kommentar zu Gedanken über Tango Unterricht | 23. Teil | TANGOcompas Antwort abbrechen
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[…] kürzlich hatte ich eine Replik von jemandem, der sich über einen Satz in meinem letzten Artikel lustig machen wollte. Ich hatte nach dem „Kern des Pudels“ gefragt – nach dem Sinn einer […]
Soweit ich das aus seinen 2000-Beiträgen erkennen kann, hat besagter Blogger schon lange keinen Tangokurs mehr von innen gesehen. Aber vielleicht geht er ja heimlich und verkleidet zu Kursen und erzählt es nur nicht, um sein Geschäftsmodell nicht zu beschädigen.
Ich habe im Lauf meines bisherigen etwa 17 Jahre langen Tangolebens jedenfalls viele Lehrer ausprobiert, plus einige mehr im Rahmen von Workshops und Reisen. Jeder Lehrer hat seinen eigenen Stil und seine eigenen Methoden; nicht alle funktionieren bei allen Leuten gleich gut, aber das liegt meist einfach an Interpersonendynamik und persönlichen Präferenzen.
Ein präsentes Beispiel ist, für die gemeinsame Bewegung in enger Umarmung, das Bild eines mit flüssiger Schokolade gefüllten Schokomuffins (wir Physiker nennen das auch elastisch gekoppelte Massen). Für mich war das etwas, das ich direkt in Aktion und Erleben umsetzen konnte; andere können damit überhaupt nichts anfangen und bekommen womöglich noch Panikattacken, weil sie an Kalorien-Überdosen denken müssen.
Wenn ich für besagten Blogger mal einen Vergleich aus der Autowelt heranziehen darf: Seine pauschalen Sprüche vom Typ „Tangolehrer sind doof“ sind etwa so, als hätte jemand das letzte Mal vor 40 Jahren in einem VW Käfer gesessen (wobei es auch damals schon andere Autos gab) und würde dann heute behaupten, alle Autos seien laut, eng und langsam.
Ja, genau – seine Reihe „Was Dir Dein Tanzlehrer nicht erzählt…“ ist der Gipfel der Absurdität.
„25 Jahre Hobbychirurgie mit dem Taschenmesser – fragen Sie mich ruhig nach OP-Tipps!“
Sobald man widerspricht, spielt er den ahnungslosen Laien: „Ich hab ja nie gesagt, dass ich Fachmann bin…“ – und fünf Minuten später erklärt er allen, er wisse ganz genau, was die gesamte Lehrerschaft angeblich verschweigt.
Das ist wie ein Blinder, der behauptet, die Tricks der Optiker zu kennen. Nur mit dem Ziel: „Alle Lehrer sind Abzocker – aber keine Sorge, mein Milongaführer und meine 2000 Artikel ersetzen jeden Unterricht.“
Ein Zirkelschluss in Endlosschleife – und erstaunlich dreist verkauft.